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Die Suche nach dem Sündenbock

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Während das Motiv der Seuche als Strafe für die eigene Sünde die Schuld beim Individuum sucht, kann die Verantwortung auch auf andere übertragen werden. Dies hat zur Folge, dass der eigene Lebenswandel nicht in Frage gestellt werden muss. Obendrein birgt dies die Möglichkeit, durch Verfolgung bzw. Austreibung die Seuche selbst zu beseitigen.

Auch diese Denkfigur begleitet die Menschheit seit Jahrtausenden. Erinnert sei an die biblische Tradition, der zufolge am jährlichen Jom Kippur (= dem jüdischen Versöhnungstag) der Hohepriester die kollektiven Sünden Israels öffentlich vor dem Volk bekanntmachte. Dabei wurde ein Ziegenbock unter der Aufsicht eines Priesters in die Wildnis getrieben, wo ihn die Strafe Gottes heimsuchen konnte. Bezeichnenderweise wurden die Tiere später von einer hohen Klippe außerhalb Jerusalems gestürzt, um eine versehentliche Rückkehr in die Stadt auszuschließen. Die nicht nur im Alten Orient weitverbreitete Sitte, die eigene (kollektive oder individuelle) Schuld symbolisch einem anderen Lebewesen aufzulasten, ist eng mit dem Opfergedanken und somit letztlich auch der Selbstopferung Christi verbunden. Während hierbei aber die Übertragung von der eigenen zur Schuld des anderen symbolischer Art blieb, lag in Gesellschaften, welche Seuchen und sonstige Katastrophen vor allem moralisch deuteten, der Reflex nahe, die Schuld auch konkret bei anderen zu vermuten. Hierbei boten sich mehrere Möglichkeiten an.

Zum einen ließen sich ohnehin bereits gesellschaftlich ausgeschlossene bzw. marginale Gruppen als »Schuldige« ausmachen. In der Antike können etwa die Christen als Beispiel angeführt werden, welche nach dem Neronischen Brand Roms der Täterschaft beschuldigt und im Zirkus den wilden Tieren vorgeworfen wurden. Dabei wird im Bericht des Tacitus nur wenig Unterschied zwischen der unmittelbaren Täterschaft und einer mittelbaren Schuld gemacht. Auch die Antoninische Pest darf man möglicherweise mit Christenverfolgungen in Beziehung setzen. Aber am offensichtlichsten wird die Schuldzuweisung an eine Randgruppe bei den mittelalterlichen Pestausbrüchen, welche geradezu routiniert den Juden angelastet wurden und regelmäßig zu grässlichen Pogromen führten.

Auch hier sind die Parallelen zur Gegenwart offensichtlich. In Somalia, Uganda und Burkina Faso wird Berichten von Organisationen wie »Open Doors« zufolge christlichen Minderheiten explizit die Schuld an der Corona-Krise zugeschoben. Gleichzeitig wird dies zum Anlass genommen, die jeweilige Minderheit zu verfolgen. Durchaus vergleichbare Denkstrukturen zeigten sich aber auch in verschiedenen europäischen Ländern, als es zu Aggressionen gegen Chinesen kam, denen die Schuld an der Einschleppung der Pandemie nach Europa gegeben wurde. Ansätze einer »Tribalisierung« der Krisenbewältigung ließen sich ebenfalls nachweisen, als es etwa in Frankreich aus innen- und sicherheitspolitischen Gründen zu der Entscheidung kam, die Durchsetzung der Quarantäneregeln in den »Problemvierteln« der Großstädte nicht in demselben Maße zu prüfen wie anderswo im Land – ein Entschluss, der bis heute für böses Blut sorgt.

Zum anderen konnten Seuchen aber auch einzelnen Individuen angelastet werden, welchen eine unmittelbare persönliche Schuld an der Verbreitung der Krankheit zugeschrieben wurde. So kursierte während der Antoninischen Pest das Gerücht, einzelne Personen bemühten sich, aus der Situation Vorteile zu ziehen, indem sie Menschen heimlich mit kleinen, in Seuchenerreger getunkten Nadeln stachen, um so die Krankheit zu übertragen und von ihrem Tod (in welcher Weise auch immer) zu profitieren. Dass solche Berichte nicht immer ganz aus der Luft gegriffen sein müssen, zeigt etwa ein aus einem völlig anderen Kontext stammender Briefwechsel vom Juni 1763. Demnach hatten die Europäer einer Delegation der Lenni-Lenape-Indianer bewusst zwei Decken und ein Taschentuch aus dem Hospital des belagerten Fort Pitt gegeben, wo die Pocken wüteten.

Auch hier liegen die Parallelen zur Gegenwart und den verschiedensten, überall in Medien und Internet kursierenden Theorien nahe, welche die Schuld am Covid-19-Ausbruch wahlweise amerikanischen, chinesischen, russischen Geheimdiensten oder einflussreichen Persönlichkeiten wie etwa Bill Gates zuschreiben. Alle diejenigen, die in irgendeiner Weise als »Gewinner« der Krise angesehen werden können, werden aufgrund psychologischer Verkürzung auch als Verursacher betrachtet. Damit geht eine oft bedenkliche Personalisierung der Pandemieursachen einher. Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass einzelne Staaten, Gruppen oder Individuen bewusst Kapital aus der Krise schlagen können und auch den Verlauf zu beeinflussen trachten.

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