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‚Effi Briests arme Schwestern‘

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Theodor Fontane: Cécile, Irrungen, Wirrungen, Stine

Hans Vilmar Geppert

für Gunther Gottlieb

Ein Text, ein ‚textum‘, das ist, wie der lateinische Name sagt, zunächst einmal ein ‚Gewebe‘, ein Gewebe wie Tweed beispielsweise, ein Gewebe aus vielen feinen, verschiedenfarbigen Fäden. Ein solcher ‚Text‘ käme der Erzählkunst Theodor Fontanes in der Tat recht nahe. Wenn man ein unifarbenes Kleidungsstück, einen dunkelblauen Pullover beispielsweise oder eine rostrote Krawatte gegen eine Tweed-Jacke hält – alles natürlich aus Schottland, das Fontane bekanntlich sehr liebte –, dann werden in dem vielfarbigen Gewebe blaue oder rote Muster sichtbar, die man ohne diesen Kontext vielleicht übersehen hätte. Lässt sich so vielleicht auch Literatur neu lesen?

Denn wenn Fontane in vielen Farben angelegte ‚Gewebe‘ aus feinen Fäden erzählt, dann hat der so gut wie zeitgleich um ihn her dominierende europäische Naturalismus eines Zola, Ibsen, Arno Holz, Hardy, Gissing oder Giovanni Verga oft etwas farbig Kräftiges, Drastisches und bewusst Provozierendes, ja Plakatives. Man setzte auf „Totalanschauungen“.1 Das war Fontanes Sache nicht. Aber hält man solche kräftigeren, eindeutiger geprägten und farbig expliziten ’Kon-Texte‘ gegen ein Textkorpus wie das Fontanes, so wie eben einen blauen Pullover gegen eine grau-beige-blaue Tweedjacke, es können Spuren und Fäden feiner Muster sichtbar werden, die gleichwohl klar konturiert hervortreten. Hier setzt mein Vortrag an. Denn so schließen sich vielleicht solche feinen, oft jedoch sehr deutlichen und kontrastreichen Spuren zu einem kohärenten Muster zusammen,2 das vielleicht, wenn ich so sagen darf, ‚Effi Briests arme Schwestern‘ wie ein Suchbild in den drei Erzählungen Cécile, Irrungen, Wirrungen und Stine sichtbar machen könnte. Denn was diese drei, ihrer Entstehung nach ineinander verschachtelten Texte verbindet, das ist, so meine heutige These, Fontanes ganz spezifische Auseinandersetzung mit dem Europäischen Naturalismus.

Fontane begann 1881 damit, die Erzählung Stine zu konzipieren und nieder zu schreiben. Doch ein Jahr später 1882 brach er diese Arbeit ab und begann die an Irrungen, Wirrungen. Auch hier machte er zwei Jahre später halt, um zwischen 1884 und 1887 Cécile kontinuierlich auszuarbeiten und abzuschließen. Wieder ein Jahr später schloss er 1888 Irrungen, Wirrungen ab, und noch einmal zwei Jahre danach lag schließlich 1890 Stine vor.3 Die drei nacheinander erschienenen Erzählungen rahmen einander also ihrer Entstehung nach ein. Die letzte ist zugleich die erste, die zweite die vorletzte, und so fort. Aber das macht die mittlere keinesfalls zum Zentrum. Cécile ist, was Konflikt und Milieu betrifft, gegenüber den anderen beiden Erzählungen, die sie einrahmen, eher ein exzentrischer, wenn man will, peripherer Teil dieser Trilogie. Wo das ‚Zentrum‘ dieses Textkorpus liegt und was die drei Erzählungen wesentlich verbindet, ist überhaupt gar nicht so leicht zu sagen. Hier setzt meine heutige These an. Denn so wie verschiedene Dessins und Schnitte gleichwohl bestimmte Muster gemeinsam haben können, die eigentlich erst ein mehr unifarbener fremder Text deutlicher sichtbar macht, könnte es dann so sein, dass die drei Erzähl-‚Texte‘, Erzähl-Gewebe: Cécile, Irrungen Wirrungen und Stine um so etwas wie eine ‚externe Mitte‘ kreisen: um Motive und Strukturen des europäischen Naturalismus?4

Große Werke der Literatur XV

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