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China

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Es war immer schon mein Plan gewesen, einmal die Lebensgeschichte meiner Großmutter Marion aufzuschreiben … Bei Träubleskuchen (Johannisbeerkuchen mit Eischnee) hatte ich stets gebannt ihren Erzählungen gelauscht und mir die alten Schwarzweißfotos von China zeigen lassen.

Ihre Mutter Ida Scheinhütte und ihr Vater Julius Scheinhütte waren zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nach China ausgewandert. Es war zur Zeit von Aisin Gioro Puyi, des letzten Kaisers von China, der von 1908 bis 1912 herrschte. Im neunzehnten Jahrhundert hatten die Ausbeutung und die gewaltsame Öffnung Chinas durch die Kolonialmächte einen traurigen Höhepunkt erreicht, vor allem vonseiten der Briten, die China mit Opium überschwemmten, was zu den sogenannten Opiumkriegen (1839–1842 und 1856–1860) führte. Auch viele Deutsche witterten damals eine Chance für sich und gründeten Firmen und Konsulate in China. Der Boxeraufstand 1900 war ein letzter verzweifelter Versuch Chinas, sich gegen die Einmischung der imperialistischen Mächte wie England, Frankreich, Russland, der USA und Japan zu wehren. Vergebens. Da die Deutschen keine territorialen Interessen hatten, betrachteten die Chinesen sie eher als Partner bei ihrer Modernisierung und ihrem Wiederaufbau. Auch Kaiser Puyi, der von einem britischen Privatlehrer unterrichtet worden war, war begeistert und fasziniert von der westlichen Denkweise. Reformintellektuelle forderten die Übernahme westlicher Technologien, nach dem Motto »Die chinesischen Wissenschaftler als Essenz, die westlichen Wissenschaftler für die praktische Anwendung«, und empfingen meinen Urgroßvater Scheinhütte, der Physiker war, mit offenen Armen.

Die Scheinhüttes durchliefen zahlreiche Stationen in China und der Mongolei: Peking, Nanking oder Mukden, wo meine Großmutter Marion und ihr Bruder Gert geboren wurden, und später Schanghai. Beide Kinder wurden in das Eliteinternat Salem am Bodensee geschickt. Meine Großmutter hielt es dort jedoch nicht aus und kehrte nach Schanghai zurück. Ihr Bruder Gert, den sie unendlich liebte, meldete sich freiwillig für das Vaterland und fiel mit nur einundzwanzig Jahren im Ersten Weltkrieg. Mein Vater erinnerte sie stark an ihren Bruder, daher wurde er auch nach ihm benannt. (Der ursprüngliche Taufname meines Vaters lautet Peter Gert, aber nachdem er als junger Schauspieler dauernd auf den Film aus dem Jahr 1958 mit dem Titel Peter Voss, der Millionendieb angesprochen wurde, hat er sich schließlich Gert Voss genannt.)

Marion erzählte, wie sie einmal in einer Rikscha entführt wurde, angstvolle Stunden in der Hand ihres Entführers, der von ihrem weißblonden Haar fasziniert war, verbrachte und endlich von der Polizei gefunden und zu ihren besorgten Eltern zurückgebracht wurde. Sie schilderte das luxuriöse Leben ihrer Familie in den eleganten Ghettos der Konsuln, Gesandten, Wissenschaftler und Geschäftsleute. Man lebte in großen Villen mit wunderschönen Gärten, hatte Personal, gab Empfänge, feierte rauschende Feste, und jedes Kind hatte eine chinesische Amah (Kinderfrau). Bei einem dieser Feste begegnete Marion meinem Großvater Wilhelm Voss, der mit achtzehn Jahren nach China ausgewandert war, Geschäftsmann war und für die Firma ZEISS arbeitete, die Linsen, unter anderem für medizinische Optikgeräte, herstellte.

Meine Großmutter war in diesen jungen Jahren eine sehr hübsche Frau, mit veilchenblauen Augen und blonden Locken, sehr lebenslustig und eine wirkliche Genießerin.


Marion Voss, Schanghai

Nachdem sie aus Salem vor sexuellen Übergriffen von älteren Kommilitoninnen geflohen war, machte sie in China eine Ausbildung zur Sekretärin und beherrschte daher Stenografie, eine Geheimschrift für mich, was mich sehr beeindruckte. Als Marion von dem großen, stattlichen jungen Mann mit dunklem, pomadisiertem, welligem Haar und Abendanzug zum Tanzen aufgefordert wurde, versank sie in seinen grünblauen Augen. Sie schwärmte immer noch von seiner Eleganz – er hatte stets zweimal am Tag das Hemd gewechselt – und seiner weltmännischen Ausstrahlung. Gleichzeitig beschrieb sie ihn aber auch als sehr großzügigen und gutmütigen Familienmann, der voller Begeisterung immer wieder zu ihr sagte: »Lass uns doch noch ein Kindchen machen!« Er muss ein unglaublicher Workaholic und permanent auf Geschäftsreisen gewesen sein, später wohl auch aus Angst, von jüngeren Kollegen überflügelt zu werden.


Wilhelm Voss

1941 wurde mein Vater in Schanghai geboren und zwei Jahre später sein Bruder Christian. Mein Vater war ein kränkliches, zerbrechliches, hypersensibles Kind, das sowohl von seiner Mutter als auch seiner persönlichen Amah rund um die Uhr verwöhnt wurde. Eine Tatsache, unter der sein jüngerer Bruder immer sehr gelitten hat. Zwischen den beiden Brüdern gab es furchtbare Prügeleien, die von meiner Großmutter in ihrer Verzweiflung oft nur noch durch den Strahl eines Gartenschlauchs getrennt werden konnten. Mein Vater mochte seinen Bruder sehr, genoss jedoch sichtlich auch die Position, der größere, ältere, blonde, ideenreiche Bruder zu sein. Meinen Onkel beschrieb mir meine Großmutter als ein etwas pummeliges, ungeschicktes Kind, das seinem Bruder stets nacheiferte.

Marion bezeichnete meinen Vater manchmal als ihren kleinen Kaiser und erzählte mir dann von Puyi, der mit zehn Jahren zum letzten Kaiser von China gekrönt wurde und verwöhnt und völlig isoliert in der riesigen Verbotenen Stadt in Peking wie in einem goldenen Käfig lebte. 1912 musste Puyi abdanken, erhielt jedoch ein unbefristetes Wohnrecht und eine gigantische Apanage zur Erhaltung seines Hofstaates in der Verbotenen Stadt. Mitte der Zwanzigerjahre wurde die Verbotene Stadt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Marion besichtigte sie mit ihren Eltern. Ein Stadtplan dieses Zentrums der Macht im Reich der Mitte, mit all seinen Tempeln und Gängen, hing im großen Schlafzimmer von Haus Roseneck. Ich stand oft davor und versuchte mir vorzustellen, wie der kleine Kaiser dort herumrannte und seine Amahs ärgerte. In den Fluren von Haus Roseneck hingen auch viele chinesische Stiche, die Szenen aus dem Hofleben darstellten, wie etwa eine Zahnbehandlung, die ich immer besonders grausam, schaurig und aufregend fand.

Meine Großmutter beschrieb die ständigen Unruhen und Aufstände in China, den Kampf zwischen den republikanischen Kuomintang unter Chiang Kai-shek und den Kommunisten. Puyi koalierte mit den Japanern, die ihn zum Kaiser des Marionettenstaates Mandschukuo (1932–1945) machten. Chiang Kai-shek war daran interessiert, Japans Dominanz zu begegnen, und wurde in den Dreißigerjahren von den Deutschen unterstützt, militärisch und wirtschaftlich durch die Chinesisch-Deutsche Kooperation. Sein Gegenspieler war Mao Zedong gewesen, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei und später der führende Politiker der Volksrepublik China.


Mein Vater mit seiner Amah und Hausangestellten, Schanghai 1944


Mein Vater (rechts) mit seinen Eltern und seinem Bruder, Schanghai


Mein Vater (links) und sein Bruder Christian, Schanghai 1946

Marion schilderte die steigende Angst in den Ghettos vor Übergriffen, auch sie lebten in einem goldenen Käfig, den sie nicht verlassen durften. Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland verschlechterten sich die Beziehungen zu China Ende der Dreißigerjahre immer mehr. Die in China lebenden deutschen Geschäftsleute, die 1934 durch die Gründung der HAPRO (Handelsgesellschaft für Industrielle Produkte) ihre Interessen gebündelt hatten, mussten nun um ihr Weiterbestehen und ihre Existenz zittern und versuchten verzweifelt, ihre Verbundenheit mit China zu bekräftigen. Die Firma ZEISS, die mein Großvater Wilhelm vertrat, beteiligte sich nach anfänglichen Konflikten mit den nationalsozialistischen Machthabern Ende der Dreißigerjahre als Produzent von rüstungs- und kriegsrelevanten Optiken. Als sich Hitler schließlich mit den Japanern gegen Russland verbündete, wurden die Deutschen zu Staatsfeinden Chinas. Nach dem Angriff auf Pearl Harbor trat Chiang Kai-sheks Chongqing- China formal den Alliierten bei und erklärte Deutschland den Krieg. Die glorreichen Jahre waren vorbei. Ida und Julius Scheinhütte, die Eltern meiner Großmutter, sowie ihr Mann Wilhelm Voss wurden in Internierungslager gebracht. Um ihre Kinder davor zu beschützen, zog Marion den ganzen Tag mit meinem Vater und seinem Bruder durch Schanghai von einem Kino zum nächsten, um sich zu verstecken. Schließlich wurden meine Großeltern und ihre Kinder 1946/47 wie Hunderte weitere Europäer auf amerikanische Kriegsschiffe verfrachtet und zwangsrepatriiert. Dramatische Szenen spielten sich dabei ab, Familien wurden getrennt, auch Marion musste ihren Vater, der in russischer Gefangenschaft war, und ihre Mutter im Internierungslager zurücklassen. Nur mit zwei Schrankkoffern (einer davon steht bei mir im Flur) voll hektisch zusammengeklaubter Habseligkeiten traten sie die lange, beschwerliche Reise über das Meer in eine ungewisse Zukunft nach Bremerhaven an. Mein Vater führte übrigens seine Filmbesessenheit auf die zahllosen Kinobesuche in Schanghai und die Filmvorführungen an Deck des amerikanischen Truppentransporters, wo unter dem Sternenhimmel Hollywoodfilme gezeigt wurden, zurück.

Bernardo Bertolucci hat in The Last Emperor (1987) über die Geschichte des letzten Kaisers von China in eindrucksvollen und unvergesslichen Bildern genau diese Zeit eingefangen. Mein Vater und ich liebten diesen Film.

All diese frühkindlichen Kriegseindrücke verarbeitete mein Vater auf selbst gezeichneten Papierrollen, die, in einer Schachtel eingespannt, zu kleinen Kinofilmen wurden. Sein treuester Zuschauer war mein Onkel Christian.


Wilhelm Voss mit Sohn Christian und meinem Vater (rechts)

Ich glaube, mein Vater hat sein ganzes Leben lang davon geträumt, Filme zu machen und Regie zu führen, auch als Schauspieler war er immer einer von jenen, die das große Ganze im Auge hatten, mitinszenierten und daher von manchen Regisseuren als eher schwierig empfunden wurden. Sein Bedürfnis, alles mit einer Kamera einzufangen und festzuhalten, war gigantisch. Eigentlich hatte er permanent eine Kamera in der Hand und wäre bei einem Tunesienurlaub sogar fast einmal im Treibsand versunken, während er die Kamera mit beiden Händen bis zum letzten Moment nach oben hielt, um sie zu retten … Er filmte und fotografierte meine gesamte Kindheit und gestaltete liebevoll wunderschöne Alben mit lustigen Zeichnungen und Kommentaren von meiner Geburt an. Als ich nach dem Tod meiner Eltern vor der schier unbewältigbaren Aufgabe stand, ihr Haus zu räumen, fragte ich mich, was ich im Falle einer Katastrophe retten würde. Es waren die Fotoalben meiner Kindheit.


Liebevoll gestaltetes Fotoalbum

Unvergesslich sind für mich die Abende in Haus Roseneck, an denen mein Vater Filmvorführungen mit den selbst geschnittenen Dokumenten unserer Sommerurlaube am Bodensee machte. Die Sessel wurden in mehreren Reihen im Wohnzimmer aufgestellt. In der letzten Reihe thronte immer Großmutter Scheinhütte in ihrem Ohrensessel, die zarten Füße auf einem dazu passenden Schemel, der wippen konnte und gleichzeitig eines meiner heimlichen Lieblingsspielzeuge war. Wie in einem echten Kino gab es Knabbersachen und Litschis in chinesischen Schüsselchen. Dann wurde das Licht gelöscht, und ich schloss immer kurz die Augen, um den akustischen Moment zu genießen, in dem der Projektor zu surren anfing. Die Filme wurden an die Wand projiziert, und ich liebte die merkwürdigen Striche und Löcher, die zu Beginn und am Ende jeder Filmrolle erschienen. Auch musste ich immer sehr über die absurde Geschwindigkeit der Bewegungen lachen und ihre Verlangsamung, wenn die Rolle fast am Ende war. Mein Vater kommentierte das Filmgeschehen aus dem Dunkeln und wir – besonders ich – mussten immer unglaublich viel lachen. Hauptmotiv war natürlich der Badeplatz am Bodensee.

Meine Großmutter besaß nämlich ein idyllisches Badegrundstück direkt am See. Meistens fuhren wir nach dem Frühstück mit dem Fahrrad durch die Apfelplantagen auf immer schmaler werdenden Pfaden dorthin.

Je näher man zum See kam, umso verwachsener, düsterer und kühler wurde es. Schwärme von Mücken umflogen uns, ich schlug immer hysterisch um mich und landete regelmäßig mit meinem Fahrrad im Gebüsch. Das letzte Stück war ein Schotterweg, und obwohl ich auch hier des Öfteren die Kontrolle über mein Fahrrad verlor, genoss ich immer den Klang der wegspritzenden Steinchen. Dann stand man vor einem länglichen Metalltor, das ein äußerst streng zu öffnendes Schloss hatte und schaurig quietschte, wenn man es langsam aufschob.


Mit meiner Mutter auf dem Weg zum Badeplatz


Meine Eltern und ich vor dem Tor zum Badeplatz

Der Badeplatz hatte eine längliche Form. Auf einer Wiese stand ein großer Pflaumenbaum, der üppig Früchte trug, dahinter war eine Tischtennisplatte, wo die wildesten Matches zwischen allen Generationen ausgetragen wurden. Mein Vater hatte einen teuflischen Aufschlag und konnte hervorragend schmettern. Meistens war ich ihm chancenlos ausgeliefert, aber wenn ich ihn manchmal durch einen unerreichbaren Zufallstreffer zu einem »Gut, Grischka!« hinreißen konnte, war ich insgeheim wahnsinnig stolz. Danach kam das rotweiß gestreifte Badehäuschen, in dem es immer nach Tiroler Nussöl roch. Dort befanden sich die Badesachen, Schlauchboote, Liegestühle, Angelsachen, Federballschläger – und entsetzlich große Spinnen. Da ich schon früh ein starkes Schamgefühl entwickelt hatte und bereits mit sechs nicht ohne Bikinioberteil sein wollte, konnte ich mich nur im Badehaus umziehen und griff stets zitternd nach den an einem Haken hängenden Badesachen – immer in der Angst, von einer lauernden Spinne angesprungen zu werden. Dabei ließ ich immer die Tür einen Spalt offen, damit es nicht zu finster war, und stellte mich genau in den warmen Lichtstreifen. Die feuchte Dunkelheit des Badehäuschens war um mich herum. Ganz vorne standen ein Holztisch und Stühle.

Am Nachmittag kamen immer die Groß- und Urgroßmütter an den Badeplatz nach und brachten Töpfe und Schüsseln mit dem Mittagessen, manchmal wurde auch gegrillt, als Nachspeise gab es frisch gebackenen Zwetschgenfleck oder Apfelkuchen. Der obere Teil des Grundstücks endete mit einer kleinen Mauer, an deren linker Seite eine steile Steintreppe zu einer tiefer gelegenen Badeterrasse aus Beton und hinunter in den See führte. Am liebsten hatte ich die Ebbe, wenn man unterhalb der Betonfläche im Sand spielen und Burgen bauen, Treibholz, Schwanenfedern und Steine sammeln und den modrigen Fisch- und Schlickgeruch einsaugen konnte. Gemeinsam mit den Kindern vom Nachbarbadegrund machten wir uns auf Erkundungstour, um zu erforschen, welche Badeplätze gerade nicht bewohnt waren, und spionierten sie aus. Man konnte stundenlang von einem Grund zum nächsten klettern, da ein Großteil des Sees bebaut war. Auch gab es eine Art schmalen Betonsims, auf dem man direkt am See bis nach Wasserburg gehen konnte. Eines meiner absoluten Highlights war die tägliche Ausfahrt in einem großen, orangefarbenen Schlauchboot, das nach Gummi und Sonnenöl roch. Ich liebte das knirschende Geräusch der Ruder in den Halterungen und das sanfte Schaukeln über den in der Nachmittagssonne glitzernden See. Weiter draußen gab es eine Sandbank, wo wir immer anlegten. Das Boot wurde an einen Pfosten gebunden, und zu meiner größten Verwunderung und Begeisterung konnte ich mitten im See stehen.

Ich war und bin eine Wasserratte und brauche auch heute noch das Meer wie eine Droge. Damals hatte ich ein regelrechtes Urvertrauen in den See und folgte eines Tages, wie ferngesteuert, meinem Onkel Beppo ins Wasser. Ich glaube, er hat mich nicht einmal bemerkt. Er schwamm einfach los und ich ging quasi unter Wasser weiter, weil ich noch nicht so gut schwimmen konnte. Ich atmete das Wasser ein, schluckte es und sah vor mir das leuchtende Grün des Sees, das an der Oberfläche von der Sonne aufgehellt wurde, und die winzigen, tanzenden Algenpartikel. Es gab keinen Moment der Angst vor dem Ertrinken. Alles war ganz leicht. Glücklicherweise entdeckte mich mein Großvater Jupp unter Wasser, zog mich rasch heraus und reanimierte mich. Als ich wieder zu mir kam, war ich umringt von Gesichtern mit tränengefüllten, weit aufgerissenen Augen. Nachdem mir ja nicht eine Sekunde lang die Todesgefahr, in der ich geschwebt war, bewusst gewesen war, fand ich die Reaktion meiner Familie vollkommen übertrieben. Lange dachte ich damals, dass im Wasser zu ertrinken sicher die schönste Art zu sterben sei, aber im Laufe meines weiteren Lebens durfte ich noch zwei weitere vergleichbare Erfahrungen machen, die mich dann umstimmten.

Die Eltern meiner Mutter kamen des Öfteren zu Besuch an den Badeplatz oder zum Essen ins Haus Roseneck. Es herrschte dann immer eine sehr verkrampfte Atmosphäre. Die Eltern meiner Mutter, besonders meine Oma Melli, mochten Marion nicht besonders, weil sie einer Gesellschaftsschicht angehörte, zu der sie mit Sicherheit nicht gehörten. In Mellis Augen war Marion eine verwöhnte Frau, die Dienstboten gehabt hatte, nie selber arbeiten hatte müssen, geschweige denn wusste, wie man richtig putzte, was für sie zu den Grundqualitäten einer ordentlichen Frau gehörte. Melli saß meistens während einer Essenseinladung im Mantel auf einem Stuhl im Flur und erklärte, sie habe keinen Hunger und gehöre ja im Grunde auch gar nicht hierher. Ich fand das ausgesprochen blöd, und meiner Mutter war es furchtbar peinlich. Sie hatte überhaupt ein äußerst distanziertes Verhältnis zu ihren Eltern und nahm als junge Frau sofort Marion als ihre Wunschmutter und die neue Familie als die ihre an.


Sandburg am Bodensee


Ich und Pudel Goldi am Badeplatz


Im Schlauchboot mit Marion und meinem Vater


Oma Melita »Melli« Sessler


Opa Josef »Jupp« Sessler

Mein Großvater war nicht nur ein Grabscher, der mich bis ins Erwachsenenalter mit seiner Gier bedachte, sondern auch früher ausgesprochen jähzornig gewesen und hatte meine Mutter als Kleinkind gegen einen Heizkörper geschleudert, weil sie geweint hatte, und ihr dabei das Schlüsselbein gebrochen. Sie hatte daraufhin lange bei ihren Großeltern mütterlicherseits gelebt, die einen kleinen Bauernhof hatten. Auch hier war sie der Gewalt eines alkoholkranken Großvaters ausgeliefert und begann sich zu einem sehr in sich zurückgezogenen, leicht soziophoben Menschen zu entwickeln. Ich glaube, der einzige Mensch, zu dem sie Vertrauen hatte und dem sie sich öffnete, war mein Vater. Um sich von ihrer eigenen Familie abzuheben, flüchtete sie ganz in den Intellekt und verabscheute alles Primitive und Intuitive. Oft warf sie mir vor, leider nur ein Bauchmensch, wie sie sagte, zu sein, der weder ein Studium, noch sonst irgendeinen Schein gemacht hatte, der beweisen hätte können, dass ich ein denkendes Individuum mit einem Abschluss war. Umso mehr liebte sie es, wenn ich mich als Autorin und Geschichtenerzählerin betätigte. Ich begann damit schon sehr früh, als ich noch nicht einmal schreiben konnte, und bestand darauf, ihr täglich im schattigen Schlafzimmer von Haus Roseneck meine neuesten Märchen zu diktieren. Vielleicht hatte diese wichtige Tätigkeit auch etwas damit zu tun, dass ich keinen Mittagsschlaf machen wollte … Die Geschichten waren für eine Sechsjährige ausgesprochen grausam und merkwürdig formuliert, ganz im altmodischen Sprachduktus der Märchen, die ich als Kind vorgelesen bekam. Hier ein kleiner Ausschnitt:

Es war einmal eine wunderschöne Prinzessin und die hatte es so langweilig. Da schenkte ihr einmal der König einen wunderschönen Spiegel. Den liebte sie über alles. Und dieser Spiegel hatte eine besondere Bewandtnis. Wenn man ihn fragte »Spieglein, Spieglein, du bist klug, sag mir, was mein Vater tut?«, dann antwortete der Spiegel: »Dein Vater hat etwas Böses vor.« – »Was hat er vor?« – »Er will dich einem Müller verheiraten und dir danach das Fell über die Ohren ziehen und dann sitzt du in der Klemme.« – »Vielen Dank, Herr Spiegel. Dafür werd’ ich mich rächen. Ich werde ihm ein Schlafmittel in sein Getränk schütten. Dann schläft er ein und kann mich nicht verheiraten. Ich, solang er schläft, gehe in den Wald, und du, Spiegel, kommst mit, denn dich brauche ich. Im Wald kann man uns nicht sehen, auch wenn mein Vater erwacht. Wir gehen immer tiefer in den Wald. Ernähren tun wir uns an Himbeeren und Erdbeeren, an Brombeeren, Heidelbeeren, an Blaubeeren, an Rotbeeren und an Honig. Wir betteln uns ein wenig Brot ab von den Leuten, die arm sind. Aber doch nicht so arm, dass sie kein Brot haben. Dann, wenn wir das Brot nicht kriegen, dann rächen wir uns an ihnen. Aber wenn sie uns doch Brot geben, dann sind wir dankbar und heben es auf, und wenn wir wieder Hunger haben, essen wir ein bisschen Brot. Sonst müssen wir zu viel betteln.«

Nach der schweren Kopfarbeit legte ich mich im Wohnsalon gerne auf den Boden und hörte mir eine Platte meines Vaters über Autogenes Training an, versuchte den für mich teilweise befremdlichen Anweisungen Folge zu leisten und stellte mir zum Beispiel vor, eine Wade zu sein. Ich war immer schon sehr offen für mentale Spielereien und Dinge, die man nicht wissenschaftlich erklären konnte, so auch für die Verwandlung meiner Tante Barbara und meines Zauberonkels Christian in Bhagwan-Jünger. Ich bewunderte meine Tante Barbara sehr und war fasziniert von ihrem großen Busen. Für meine Begriffe war sie eine richtige Sexbombe, und als sie plötzlich die engen, aufreizenden Blusen mit weiten T-Shirts und Pumphosen von Altrosa bis Dunkelrot vertauschte und mir erklärte, sie sei jetzt erleuchtet, ob ich das nicht sehen könne, gestand ich ihr das zwar durchaus zu, dachte mir aber insgeheim skeptisch: »Das müsste ich dann ja wohl sehen können!«

Oft spielte mein Vater mit mir im Garten von Haus Roseneck Kaufladen, mit Kaspi als Kunden. Wir bauten gemeinsam den gesamten Laden auf und sammelten im Garten Dinge, die ich verkaufen konnte, wie Blumen, Vogeleierschalen oder Regenwürmer. Einmal baute er sogar ein richtiges kleines Holzhaus für mich, das mit einem Tisch, Stühlchen und Vorhängen eingerichtet wurde. Nachdem aber auch dort binnen kürzester Zeit Spinnen einzogen, betrat ich es nie wieder. Abends ging ich gerne noch mit Marion und den beiden Pudeln Gassi. Zu meinem größten Vergnügen schrie sie unentwegt mit schriller Stimme: »Huschi, Goldi, Pipi-Ei-Ei, Wörschti, Wörschti!« Unglaublich war, dass die Hunde dieser Aufforderung auch tatsächlich sogleich Folge leisteten.

Am Ende eines dieser wundervollen Kindheitssommer passierte etwas Schreckliches. Meine Großmutter Marion wollte das Dach von Haus Roseneck reparieren lassen und erfuhr von der Bank, dass das Haus von meinem Onkel mit mehreren Krediten belastet worden war, um seine Spielschulden zu tilgen, und eigentlich bereits Eigentum der Bank war. Haus Roseneck musste verkauft werden. Ich werde nie meine Verzweiflung und meinen Schmerz vergessen, als wir gemeinsam das gesamte Haus räumten und auch ich mich von unendlich vielen Schätzen, die ich liebte, trennen und beobachten musste, wie fremde Menschen alle Dinge, die wir zur freien Entnahme vor das Haus gestellt hatten, einfach mitnahmen. Ich fühlte mich so ohnmächtig wie noch nie zuvor in meinem Leben und wollte nichts lieber, als das Haus retten. Mit dem Verkauf von Haus Roseneck verlor ich meine Heimat. Der Badeplatz wurde schließlich auch noch verkauft und meine Großmutter zog in eine kleine Wohnung in Nonnenhorn. Sie war unglaublich tapfer und machte, wie es ihre Art war, auch hier das Beste daraus.

Wer nicht kämpft, hat schon verloren

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