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Henry David Thoreau: Walden

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Dieter Schulz

Walden ist das Hauptwerk eines amerikanischen Autors, dessen 200. Geburtstag kürzlich in aller Welt gefeiert wurde. Henry David Thoreau wurde am 12. Juli 1817 geboren, in Concord, Massachusetts, einer Kleinstadt knapp 30 km westlich von Boston (heute ca. 17000, damals ca. 2000 Einwohner). Von kürzeren Reisen abgesehen, hat er Concord nie verlassen. Er starb daselbst 1862, im auch für damalige Verhältnisse jungen Alter von 44 Jahren. Die Totenrede hielt sein einstiger Lehrer, Mentor und Freund, Ralph Waldo Emerson, der führende Kopf der sog. Transzendentalisten, einer Gruppe von Intellektuellen, die in den 1830er und 1840er Jahren Concord zum „American Weimar“ machte.1 Thoreaus weltweiter Ruhm beruht neben Walden vor allem auf dem Essay „Civil Disobedience“ (1849). Dessen Titel wurde schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Schlagwort von Protest- und Bürgerrechtsbewegungen; er hat die englischen Fabianer ebenso inspiriert wie Mahatma Gandhi, die französische Résistance ebenso wie Martin Luther King und Nelson Mandela und schließlich in neuester Zeit Bewegungen wie Occupy Wall Street und die gegen die Deportationspolitik der US-Regierung aufbegehrenden Sanctuary Cities.

1854 mit dem Untertitel Life in the Woods veröffentlicht, besteht Walden aus 18 Kapiteln, in denen der Autor über ein Experiment berichtet. Im Frühjahr 1845 hatte er sich eine Hütte im Wald gebaut, am Ufer des Walden Pond, eines kleinen Sees etwa drei km von Concord entfernt. Dort hatte er zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage gewohnt, relativ abgeschieden, einfach, naturnah, um nichts weniger herauszufinden als den Sinn des Lebens.

Ich möchte Walden als ‚Klassiker‘ betrachten, eine andere Bezeichnung für das ‚große Werk‘, um das es in dieser Reihe geht, zugleich ein Etikett, das der Erläuterung bedarf. Denn darüber, was unter einem Klassiker zu verstehen sei, wird seit der Antike nachgedacht. Soweit möchte ich nicht zurückgehen, vielmehr beschränke ich mich auf eine Diskussion, die mit großen Kritiker-Namen wie Sainte-Beuve, T.S. Eliot und Frank Kermode verbunden und in neuerer Zeit im Rahmen der Kanon-Debatten wieder aufgegriffen worden ist. In den neueren Kontroversen geht es dabei vor allem um die Revision des Literaturkanons im Zeichen von Multikulturalismus, Feminismus und Postkolonialismus.2 Demgegenüber stelle ich ‚klassische‘ Fragen der Klassiker-Diskussion in den Vordergrund: Wie lange muss ein Werk gelesen werden, um als Klassiker zu gelten? Horaz‘ Faustregel – hundert Jahre – bietet ein scheinbar simples, aber noch von Kermode zustimmend zitiertes Kriterium.3 Wie erklärt es sich, dass ein Werk lange nach seinem Erscheinen immer noch gelesen und auch von späteren Epochen noch als aktuell empfunden wird? Wie verhalten sich Universalität und Dauer zu kulturspezifischen und zeitbedingten Faktoren? In welchem Verhältnis stehen innovative und konservative Momente zueinander? Was ist dran an der Behauptung, einen Klassiker erkenne man unter anderem daran, dass ihn jeder ‚kennt‘, ohne ihn wirklich gelesen zu haben – frei nach Pudd’nhead Wilsons Definition in Mark Twains Following the Equator (Motto zu Kap. 25): „‚Classic.‘ A book which people praise and don’t read.“4

Zu Beginn greife ich ein Kriterium auf, das Eliot in die Diskussion eingebracht hat und das auf den ersten Blick geeignet erscheint, Walden den Status des Klassikers abzusprechen: das der Reife. Im Hauptteil meiner Ausführungen konzentriere ich mich dann auf die Verschränkung von Innovation und Restauration, Radikalität und Konservatismus, die bereits Sainte-Beuve als Merkmal des Klassikers herausstellte. Dabei werden auch Thoreaus eigene, vor allem im „Reading“-Kapitel von Walden formulierte Gedanken zur Geltung kommen. Klassiker, so Thoreau, sind ‚natürlich‘ in dem Sinne, dass sie, wie die Natur, im Wandel lebendig bleiben; indem wir sie lesen und studieren, teilt sich uns, wie beim Erforschen der Natur, ihre Regenerationskraft mit. Abschließend werde ich die Frage ansprechen, inwieweit das Prestige eines Klassikers sich von der tatsächlichen Lektüre lösen kann – in welchem Maße auch für Walden eine Bemerkung Balz Englers gilt, der nach eingehender Würdigung der Klassiker-Debatte von Sainte-Beuve bis Kermode und Hans-Robert Jauss den Vorschlag macht, unter dem Klassiker ein Werk zu verstehen, das unabhängig von dem Buch existiert, als das es ursprünglich erschienen ist.

In „What is a Classic“ (1944) formuliert T.S. Eliot, der Kritikerpapst der anglo-amerikanischen Moderne, gewohnt apodiktisch: „A classic […] must be the work of a mature mind.“5 Ich stelle das Kriterium der Reife an den Anfang, weil es die Gelegenheit bietet, einige der gewichtigsten Einwände gegen Thoreaus Buch aufzugreifen, scheint es doch auf den ersten Blick wie kein anderes geeignet, Walden als Klassiker zu demontieren. Es gibt meines Wissens keine expliziten Kommentare Eliots zu Thoreau, aber er hätte er ihn mit Sicherheit in derselben Schublade abgelegt wie Edgar Allan Poe, von dem er sagt, Poes Werk illustriere „the intellect of a highly gifted young person before puberty“; er stelle ihn sich vor als „a man of very exceptional mind and sensibility, whose emotional development has been in some respect arrested at an early age.“6

Aus zwei Gründen bin ich mir sicher, dass Eliot mit Thoreau genauso verfahren wäre wie mit Poe. Zum einen ist es Thoreau in der Tat so ergangen, und zwar schon 1865, wenige Jahre nach seinem Tod, in einer vernichtenden ‚Würdigung‘ James Russell Lowells, des zu seiner Zeit einflussreichsten Kritikers in den USA, und dann erst kürzlich wieder in einem New Yorker-Aufsatz von Kathryn Schulz. Beide diagnostizieren an Thoreau narzisstisch-regressive Züge, die Unfähigkeit zu Selbstkritik und Selbstironie. Zum anderen war dies auch meine erste Reaktion auf Walden. Nach über vierzigjähriger Beschäftigung mit den amerikanischen Transzendentalisten erinnere ich mich immer noch gut an die Irritation, die Thoreau anfangs in mir auslöste. Bereits im zweiten Absatz blieb ich hängen, an der Passage, in der Thoreau dem Leser ankündigt, er werde im Folgenden vorwiegend über sich selbst schreiben und dabei ausgiebigen Gebrauch von der Ersten Person Singular machen:

In most books, the I, or first person, is omitted; in this it will be retained; that, in respect to egotism, is the main difference. We commonly do not remember that it is, after all, always the first person that is speaking. I should not talk so much about myself if there were any body else whom I knew as well (3).7

Thoreaus Tonfall hatte etwas vom Quengeln eines Teenagers; wollte hier jemand, der es trotz Harvard-Diplom zu nichts gebracht hatte, seine Unsicherheit und Unreife mit einem Ego-Trip kompensieren? Schließlich war unsereinem schon in der Oberstufe des Gymnasiums beigebracht worden, dass man, wenn man etwas zu sagen hat, unpersönlich formuliert – ein Stilprinzip, das im Studium durch die in meiner Generation epidemische Adorno-Lektüre bestärkt wurde, hatte doch unser Frankfurter Guru immer wieder darauf bestanden, in Wort und Schrift ‚die Sache selbst‘ zur Sprache zu bringen. Walden war für mich auf Seite 1 erledigt.

Ich habe Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass das Ich von Walden zwar autobiographisch grundiert ist – hier berichtet einer mit dem auf persönlicher Erfahrung beruhenden Anspruch auf Authentizität – , dass es aber zugleich eine persona ist, eine Maske, die zu bestimmten Zwecken eingesetzt wird, hinter der der Autor sich ebenso verbirgt wie er sich durch sie enthüllt. Das Insistieren auf dem persönlichen Erfahrungsgrund verbindet sich mit einem raffinierten, alles andere als pubertären Spiel, mit einer sophistication, die den Erzählstrategien eines Jonathan Swift oder eines Nathaniel Hawthorne (dem Kermode in The Classic fast ein ganzes Kapitel widmet) in nichts nachsteht.

Einmal als Spiel erkannt, erweist sich die Ich-persona als höchst wirkungsvolles Instrument des Selbstausdrucks ebenso wie der sozialkritischen Analyse. Denn genau das leistet Walden, für den Leser am leichtesten nachvollziehbar im ersten und mit großem Abstand längsten Kapitel mit der Überschrift „Economy“. Hier dient das Ich in erster Linie der Polemik; es wird in Stellung gebracht gegen eine Gesellschaft, deren Ideologie – plakativ ausgedrückt – Glück verspricht und Frustration liefert. „The mass of men lead lives of quiet desperation“ (8) – der Satz aus „Economy“ gehört mit Recht zu den meistzitierten des Buches, fasst er doch eine Zeitdiagnose zusammen, die an Radikalität und Schärfe ihresgleichen sucht. Drei Generationen nach der Unabhängigkeitserklärung der USA, in deren Präambel neben dem Recht auf Leben und Freiheit die Verwirklichung des Glücks – ‚the pursuit of happiness‘ – zu den unveräußerlichen Menschenrechten gezählt wird, entwirft Thoreau das Panorama einer Gesellschaft, die systematisch die Ideale verrät, unter denen sie angetreten ist. So ist insbesondere der freie Bauer, die Idealfigur der von Thomas Jefferson anvisierten Republik, alles andere als frei; Tag für Tag rackert er sich ab, um die auf seiner Farm lastenden Hypothekenzinsen zu bedienen. Der hochgepriesene technische Fortschritt – in den 1840er Jahren besonders markant sichtbar in der gerade in Concord angekommenen Eisenbahn sowie an den Telegraphendrähten – geht nicht nur auf Kosten der Arbeiter, vor allem irischer Einwanderer, er entfremdet uns von der Natur als Erfahrungsraum und untergräbt damit auch die Zivilisation, als deren Triumph er gefeiert wird.

Witzig und unterhaltsam reiht Thoreau Beispiel an Beispiel, um aufzuzeigen, wie die ökonomischen Mechanismen, die doch der Theorie nach der Befriedigung unser Grundbedürfnisse dienen – Arbeit und Produktion, Privatbesitz, Arbeitsteilung, Standardisierung, Wettbewerb und Markt – nicht nur diese Bedürfnisse nicht wirklich befriedigen im Sinne eines angemessenen Kosten-Nutzen-Verhältnisses. Zur gleichen Zeit wie Karl Marx liefert Thoreau eine umfassende Darstellung der Entfremdung, indem er die zahllosen sekundären Bedürfnisse entlarvt, die unser Leben beherrschen: das Diktat der Mode und der Statussymbole, vor allem aber das – schon von Swift in Gulliver’s Travels mit ätzender Satire gegeißelte – Verlangen nach Luxus, das seinerseits kollektive Verbrechen wie die Sklaverei und den kolonialen Expansionismus des Mexican War antreibt. Mit unseren natürlichen Bedürfnissen haben diese Fehlentwicklungen nichts zu tun, aber dank Adam Smith, David Ricardo und Jean-Baptiste Say (von Thoreau in Walden genannte Nationalökonomen) besitzen sie geradezu axiomatisches Prestige.

Angesichts dieser desaströsen Entwicklungen geriert sich das Thoreausche Ich bald amüsiert, bald empört; bald höhnisch, bald empathisch-mitleidig, stets aber witzig und immer wieder auch mit einem Schuss Selbstironie, der allein ausreichen müsste, das Verdikt pubertärer Nabelschau auszuräumen. Thoreau versteht sein eigenes Experiment als Versuch einer alternativen Ökonomik; die einfache selbstgebaute Hütte, relative Bedürfnislosigkeit in Kleidung und Nahrung, ein selbst angelegtes Bohnenfeld – all das befreit ihn weitgehend vom Leistungsdruck, unter dem seine Nachbarn in Concord leiden. Zugleich ‚verkauft‘ er (im Unterschied zum Benjamin Franklin der Autobiography) sein Beispiel nicht als Erfolgsrezept, er warnt ausdrücklich davor, es ihm nachzutun, und wenn er sich mit den Farmern von Concord vergleicht und meint, er sei nicht nur freier, sondern auch im materiellen Sinne erfolgreicher gewesen als sie, so macht er sich auch immer wieder über sich selbst lustig.

Dabei hilft ihm seine stilistische Brillanz, greifbar etwa an den zahllosen Wortspielen, die das Buch gelegentlich zum Albtraum für Übersetzer machen können, sind Wortspiele doch selten eins-zu-eins übersetzbar. Eine Ausnahme gehört zu meinen Lieblingspassagen. Dahinter steht die seit John Locke in England und später auch in den USA als grundlegend akzeptierte Auffassung, dass Landbesitz in dem Maße moralisch legitim sei, wie der Bauer den Boden bearbeite, ihm (buchstäblich etwa in Form seines Schweißes) etwas von sich selbst beimische und damit seinen Wert steigere. So wird die Bearbeitung des Bodens zur Quelle des Wohlstands ebenso wie zur Basis bürgerlicher Tugenden. Produktiver Landbesitz schafft freie, verantwortungsvolle Bürger, das Rückgrat der Republik als Staatsform. Hier liegt die theoretische Legitimation von Jeffersons bereits angesprochener Vision der USA als einer Republik freier Bauern.

Thoreaus juristischer Status während seines Walden-Aufenthalts war nun aber nicht der des Landbesitzers; er hatte die Hütte auf Emersons Land gebaut, war also ein Squatter, der das Land nutzen, aber nicht sein Eigen nennen und entsprechend darüber verfügen durfte. Darauf ebenso wie auf das Locke-Jeffersonsche Theorem des Besitzindividualismus anspielend bemerkt Thoreau: „I enhanced the value of the land by squatting on it“ (64). Sein Beitrag zur Verbesserung des Bodens beschränkte sich darauf, ihn mit seinen Exkrementen zu düngen. „Squat“ heißt ja zunächst „sich hinhocken“. Wir treffen hier auf eines von unzähligen Wortspielen in Walden, und auf den seltenen Glücksfall, dass ein englisches Wortspiel problemlos ins Deutsche übertragen werden kann: Statt als Farmer profiliert Thoreau sich als Squatter, der buchstäblich und metaphorisch aufs Land ‚scheißt‘ – ein glänzendes Beispiel für die burleske Seite des Buches. Die Strategie der Burleske besteht ja darin, etwas mehr oder weniger Triviales ins Heroische hochzustilisieren, und dann diese Blase platzen zu lassen. Eine drastischere Demontage des Heroischen als sie hier, am Beispiel des Farmer-Mythos vorgeführt wird, ist schwer vorstellbar; burlesk ist sie insofern, als Thoreau an dessen Anspruch, den Boden zu ‚verbessern‘, festhält und damit in Konkurrenz zum Farmer tritt, sich also seinerseits zugleich heroisch aufplustert und durch den Kakao zieht.

Die burlesken Züge zeugen von einer Souveränität, die das Gegenteil von pubertärem Narzissmus signalisiert. Für sich schon ein Ausweis von Reife, dient sie überdies einem Anliegen, das ernster und gewichtiger kaum sein könnte. Schließlich ist Ökonomie, wie Thoreau vermerkt, ein Thema, über das man sich lustig machen kann, aber damit ist es nicht erledigt: „Economy is a subject which admits of being treated with levity, but it cannot so be disposed of“ (29). Denn die von Jefferson in die Declaration of Independence eingefügte Formel von ‚the pursuit of happiness‘ läuft für Thoreau im Zeichen zeitgenössischen Wirtschaftens auf den Tod der Seele hinaus. Vom ersten Spatenstich an gräbt sich der Farmer sein Grab, das Haus wird ihm schon zu Lebzeiten zum Sarg und Mausoleum. Eine Antwort auf die Welt der Wirtschaft besteht in Askese und Verweigerung. Dem Gewinnstreben setzt Thoreau die Forderung nach freiwilliger Armut und drastischer Einschränkung der Bedürfnisse entgegen: „a man is rich in proportion to the number of things which he can afford to let alone“ (82). Das erste Kapitel von Walden befasst sich mit Ökonomie, um sie hinter sich zu lassen. Die andere Antwort auf eine dem business verfallene Welt findet Thoreau in der Natur.

In „Qu’est-ce qu’un classique?“ (1850), einer seiner Causeries du lundi, erörtert Sainte-Beuve das für den Klassiker charakteristische und auf den ersten Blick paradox erscheinende Ineinander revolutionärer, gar ikonoklastischer Züge einerseits, konservativer Momente andererseits. Revolutionär erscheint der Klassiker insofern, als er uns aus vertrauten Vorstellungen reißt, in denen wir es uns bequem gemacht haben. Zugleich ist der Klassiker rückwärtsgewandt, es geht ihm darum, Gewissheiten freizulegen, die verschüttet waren. Daher seine hohe Akzeptanz und Langlebigkeit: Er verhilft uns nicht zu absolut neuen Einsichten, vielmehr erinnert er an etwas, das wir immer schon wussten. So ist er letztlich restaurativ in dem positiven Sinne, dass er ein ge- oder zerstörtes Gleichgewicht, eine verzerrte Harmonie und Schönheit wiederherstellt. Uns werden die Augen geöffnet für etwas, das immer schon da war und bleibende Gültigkeit beanspruchen darf:

Un tel classique a pu être un moment révolutionnaire, il a pu le paraître du moins, mais il ne l’est pas; il n’a fait main basse d’abord autour de lui, il n’a renversé ce qui le gênait que pour rétablir bien vite l’équilibre au profit de l’ordre et du beau.8

Etwa um die gleiche Zeit wie Sainte-Beuves Causerie verfasst Thoreau Zeilen, die sich auf den ersten Blick merkwürdig in einem Buch ausnehmen, das ein einfaches Leben im Einklang mit der Natur propagiert. Im dritten Kapitel von Walden, „Reading“, bietet er ein rückhaltloses, ausgesprochen elitär wirkendes Plädoyer für das Studium der Klassiker, der antiken zumal, vorzugsweise in der Originalsprache! Auch wenn er im ersten Sommer am See kaum zur Lektüre gekommen sei, habe die Ilias stets griffbereit auf seinem Tisch gelegen. Der Leser reibt sich die Augen, wird aber alsbald mit der verblüffenden Auskunft belehrt, dass das Studium der Klassiker dem Studium der Natur nicht nur nicht entgegenstehe, beide seien vielmehr aus dem gleichen Holz geschnitzt, die Klassiker nämlich genauso natürlich wie die Natur selbst. Sie zu vernachlässigen wäre gerade so, als würde man sich auch nicht für die Natur interessieren:

Men sometimes speak as if the study of the classics would at length make way for more modern and practical studies; but the adventurous student will always study classics, in whatever language they may be written and however ancient they may be. For what are the classics but the noblest recorded thoughts of man? They are the only oracles which are not decayed, and there are such answers to the most modern inquiry in them as Delphi and Dodona never gave. We might as well omit to study Nature because she is old (100).

Klassiker konfrontieren uns mit Neuem, aber es ist nicht das Neue der Mode, sondern das vergessene Alte der Natur. Ähnlich wie Sainte-Beuve sieht Thoreau in ihnen eine nur scheinbar paradoxe Verquickung von revolutionären und konservativen Impulsen. Klassiker altern nicht, sie sind lebensprall wie die Natur, und wie diese vermitteln sie Zeit und Zeitlosigkeit, Besonderes und Universales miteinander:

No wonder that Alexander carried the Iliad with him on his expeditions in a precious casket. A written word is the choicest of relics. It is something at once more intimate with us and more universal than any other work of art. It is the work of art nearest to life itself (102).

Klassiker sind „heroic books“ (100). Sie spiegeln das in ihrer Zeit, was dem Verschleiß – „the corrosion of time“ (102) – entzogen war und deshalb auch uns nachhaltig zu faszinieren vermag. Wie die Morgendämmerung, in der sie vorzugsweise gelesen werden sollten, erfüllen sie uns mit Hoffnung und Lebensfreude.

Besonders sinnfällig wird die Affirmation des Lebens in den Rhythmen von Tag und Nacht sowie im Zyklus der Jahreszeiten. Kein Tag, kein Frühling ist wie der andere, doch mit großer Verlässlichkeit wiederholt sich das Grundschema ihrer Abfolge. Die natürlichen Zyklen werden Thoreau nicht nur zum wichtigsten thematischen Anliegen, als Vorbild, an dem der Mensch seinen Tagesablauf ausrichten sollte; darüber hinaus gewinnt er aus ihnen die Struktur seines Buches, das damit nicht nur thematisch-stofflich, sondern auch formal den Status eines Klassikers im Sinne eines ‚natürlichen‘ Buches beansprucht.

Bisher lag der Akzent meiner Betrachtung von Walden auf der polemisch-kritischen Seite: Das Buch vollführt, insbesondere im „Economy“-Kapitel, eine großangelegte Aufräumaktion, indem es bald aggressiv, bald witzig Grundannahmen zeitgenössischer Ökonomik in Theorie und Praxis attackiert. Die Radikalität dieser Aufräumaktion ist jedoch nicht revolutionär in dem Sinne, dass sie etwas völlig Neues ins Werk setzen will, vielmehr ist sie ‚radikal‘ im ursprünglichen Wortsinn, als Erinnerungsarbeit, die jene ‚Wurzeln‘ freilegt, jene Prinzipien, die eigentlich selbstverständlich und seit jeher anerkannt sind. So geht es im Sinne Sainte-Beuves in einem ersten Schritt um die Identifikation und Diagnose jener Kräfte, die dem Leben entgegenstehen, seine legitimen Impulse beschädigen oder verschütten. Die dabei eingesetzten, bisweilen ikonoklastischen Strategien dienen letztlich der Wiederherstellung einer gestörten Ordnung, eines Gleichgewichts, das durch die zerstörerische Dynamik des Status quo verlorengegangen oder in Vergessenheit geraten ist.

Bei seiner Analyse zeitgenössischen Wirtschaftens kommt Thoreau zu dem Ergebnis, dass das System auf der elementaren Ebene der Bedürfnisbefriedigung versagt. Hier ist in der Tat eine gewaltige Entrümpelung fällig, ein busk:

Would it not be well if we were to celebrate such a ‚busk,‘ or ‚feast of first fruits,‘ as Bartram describes to have been the custom of the Mucclasse Indians? ‚When a town celebrates the busk,‘ says he, ‚having previously provided themselves with new clothes, new pots, pans, and other household utensils and furniture, they collect all their worn out clothes and other despicable things, sweep and cleanse their houses, squares, and the whole town, of their filth, which with all the remaining grain and other old provisions they cast together into one common heap, and consume it with fire. After having taken medicine, and fasted for three days, all the fire in the town is extinguished. During this fast they abstain from the gratification of every appetite and passion whatever. A general amnesty is proclaimed; all malefactors may return to their town.–‘ (68).

Die zeitkritische Polemik, der auf den ersten Blick ‚revolutionäre‘ Impuls von Walden weicht jedoch mehr und mehr einer affirmativen Haltung. Denn jene Schönheit, jene Harmonie, auf deren Wiederherstellung der Klassiker zielt, findet Thoreau vorzüglich im Erfahrungsraum der Natur. Die Natur führt eine Ökonomie vor, von der wir lernen können. Indem der Mensch sich ihrem Einfluss öffnet, sich in ihre Rhythmen einbettet, kann er auf Heilung hoffen. Denn im Unterschied zur Gesellschaft ist die Natur durch und durch gesund.

Die Akzentverschiebung von der Gesellschaft zur Natur verweist auf die Genese von Walden. Das 1854 erschienene Buch ist das Ergebnis eines langen und mühevollen Entstehungs- und Reifeprozesses. Die Forschung hat sieben Fassungen identifiziert, ferner zwei Hauptschaffensphasen, von denen die erste in die Jahre 1846–49, die zweite in die Jahre 1852–54 fällt. Die Unterschiede von Erst- und Endfassung sind dramatisch, vergleichbar denen zwischen Melvilles ‚Ur-Moby-Dick‘ und dem 1851 veröffentlichten Meisterwerk.

Wie kam es dazu? Thoreau hatte gehofft, sich wie sein großes Vorbild Emerson eine Existenz als freier Schriftsteller aufzubauen. Mit seinem ersten Buch jedoch, A Week on the Concord and Merrimack Rivers (1849), gelang ihm ein Achtungserfolg bei der Kritik, der Verkauf aber war derart miserabel, dass der Autor vier Jahre später auf Bitten des Verlegers die Restauflage – 706 von 1000 auf eigene Kosten gedruckte Exemplare – zurücknahm. Der launige Vermerk im Journal müsste an sich schon ausreichen, den Vorwurf auszuräumen, Thoreau habe keinen Humor besessen: „I have now a library of nearly nine hundred volumes, over seven hundred of which I wrote myself.“9 Nach dem finanziellen Fiasko der Week konnte Thoreau um 1849 nicht damit rechnen, einen Verleger für ein weiteres Buch zu finden. Walden war einstweilen nicht zu veröffentlichen, aber weder das Manuskript noch die darin abgehandelten Themen waren damit erledigt. Nach einer Zäsur von knapp zwei Jahren nimmt Thoreau einen neuen Anlauf, und was nun mit dem Text geschieht, ist atemberaubend. Die auf die economy-Thematik fokussierten Tiraden werden angereichert, zugleich aber von einer Sicht ergänzt und überwölbt, die die gefallene Welt des zeitgenössischen Wirtschaftens in einer Hymne an die Natur aufhebt. Und in dem Maße, wie die Natur in den Vordergrund rückt, verliert das Thoreausche Ich an Aggressivität, es wird ruhiger, ja über weite Strecken nimmt es sich ganz zurück und entäußert sich in der Hingabe an die Natur.

Die Natur ist für Thoreau ein ständig wiederkehrender Geburtsvorgang, Geburt aber geht mit Wehen einher, und die können heftiger sein als die Schmerzen, die der Tod verursacht. Walden ist ein (im Sinne Schillers) sentimentalisches, aus der Erinnerung geschriebenes Buch, aber es ist nicht sentimental, es ergeht sich nicht in Gefühlsduselei und Naturschwärmerei. Davor bewahrt Thoreau nicht zuletzt ein persönlicher Entwicklungsschub, der mit der zweiten Entstehungsphase von Walden zusammenfällt und vor allem im Journal eindrucksvoll dokumentiert ist. Seit den frühen 1850er Jahren macht er während der Ausflüge detaillierte Notizen über seine Naturbeobachtungen, die er entweder noch am selben Abend oder später zu ausführlichen Berichten mit genauen Zeit- und Datumsangaben ausarbeitet. Die Intensität der Naturstudien hat die letzten Fassungen von Walden nachhaltig beeinflusst. Schon vorher Thoreaus bevorzugter Aufenthalt, wird die Natur nun zum zentralen Erfahrungsraum. Als Inbegriff des Lebens zeichnet sie sich durch Wandel aus, durch den Rhythmus von Tod und Geburt, und nirgends erscheint dieser Rhythmus dramatischer als im Wechsel der Jahreszeiten. Bereits in einem der ersten Kapitel, „Solitude“, spricht er von ihrer heilenden Kraft: „While I enjoy the friendship of the seasons I trust that nothing can make life a burden to me“ (131). Mit den Jahreszeiten ‚befreundet‘ zu sein heißt zum einen, ihren Ablauf in allen Details und Zusammenhängen zu studieren und zu dokumentieren. Zum anderen kommt es darauf an, das Ich den Jahreszeiten anzupassen, deren Rhythmen und die eigenen aufeinander abzustimmen, im Idealfall nicht nur mit ihnen, sondern – wie es am Schluss des posthum erschienenen Essays „Huckleberries“ heißt – in ihnen zu leben.

Der thematischen Fokussierung entspricht die literarische Form. Es ist möglich, die einzelnen Kapitel von Walden für sich als Essays zu lesen, ihre Anordnung ist jedoch schon im ersten Teil keineswegs beliebig. Motivische Parallelen und Kontraste, die Überleitungen, Wiederholungen und Variationen folgen dem Prinzip der inneren, organischen Form im Sinne Coleridges: Ein Kapitel wächst gleichsam aus dem anderen heraus, führt Gedanken und Bilder weiter, oder stellt sich quer zum vorher Gesagten. Geradezu straff aber wird die Struktur nach „Higher Laws“ und „Brute Neighbors“. In den folgenden Kapiteln schlägt die – angeblich „for convenience“ (84) getroffene – Entscheidung, die beiden Jahre am See zu einem zusammenzufassen, voll auf die Form durch. An die Stelle der bis dahin eher lockeren Essay-Folge tritt eine Art Plot, beherrscht vom Fortgang der Jahreszeiten. Im Oktober zwingt die einsetzende Kälte zum Verputzen der Hütte („House-Warming“), der Winter mit Schnee und Eis schränkt den Radius des Wanderers ein („Winter Visitors“, „Winter Animals“, „The Pond in Winter“), bis sich im Frühjahr mit dem Aufbrechen des Eises das Wiedererwachen der Natur ankündigt („Spring“). Am Ende steht der Entschluss, die Hütte zu verlassen und nach Concord zurückzukehren („Conclusion“). Was genau ihn dazu bewegt, kann Thoreau offenlassen, schließt doch die Zukunft nach allem, was er gelernt hat, die Aussicht auf „several more lives“ (323) ein. Die destruktive Dynamik des den ersten Teil beherrschenden Todes-im-Leben wird im Zyklus des neuen Lebens aufgehoben, einem Regenerationsvorgang, der sich Jahr um Jahr wiederholen wird: „And so the seasons went rolling on into summer“ (319). Im Unterschied zur gefallenen Welt von Ökonomie und Politik ist diese ‚Revolution‘ kein Leerlauf, sie kennt Tod und Leben, aber keinen Verschleiß.

Wie das Leben im Wald sich um den Walden Pond herum und auf ihm abspielt, so finden sich im See auch die verschiedenen Erscheinungsformen und Funktionen der Natur gebündelt. Thoreaus praktische und literarische Strategien umfassen ein breites Spektrum, vom Vermessen des Sees, der Beschreibung des Wassers aus verschiedenen Blickwinkeln und zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten, seiner ökonomischen Nutzung durch Angler und Eis-Arbeiter (Eisblöcke dienen als Kühlmittel) bis hin zu symbolischen und allegorischen Zuschreibungen. Am Gegenpol zur quantitativen Vermessung und zur kommerziellen Nutzung stehen die symbolisch-allegorischen und die rituellen, sakralen Funktionen. Das Wasser ist nicht nur physisch ungewöhnlich sauber, es steht auch für moralische Lauterkeit. Das Fehlen eines sichtbaren Zu- und Abflusses deutet auf Autonomie, auf ‚Charakter‘. Als Spiegel des Himmels vermittelt das Wasser Ahnungen von Transzendenz, Gerüchte über seine bodenlose Tiefe sprechen die Fantasie an. Symbolik gerinnt zur Allegorese, wenn er als „earth’s eye“ (186) oder „God’s Drop“ (194) apostrophiert wird. Dem Bewohner der Hütte dient der See zum Wasserschöpfen, als „my well ready dug“ (183), dem Angler bietet er mit seinen Fischen reichlich Nahrung. Im morgendlichen Bad verbinden sich praktische und sakrale Elemente; es dient der Reinigung und Erfrischung, zugleich ist es ein „religious exercise“ (88), in dem der Badende sich der Regenerationskraft des Wassers versichert.

In der Regel frühmorgens absolviert, ist das Baden einer von mehreren Modi dessen, was Thoreau als „morning work“ (36) bezeichnet. Wie das Jahr seine Jahreszeiten durchläuft, so hat auch der Tag seine Zyklen, mehr noch, der Tag ist das Jahr im Kleinen: „the day is an epitome of the year“ (301). Die privilegierte Tageszeit aber ist – dem Frühling des Jahres entsprechend – der Morgen. Er steht für das Erwachen, im Erwachen wiederum zeigt sich das Leben in gesteigerter Intensität. Glücklich der, dem es gelänge, mit der Sonne Schritt zu halten und den Morgen in den Tag hinein zu verlängern: „To him whose elastic and vigorous thought keeps pace with the sun, the day is a perpetual morning“ (89). Als höchste Form des Lebendigseins ist Wachsein nichts weniger als die Freisetzung des Göttlichen in uns; einem, der ganz wach wäre, könnte man, wie einem Gott, nicht ins Angesicht schauen: „I have never yet met a man who was quite awake. How could I have looked him in the face?“ (90).

Walden Pond ist ein Mikrokosmos. Im See kristallisiert sich eine Fülle konkreter Naturbeobachtungen ebenso wie symbolischer Assoziationen. Zugleich bietet er Anlass zu globalen Spekulationen, etwa wenn er mit anderen heiligen Gewässern wie dem Ganges in Dialog tritt. Immer wieder verbinden sich zentripetale und zentrifugale, erdgewandte und transzendente Dynamik. Als sich die Gedanken beim nächtlichen Angeln in „vast and cosmogonal themes in other spheres“ (175) verloren haben, werden sie durch ein Zupfen an der Angel wieder ‚geerdet‘. Kontemplation und Meditation wechseln mit Phasen, in denen Thoreau aktiv und bisweilen massiv in die Natur eingreift, etwa wenn er durch Paddelschläge Echoeffekte erzeugt oder durch Positionswechsel den Blickwinkel zum See verändert. Dass Thoreau bei allem Drang, der Natur nahezukommen, auch ein Gefühl für ihre Fremdheit bewahrt, zeigt die Jagd nach dem Taucher (loon). Was immer er anstellt, der Vogel schlägt ihm ein Schnippchen, ja mit seinem ‚Lachen‘ scheint er sich über die Anstrengungen des Jägers lustig zu machen (234–236).

Thoreaus Naturbegriff – wenn man denn von einem ‚Begriff‘ sprechen will – ist kaum auf einen Nenner zu bringen. Den einen erscheint er widersprüchlich, andere sehen in der femininen Konnotation vieler Naturbeschreibungen eine Verlängerung des altvertrauten patriarchalischen Bedürfnisses nach Herrschaft, nach Dominanz über die Natur. Hier ist durchaus Spielraum für Kontroversen, und er wird von der Kritik ausgiebig genutzt. Über jeden Zweifel erhaben ist dagegen Thoreaus stilistische Brillanz. Selbst seine schärfsten Kritiker stehen einigermaßen fassungslos vor Sätzen und Absätzen, die zu den komplexesten in englischer Sprache gehören und dabei stets transparent und kontrolliert daherkommen. Der Reichtum des Wortschatzes; der Wechsel von griffigen Aphorismen und anspruchsvollen Perioden; die zwanglose Kombination abstrakter Gedanken mit schlichten, der Alltagserfahrung entnommenen Bildern; eine Syntax, die wie die Prosa eines Melville in Moby-Dick die Lungen und das Hirn zu weiten scheint (so Cesare Pavese über Moby-Dick10); schließlich eine überzeugende, den Kriterien der organischen Form genügende Gesamtstruktur: Mit Walden ist Thoreau ein Buch gelungen, das seinem Traum von einem ‚natürlichen Buch‘ so nahe wie nur irgend möglich kommt.

Jeder Thoreau-Leser hat seine Lieblingsstellen, ich selbst finde seinen Stil am eindrucksvollsten dort, wo er zugleich locker und prägnant Beschreibung und Reflexion ineinander übergehen lässt, ein Verfahren, das er schon an Goethes Italienischer Reise bewundert hatte. Zu diesen Passagen gehört der Anfang von „Solitude“:

This is a delicious evening, when the whole body is one sense, and imbibes delight through every pore. I go and come with a strange liberty in Nature, a part of herself. As I walk along the stony shore of the pond in my shirt sleeves, though it is cool as well as cloudy and windy, and I see nothing special to attract me, all the elements are unusually congenial to me. The bullfrogs trump to usher in the night, and the note of the whippoorwill is borne on the rippling wind from over the water. Sympathy with the fluttering alder and poplar leaves almost takes away my breath; yet, like the lake, my serenity is rippled but not ruffled. These small waves raised by the evening wind are as remote from storm as the smooth reflecting surface. Though it is now dark, the wind still blows and roars in the wood, the waves still dash, and some creatures lull the rest with their notes. The repose is never complete. The wildest animals do not repose, but seek their prey now; the fox, and skunk, and rabbit, now roam the fields and woods without fear. They are Nature’s watchmen, – links which connect the days of animated life (129).

Die Häufung phonetischer Figuren (Alliterationen und Assonanzen); Wortwiederholungen in bald kürzeren, bald länger ausschwingenden Sätzen; asyndetische im Wechsel mit polysyndetischen Fügungen; die Positionierung des Ichs, das ganz auf die abendliche Szenerie eingestimmt ist, ohne sich in ihr zu verlieren; die Verbindung von Beschreibung und Reflexion: Thoreaus Gedichte wurden und werden nur von wenigen geschätzt, aber Passagen wie diese verbinden Anschauung und Nachdenken zu einer Poesie, die den Vergleich mit der Gedankenlyrik etwa William Wordsworths herausfordert. Im Blickwinkel des Gesamtwerks ist man kaum überrascht, auch hier eines von Thoreaus Lieblingsbildern zu finden: das der gekräuselten Wellen. Zum einen verweist es auf das lebendige und belebende Zusammenwirken verschiedener Elemente, von Wasser und Wind (wobei man die alte, universale Gleichung von Wind und Geist mitrealisieren darf), und damit auf das Ganze der Natur. Zum anderen spiegelt das Bild die Stimmung des Sprechers, der sich in großer Freiheit der Heiterkeit der Natur, ihrer „serenity“ öffnet.

Damit wird der Gegenpol zu jenem Tod-im-Leben erreicht, der über weite Strecken den ersten Teil von Walden beherrscht. In „Economy“ klagt Thoreau: „There is nowhere recorded a simple and irrepressible satisfaction with the gift of life, any memorable praise of God“ (78). Walden will diesem spirituellen und kulturellen Defizit abhelfen und daran erinnern, dass die Schöpfung keineswegs beendet ist. So heißt es bereits im 2. Kapitel: „The morning wind forever blows, the poem of creation is uninterrupted; but few are the ears that hear it“ (85). Indem das Ich in den Lobpreis dieses ,Gedichts‘ einstimmt, hat es teil an einer Resakralisierung der Natur. Was das Ritual des Badens im See auf der Alltagsebene zu leisten vermochte, wird in „Spring“ ins Kosmische gesteigert. Darauf verweisen die zahlreichen Bezüge auf Mythos und Religion. Der Frühling reproduziert „the creation of Cosmos out of Chaos“, jedes Jahr beginnt mit ihm aufs Neue das Goldene Zeitalter der Ovidschen Metamorphosen (313–316). Und wie in den Anfangskapiteln Bibelzitate und -anspielungen auf die Verurteilung des Materialismus zielen, so kommt jetzt das Evangelium, die ‚frohe Botschaft‘ von der Auferstehung zum Tragen, und zwar mit der zugespitzten rhetorischen Frage des 1. Korintherbriefs (15, 55): „O Death, where was thy sting? O Grave, where was thy victory, then?“ (317).

Mit und in den Jahreszeiten leben heißt, dem Lauf der Sonne folgen. Im Zusammenhang mit dem Bohnenfeld war von einer ‚solaren‘ Perspektive die Rede; uns allen würde manche Sorge erspart, wenn wir uns klar machten, dass die Sonne ohne Unterschied auf bebaute wie unbebaute Felder scheint. Der Leser mag sich an Platons Sonnengleichnis aus dem 6. Buch der Politeia erinnern, im „Spring“-Kapitel wird der Sonnenmythos jedoch eher christlich gewendet, um am Ende einer kosmischen Sicht Platz zu machen. Der Schluss von Walden bündelt die Motiv- und Bildbereiche des Erwachens, des Morgens und der Sonne, zugleich überhöht er sie mit einem Wortspiel (sunson) und einem Bild (der Morgenstern), das den Walden-Aufenthalt in die Nachfolge Christi stellt, und schließlich lässt er – mit einem zutiefst transzendentalistischen Gestus – sowohl den Solarmythos wie auch das Christentum hinter sich: „Only that day dawns to which we are awake. There is more day to dawn. The sun is but a morning star“ (333).

Jedes Frühjahr triumphiert das Leben über den Tod, und in dem Maße, wie wir an diesem Ereignis teilhaben, werden auch wir neu geboren. Die Überwindung des Todes ist ein spiritueller Vorgang, sein Gelingen aber hängt für Thoreau wesentlich vom Kontakt des Menschen mit der Natur ab. So folgt in Walden auf das Paulus-Zitat ein Plädoyer für die unberührte, wilde Natur; ohne deren belebende Kraft würde unsere Zivilisation absterben:

Our village life would stagnate if it were not for the unexplored forests and meadows which surround it. We need the tonic of wildness […]. At the same time that we are earnest to explore and learn all things, we require that all things be mysterious and unexplorable, that land and sea be infinitely wild, unsurveyed and unfathomed by us because unfathomable. We can never have enough of Nature (317f.).

Nach mäßiger Anerkennung im 19. Jahrhundert ist Walden im 20. Jahrhundert in den Kanon amerikanischer Meisterwerke aufgerückt. Daran haben die im Zuge der culture wars seit den 1970er Jahren durchgeführten Revisionen nichts geändert. Während Franklins Autobiography in den maßgeblichen College-Anthologien drastisch zugunsten weiblicher und ethnischer Autoren gekürzt wird, druckt die Norton Anthology of American Literature nach wie vor den kompletten Text von Walden ab – ein erstaunliches Phänomen, zumal Thoreau als WASP (White Anglo-Saxon Protestant) mit misogynen Anflügen voll ins Feindbild eines im Namen von gender-Gleichheit und Multikulturalismus vorgetragenen Revisionismus passt. Bedeutende Künstler haben sich von Thoreau inspirieren lassen, allen voran die Altmeister der musikalischen Avantgarde, Charles Ives und John Cage, und neuerdings Christopher Shultis.

Seit den 1960er Jahren besitzt Walden geradezu Kultstatus. Zur ‚Bibliothek‘ der Hippies gehörten neben Hermann Hesses Steppenwolf und Siddharta, Robert Heinleins Stranger in a Strange Land und Robert M. Pirsigs Zen and the Art of Motorcycle Maintenance auch Thoreaus „Civil Disobedience“ und Walden. Um die gleiche Zeit begann das Buch ein Kriterium des Klassikers zu erfüllen, das erst kürzlich, im Zuge der Rezeptionsästhetik, in die Debatte eingeführt worden ist. Balz Engler zufolge ist ein Klassiker „a work of literature that has left the book.“11 Wer von denen, die ein Verhalten als „quixotic“ bezeichnen und vom „Kampf gegen Windmühlen“ sprechen, hat Cervantes‘ Roman gelesen? Figuren wie Robinson, Frankenstein, Faust oder Don Juan, Wendungen wie „Sein oder Nichtsein“ und „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“ sind längst sprichwörtlich geworden, sie führen ein Eigenleben jenseits der Romane oder Dramen, denen sie entstammen. 1948 fand Thoreaus Experiment eine Fortsetzung in B.F. Skinners Walden Two (1948), einer behavioristischen Utopie, die in das Programm einer bis heute existierenden Kommune einging. Die Hütte am Walden Pond ist zur Chiffre für Ökos, Alternative und Aussteiger geworden, von den militanten tree huggers Kaliforniens über die moderateren wise use-Ökologen im Sinne eines Wendell Berry, die Tiny House-Bewegung und Occupy Wall Street bis hin zu extremen, ja terroristischen Formen libertärer Staatsfeindlichkeit und schließlich der selbstzerstörerischen Zivilisationsflucht eines Christopher McCandless in Jon Krakauers Into the Wild.

Die amerikanischen Trends wiederum haben längst weltweite Resonanz bzw. Parallelen gefunden. Dem Beispiel Anne Donaths, der Lehrerin, die sich im Oberschwäbischen ein Holzhaus ohne Strom und fast ohne Möbel eingerichtet hat, ihre Kleidung und Schuhe nach Möglichkeit selbst herstellt und im Garten eigenes Gemüse zieht, lassen sich in den letzten Jahren zahlreiche vergleichbare Experimente hinzufügen, und immer wieder fällt dabei der Name Thoreau als Inspirationsquelle oder Bestätigung für diverse Formen alternativen Lebensstils, vom einfachen, anspruchslosen Leben bis hin zum entschiedenen Aussteigertum. Eine kuriose Blüte hat der Thoreau-Kult kürzlich auf dem deutschen Zeitschriftenmarkt getrieben; das Lifestyle-Magazin Walden gibt Tipps, wie ‚Mann‘ das Abenteuer der Wildnis ‚vor der Haustür‘ erleben kann, seine Leser „leben vorwiegend in der Stadt, telefonieren mit Apple, lesen Monocle, fahren DriveNow und Golf Variant für den Wochenendausflug, tragen RedwingBoots und 3Sixteen-Jeans.“12 Besonders amüsiert hätte Thoreau das Ergebnis einer Leserumfrage, wonach 69 % eine „hohe Ausgabenbereitschaft für Outdoorausrüstungen“13 haben.

Thoreaus Heimatstadt Concord, insbesondere Walden Pond und die (nachgebaute) Hütte gehören zu den Touristenattraktionen, wenn nicht gar Wallfahrtsorten Neuenglands. Der „different drummer“ (326), mit dem im Schlusskapitel von Walden das Bild des Nonkonformisten beschworen wird, hat sich zum Markenartikel für zahlreiche Produkte von Küchengeräten und Kochkursen zu CD-Labels und T-Shirts entwickelt. Mit einer Verzögerung von ein bis zwei Generationen hat Thoreau seinen Mentor Ralph Waldo Emerson eingeholt, ja überholt, indem er nicht nur wie jener zur Institution der elitären Hochkultur, sondern darüber hinaus auch zur Pop-Ikone avanciert ist. Neben den zahllosen Thoreau-Karikaturen, die offenbar nicht nur von Lesern des New Yorker goutiert werden, zeugt davon neuerdings auch ein (inzwischen mehrfach ausgezeichnetes) Computerspiel, mit dem das Walden-Experiment virtuell nachvollzogen werden kann.14

Wem diese Seite des Thoreau-Kults auf die Nerven geht, sei ein Besuch Concords empfohlen. Bei aller Kommerzialisierung hat sich das Städtchen ein erstaunliches Maß an Beschaulichkeit bewahrt. Neben Boston, Philadelphia und Gettysburg gehört es zu den großen Erinnerungsorten der USA; es war hier, an der über den Concord River führenden North Bridge, dass erstmals die Miliz der amerikanischen Kolonisten das Feuer auf reguläre britische Truppen eröffnete und jenen Schuss abfeuerte, der sich im Rückblick als Signal für den Unabhängigkeitskampf der USA und damit für eine Zäsur der Weltgeschichte darstellen würde. Wie es Emerson 1836 in seiner Hymne zur Einweihung des Denkmals an der Old North Bridge formulierte:

Here once the embattled farmers stood,

And fired the shot heard round the world.15

Damit ist ein Bezugsrahmen angedeutet, der zum Schluss kurz skizziert werden soll, lädt er doch zu einer ebenso aktuellen wie zwiespältigen Pointe ein. Ich habe Walden als Klassiker betrachtet und damit Vorstellungen von Überzeitlichkeit und Universalität verbunden. Nachzutragen ist die nationale, ja bis zu einem gewissen Grade nationalistische und gar (im positiven Sinne) lokalpatriotisch-chauvinistische Dimension des Buches. Thoreau bezog seine Hütte am 4. Juli – reiner Zufall, wie der Autor behauptet, aber selbst als Zufall ein bedeutsamer Fingerzeig: Thoreau versteht sich als Amerikaner, sein Experiment knüpft an jene Emanzipation an, für die im Kalender der USA noch heute Independence Day steht, in Erinnerung an den 4. Juli 1776, an dem die Gründungsurkunde der Vereinigten Staaten, die Declaration of Independence, unterzeichnet wurde. Thoreau als Amerikaner, Walden als Ausdruck eines amerikanischen Selbstbewusstseins – normalerweise mache ich um diesen Aspekt nicht allzu viel Aufhebens, gehört Walden doch längst zur Weltliteratur. Aber es gibt Zeiten, da kann man gar nicht genug Aufhebens darum machen, steht doch Thoreau mit seiner Biographie wie mit seinem Werk für ein nobles, anspruchsvolles und nicht zuletzt weltoffenes Amerika ein, das umso größeren Respekt verdient, als es seit einiger Zeit Tag für Tag in einen Morast primitiver Tweets ‚getrumpelt‘ wird.

Große Werke der Literatur XV

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