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I.

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Kurt Schwitters‘ künstlerische Tätigkeit hat einen doppelten Ursprung: zum einen in der expressionistischen Wortkunst von Herwarth Waldens seit 1910 erscheinender Zeitschrift Der Sturm, in der er seine ersten Gedichte veröffentlichte, zum andern im internationalen Dadaismus, dem er seit dessen Entstehen im Frühjahr 1916 in kritischer Distanz verbunden blieb. Dass ihn am Expressionismus v.a. die Wortkunst interessierte, ist kein Zufall, denn anders als die meisten Autoren dieser Strömung (von Georg Heym bis Georg Trakl), beschränkt sie die Konzentration des Ausdruckswillens nicht auf den semantischen Bereich (v.a. durch eine innovative Bildlichkeit und Bildkomposition), sondern unterwirft auch die Grammatik einer weitreichenden Transformation, um auf diese Weise ein Höchstmaß an Expressivität zu erzielen.1 Die damit einhergehende Befreiung des Gedichts vom Reimzwang und seine Neubegründung auf dem allein vom Inhalt her motivierten „notwendige[n] Rhythmus“ hatte bereits Arno Holz 1899 in seinem Essay Revolution der Lyrik gefordert und dabei von einer „neue[n] Wende der Wortkunst“ gesprochen.2 Diese Formel machten sich die Autoren des Sturm-Kreises zu eigen, um damit eine poetische Rede zu bezeichnen, die sich jenseits der sprachlichen Normen bewegt, indem sie die Regeln der Grammatik auflöst und die einzelnen Wörter als autonome Elemente behandelt, wodurch deren maximale Energie freigesetzt werden soll.3 Zur Veranschaulichung kann ein Gedicht August Stramms dienen, des entschiedensten Vertreters dieser Richtung des Expressionismus:

Trieb

Schrecken Sträuben

Wehren Ringen

Ächzen Schwächen

Stürzen

Du!

Grellen Gehren

Winden Klammern

Hitzen Schwächen

Ich und Du!

Lösen Gleiten

Stöhnen Wellen

Schwinden Finden

Ich

Dich

Du!4

Das seit dem Naturalismus literaturfähige Thema der Sexualität wird hier nicht einfach besprochen oder geschildert, vielmehr unternimmt Stramm den Versuch, die Dynamik des sexuellen Akts unmittelbar zum Ausdruck zu bringen, und zwar durch infinite, substantivierte Verben, die nurmehr lose auf die beiden Pronomina der ersten und zweiten Person Singular bezogen sind.5 Nicht intentionale Handlungen werden hier präsentiert, sondern ein weitgehend entpersönlichtes Geschehen, das die grammatische Korrelation von Subjekt, Prädikat und Objekt hinter sich zu lassen sucht.

Der Einfluss Stramms auf Schwitters‘ frühe Lyrik ist unbestreitbar, wie etwa das folgende Gedicht belegt, das im Juni 1919 im Sturm erschienen ist:

Ich werde gegangen

Gedicht 19

Ich taumeltürme

Welkes windes Blatt

Häuser augen Menschen Klippen

Schmiege Taumel Wind

Menschen steinen Häuser Klippen

Taumeltürme blutes Blatt6

Auch hier ist das dekompositorische Prinzip unübersehbar: Die Lockerung der Grammatik führt zu Wortisolierung und analoger Transformation von Substantiven in (in-)finite Verben („Häuser augen“, „Menschen steinen“), wobei jedoch die Subjektstellung des Personalpronomens wie auch die Folge von Substantiven und Verben, zusammen mit der Kombination von Adjektiven und Nomen, durchaus noch an die freie, multifunktionale Syntax traditioneller Lyrik erinnert – eine Ambivalenz, die auch für Schwitters’ späteres Werk von Bedeutung sein wird.7

Neben dem Expressionismus existiert eine zweite zeitgenössische Referenz, mit der Schwitters vornehmlich in Verbindung gebracht wurde und wird: der im Frühjahr 1916 im Zürcher Cabaret Voltaire aus der Taufe gehobene Dadaismus. Diese in vielem paradigmatische Avantgarde-Bewegung8 geht insofern deutlich über die Wortkunst hinaus, als sie die zentralen Konzepte der Ästhetik des 19. Jahrhunderts mit großer Konsequenz in Frage stellt: Autorschaft, Intentionalität, Werk, Sinn und die damit verbundene kontemplative Rezeptionsweise werden in der dadaistischen Performance und im Happening – freilich mit je unterschiedlicher Intensität – aufgelöst und in ein „optisch-akustische[s] Tohuwabohu“9 transformiert, bei dem die Unterscheidung zwischen Künstlern und Publikum nicht mehr zu greifen vermag. Peter Bürger, der diese ebenso destruktiven wie produktiven Tendenzen des Dadaismus in seiner Theorie der Avantgarde erstmals einer systematischen Analyse unterzogen hat, ordnet sie einem Willen zur „Überführung der Kunst in Lebenspraxis“ zu, der für ihn das Charakteristikum der Avantgarde-Bewegungen schlechthin bildet.10 Dementsprechend schreibt der niederländische Maler, Konstruktivist und zeitweilige Dadaist Theo van Doesburg in einem Text aus dem Jahr 1923: „Dada ist keine Kunstrichtung. Dada ist eine Richtung des Lebens selbst.“11 Umgekehrt gilt aber auch, nun gegen Bürger: Jede Lebensäußerung kann zum Teil eines Dada-Kunstwerks werden. Das belegen die dadaistischen Aktionen, indem sie alles, was auf der Bühne und jenseits davon geschieht, zu Kunst erklären, sodass das erboste Publikum nolens volens selbst zum wesentlichen Teil der Vorführung wird. In diesem Sinn beschreibt der Dadaist und Dada-Chronist Hans Richter einen Dada-Abend im Zürcher Cabaret Voltaire:

Klingeln, Trommeln, Kuhglocken, Schläge auf den Tisch oder auf leere Kisten belebten die wilde Forderung der neuen Sprache in der neuen Form und erregten, rein physisch, ein Publikum, das anfänglich völlig benommen hinter seinen Biergläsern saß. Dann wurde es aus diesem Zustand der Erstarrung in einem solchen Grade herausgetrieben, daß es in eine reguläre Frenesie der Beteiligung ausbrach. DAS war Kunst, das war das Leben, und das WOLLTE man.12

Diesem Programm scheint auch Schwitters‘ Konzeption eines Gesamtkunstwerks zu folgen, das er in mehreren Artikeln seit 1919 ausführt und das die Verbindung aller Künste (Musik, bildende Kunst, Literatur, Theater) realisieren soll, deren Trennung er als künstlich empfand.13 In einem dieser Texte schreibt er:

Ich fordere die restlose Zusammenfassung aller künstlerischen Kräfte zur Erlangung des Gesamtkunstwerkes. Ich fordere die prinzipielle Gleichberechtigung aller Materialien, Gleichberechtigung zwischen Vollmenschen, Idiot, pfeifendem Drahtnetz und Gedankenpumpe.14

Außer der für Dada typischen Kunstfähigkeit jeglichen Materials und der ebenso genuin dadaistischen Künstlerschaft jedes produktiven Apparates wird in Schwitters‘ Entwurf eines Gesamtkunstwerks auch deutlich, wo eine wesentliche Grenze zwischen ihm und dem Dadaismus verläuft: Im Gegensatz zu diesem hält er streng an der Trennung zwischen Kunst und Leben fest, sodass dieses letztlich – ganz im Sinne des jungen Nietzsche – nur als Kunst gerechtfertigt ist, diese sich jedoch nach wie vor deutlich von allem unterscheidet, was noch nicht oder nicht mehr Kunst ist. Schwitters vollzieht also die eine Bewegungsrichtung des Dadaismus – vom Leben zur Kunst – durchaus mit, verweigert jedoch die inverse Bewegung von der Kunst zurück ins Leben – und ist damit im strengen Sinn kein Dadaist. Dies war niemand bewusster als Schwitters selbst, der sich zeit seines Lebens, wenngleich ironisch, immer wieder vom Dadaismus abgegrenzt hat – gerade, weil er in der Öffentichkeit stets mit diesem identifiziert wurde: „Ich war Dadaist, ohne die Absicht zu haben, einer zu sein.“15

Trotz dieser, obschon ambivalenten, Distanzierung Schwitters’ vom Dadaismus als avantgardistischer Bewegung ist der werkästhetische Ursprung der Ursonate im dadaistischen Lautgedicht zu suchen. Über dieses schreibt Hugo Ball anlässlich des ersten Vortrags seiner Lautgedichte im Cabaret Voltaire in seinem Tagebuch: „Ich habe eine neue Gattung von Versen erfunden, ‚Verse ohne Worte’ oder Lautgedichte, in denen das Balancement der Vokale nur nach dem Werte der Ansatzreihe erwogen und ausgeteilt wird“.16 Zwar hat das Lautgedicht als ein zentrales Element moderner Materialästhetik durchaus einen prädadaistischen Ursprung,17 Hugo Ball fügt ihm jedoch eine für den Dadaismus wesentliche Dimension hinzu: die der ästhetischen Performativität. Als Ball seine ersten Lautgedichte vorträgt, erklärt er vorab, er verzichte „mit dieser Art Klanggedichte […] auf die durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Sprache“, ziehe sich „in die innerste Alchemie des Wortes zurück“ und bewahre so „der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk“.18 Er behauptet also, die Dichtung durch die vollendete Sinnlosigkeit ‚bewahren‘ zu können – tatsächlich entsemantisiert er die Worte so stark, dass es fast nur noch auf die Klanglichkeit ankommt. Balls Intention lag darin – die Rede von der „innerste[n] Alchimie des Wortes“ deutet es an –, die kommunikative Leistung der Sprache aufzuheben und zu einer Äußerungsform zurückzukehren, die „von keinerlei konventionellem Sinn bedingt und gebunden“19 ist. An ihre Stelle tritt eine Ausdruckssprache, die im Sinne von Walter Benjamins Sprachtheorie nicht etwas mitteilen, sondern benennen will.20 Durch die Destruktion der kommunikativen Sprachfunktionen will Ball also den „einzelnen Vokabeln und Laute[n] […] ihre Autonomie“ zurückgeben.21 Demgemäß spricht er von „magisch erfüllte[n] Vokabel[n]“, die beschwören und gebären, also im Akt der Benennung dasjenige, was benannt wird, hervorrufen.22

Die religiösen Bezüge des Lautgedichts kommen nicht zuletzt in der Vortragssituation zum Ausdruck. Für Ball ist Dichtung, zumal Lautdichtung, nicht „am Schreibtisch erklügelt“, sondern „für die Ohren lebendiger Menschen gefertigt“.23 Und so wurden Balls Texte von vornherein für den Vortrag vor Publikum geschrieben, aus dem dann oftmals ein großes Spektakel wurde. Als Ball seine ersten Lautgedichte im Cabaret Voltaire aufführte, trug er ein selbstgemachtes Kostüm mit Schamanenhut:


Abb.1: Hugo Ball beim Vortrag seiner Lautgedichte im Cabaret Voltaire

Die Form des Vortrags scheint hier noch durchaus improvisiert, wenn man Balls Beschreibung Glauben schenken darf:

Ich merkte sehr bald, daß meine Ausdrucksmittel, wenn ich ernst bleiben wollte (und das wollte ich um jeden Preis) dem Pomp meiner Inszenierung nicht würden gewachsen sein. […] Da bemerkte ich, daß meine Stimme, der kein anderer Weg mehr blieb, die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation annahm […]. Ich weiß nicht, was mir diese Musik eingab. Aber ich begann meine Vokalreihen rezitativartig im Kirchenstile zu singen […].24

Wie ernst man diese Beschreibung nehmen soll, kann offen bleiben. Wichtig ist jedoch zu betonen, dass Ball hier mit dem religiösen Kultus ein kulturelles Referenzsystem ins Spiel bringt, das für ihn als selbsternannten „magische[n] Bischof“25 offenbar nahelag, das jedoch nicht das einzig mögliche ist. Kurt Schwitters wird dieses religiöse Referenzsystem dezidiert nicht teilen, sondern – wie wir sehen werden – durch den profanen bürgerlichen Musikbetrieb ersetzen.

Große Werke der Literatur XV

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