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III. Zum Status von Autor*innenschaft

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Dass seit mindestens 20 Jahren in den szenischen Künsten Produktionen exponentiell zugenommen haben, in denen die Texterzeugung nicht vor Beginn der Produktion, sondern entweder erst während des Probenprozesses (mit der Premiere) oder sogar durch die Öffnung zum Publikum hin erst im Aufführungsereignis selbst abgeschlossen wird, hängt mit verschiedenen Merkmalen aktueller künstlerischer Praxis zusammen, die keinesfalls über einen Kamm zu scheren sind: z. B. mit der (nicht mehr nur literaturtheoretischen, sondern auch praktischen) Neujustierung des Verständnisses von Autor*innenschaft, dem Bedürfnis, traditionelle Hierarchien in der Theaterarbeit aufzulösen, einem fluideren Sprachverständnis und einem erweiterten Begriff des Sozialen. Auf diese heterogenen Entwicklungen, die jeweils in größeren kulturellen Kontexten stehen, werden die folgenden Beiträge immer wieder Bezug nehmen, aber keine übergreifenden Erklärungsmuster anbieten. Vielmehr geht es um vielfältig perspektivierte Annäherungen anhand der jeweiligen Befunde. Gesagt sei aber doch, dass es sich bei der Offenheit des ästhetischen Prozesses im Gegenwartstheater (der formal an die künstlerischen Avantgarden und Neoavantgarden des 20. Jahrhunderts anschließt) auch um die Folge einer Öffnung des Blicks für heterogene gesellschaftliche Blickwinkel und Wirklichkeiten handelt. Mit dem Ende der Nachkriegszeit ab den Neunzigern, den von Globalisierung und Digitalisierungen entfachten Dynamiken wie z. B. der Verstärkung von Migrationsbewegungen und ihrer Wahrnehmung werden die in den szenischen Künsten vertretenen Perspektiven deutlich vielfältiger, intra- und transkultureller, transnationaler und polysexueller. An einem langjährigen Projekt wie dem der transnationalen Hamburger Gruppe Hajusom wird deutlich, wie wenig soziale Intervention und künstlerischer Anspruch einander ausschließen müssen.31 Ein Begriff wie »postmigrantisches Theater« weist darauf hin, dass die scheinbar neuen Perspektiven oftmals Zustände reflektieren, die in der Welt außerhalb der Theater schon lange gang und gäbe sind – nur noch nicht notwendig bei den szenischen Künsten und den von ihnen angesprochenen Gesellschaftssegmenten angekommen.32 Die Beiträge von Julia Prager und Katrin Trüstedt in diesem Band beleuchten die TogetherText-Dimension einiger der prominenten Arbeiten, die am Maxim Gorki Theater entstanden sind, das sich dieser Öffnung für den Normalzustand des Postmigrantischen und anderer oft immer noch marginalisierter Positionen so nachdrücklich verschrieben hat.

Kaum möglich scheint es, einheitliche Perspektiven auf eine sich nicht nur durch das Internet schnell verändernde Welt einzufordern. Die Zukunft bleibt – bestenfalls – offen. Die szenischen Künste öffnen sich und ihre Formen entsprechend, zumindest teilweise. Die TogetherTexte, um die es in diesem Band geht, stehen im Zeichen dieser Transformation. Der Beitrag von Stefan Tigges verweist auf die internationale Vorgeschichte gegenwärtiger Textentwicklungen seit den Sechzigern sowie ihre Weiterführung in der deutschsprachigen Freien Szene und auch im Stadttheater. Der Beitrag von Daniel Ladnar und Esther Pilkington rekonstruiert aus der Performance Art und ihren historischen Kontexten eine kleine Geschichte der Instruktionskunst, in der sprachliche Anweisungen szenisches Handeln des zum Kollaborateur gemachten Publikums generieren. Seit den Achtzigern touren im Zuge der Internationalisierung der Freien Szene und der Etablierung von Festivalstrukturen verstärkt Gruppen, die für die heutige künstlerische Praxis zu Bezugspunkten und Vorbildern geworden sind (wie The Wooster Group und Forced Entertainment).33 In der Gegenwart sind unterschiedliche Methoden eines Devised Theatre oder einer Collective Creation für die gemeinsame Erzeugung eines Skripts inklusive der Textentwicklung im Probenprozess auch an vielen jener Theaterakademien zu lernen, die in erster Linie für die traditionelle Stadttheaterstruktur ausbilden, welcher ein Festhalten an etablierten Mustern nachgesagt wird.34

Die Entwicklung (oder Reaktivierung) anderer Formen findet sich allerdings auch davon bedroht, neue gesellschaftliche Zwänge, die die szenischen Künste doch meist kritisch reflektieren wollen, zu reproduzieren: Die neoliberalen Zwänge zur Deregulierung und Flexibilisierung, die sich in den offenen Projektarbeitsformen manifestieren, gehen neben den größeren künstlerischen Freiheiten auch mit den entsprechenden prekären monetären Vergütungen sowie der zwischen den Projekten anfallenden und in nicht zu realisierende Projekte fließenden unbezahlten Arbeit einher.35

Für die gemeinsam produzierten Texte stehen nicht nur die Formen des gemeinsamen Arbeitens zur Disposition. Es stellt sich in Kontexten, in denen Eigentum und Urheberrecht gesetzlich verankert sind, auch die Frage, wem die aus dem Allgemeingut Sprache hervorgebrachten Texte gehören und ob sie überhaupt jemandem gehören können. Dass prozessual generierte TogetherTexte stets an traditionelleren Theatertextformen gemessen und in traditionelleren Strukturen verortet werden, ist, wie der Beitrag Christine Zintls und die von Anne Rietschel geführten Interviews am Anfang dieses Bandes zeigen, nicht etwa Ratlosigkeit geschuldet. Vielmehr sind Institutionen und Formate (wie z. B. die trotz aller literaturtheoretischer Debatten immer noch an individuelle Autor*innenschaft gebundene Buchpublikation) beharrlich; andere Formen entstehen daher oft in Opposition zu ihnen: in internen Freiräumen oder in ihrer langwierigen Transformation. Das strikt arbeitsteilige Produktionsmodell der staatlich finanzierten Bühnen im deutschsprachigen Raum, das die Positionen im Arbeitsprozess mit jeweils dafür qualifizierten Spezialist*innen besetzt, gemahnt viele Theaterschaffende zu sehr an industrielle Produktionsformen des 20. oder gar 19. Jahrhunderts und reproduziert zu viele alte Hierarchien und stereotype Selbstkonzepte, als dass aus ihnen aktuelle Perspektiven auf Kunst und Gesellschaft hervorgehen könnten: Ein*e Spezialist*in für Sprache (Autor*in) verfasst demnach einen dramatischen Text, der (überzeitliche) Wahrheiten über Mensch, Welt und Kosmos ausdrückt, die von einer szenischen Spezialist*in (Regisseur*in) mithilfe von Spezialist*innen der Texte (Dramaturg*innen) und der Darstellung (Performer*innen, Schauspieler*innen) auf eine Bühne gebracht wird, die ihrerseits von bildenden Künstler*innen nach Maßgabe der Regisseur*in eingerichtet wird. Das beschreibt zwar nach wie vor die übliche Praxis in vielen deutschsprachigen Stadttheatern, stößt aber in vielen Fällen gleich an mehrere künstlerische Grenzen. Die besonders empfindsame Subjektivität einer Autor*in, die sich genialisch oder unter Entbehrungen ins »Reich des Wahren« durchschlägt, die überlegen expressive Persönlichkeit einer Regisseur*in, die zeitgemäße Formen für diese Wahrheiten findet und die körperlich-stimmlich-mimetische Kraft einer Schauspieler*in, die dem tonlos geschriebenen Text emotionale Nuancen und Ekstasen entlockt und sie so einem atemlos rezipierenden Publikum vorführt – diese Auffassungen werden zunehmend nicht nur von Theaterschaffenden als bürgerliche Mythen und traditionelle Verbrämungen von alten Hierarchien und Besitzstandswahrungen abgetan: Kai von Eikels geht in seinem Beitrag auf die mit kooperativen Textentstehungsprozessen einhergehende Entthronung der Autor*innen ein. Gruppen und sich selbst als solche bezeichnende Kollektive gründen sich oft abseits der Institution Stadttheater und suchen nach anderen Formen der Verantwortung für ein künstlerisches Projekt – so auch der Texterzeugung.36

Im 21. Jahrhundert ist gemeinsame Texterzeugung ein gängiges Modell, das in der journalistischen Berichterstattung ebenso selbstverständlich ist wie in den Writers’ Rooms von Fernsehserien. Oft scheint hier eine Problematisierung geteilter Autor*innenschaft, wie sie für Kunst, Literatur und Theater immer noch gängig ist, nicht weiter dringlich. Hinsichtlich einer gemeinsamen Texterzeugung im Theater des 21. Jahrhunderts könnte man drei verschiedene Kategorien herausarbeiten, an denen sich der Aufbau des vorliegenden Bandes orientiert: In der ersten arbeiten z. B. Künstler*innen wie Falk Richter, René Pollesch, Milo Rau oder Yael Ronen. Sie alle beteiligen das Produktionsteam während des Probenprozesses ausführlich an der Erstellung des Textes. Mit der Premiere steht der Bühnentext weitgehend fest. In Einzelfällen wird auch nach der Premiere noch etwas verändert, aber am Ende gibt es eine Textfassung, auf der dann die Namen »Falk Richter«, »René Pollesch«, »Milo Rau« oder »Yael Ronen & Ensemble« als Urheber*innen genannt werden. Das Publikum trägt hier nicht aktiv zum aufgeführten Text bei.

In der zweiten Kategorie werden die Texte entweder durch ein Kollektiv oder durch eine Regisseur*in gemeinsam mit Laien oder thematisch Beteiligten in einem Probenprozess erzeugt, ohne dass hier eine individuelle Autor*innenschaft noch plausibel sein könnte, sodass die Positionen von Autor*in und Regisseur*in nicht im Einzelnen und in der genauen Gewichtung nachzuverfolgen sind. Hier wären z. B. Künstler*innen wie She She Pop, Gob Squad, Gernot Grünewald, Gintersdorfer/Klaßen, geheimagentur oder Monster Truck zu nennen. Auch hier trägt das Publikum in der Regel nicht zum gesprochenen Text bei.37 Eine Publikation ist teils möglich und wird sogar vorangetrieben, teils ist sie nicht von Interesse und ein niedergeschriebener Text im engeren Sinne liegt nicht notwendig vor.

Zur dritten Kategorie zählen z. B. Künstler*innen wie Christoph Schlingensief, die Gruppe Interrobang oder das Kollektiv SIGNA, die konzeptionell dafür sorgen, dass das Publikum den Text aktiv und maßgeblich miterzeugt. Hier endet die Texterzeugung nicht am Tag der Premiere, sondern erst mit dem Ende der letzten Show (SIGNA), dem letzten Partizipationsspiel (Interrobang) oder am Wahlabend (Schlingensiefs Projekt Chance 2000). Diese Namenslisten sind natürlich unvollständig, ließen sich selbstverständlich erweitern und können zudem in internationalen Kontexten verortet werden. Die Beiträge in diesem Band decken das gesamte Spektrum ab: Sie reichen von der sich als letzte Autorität in der Textentwicklung verstehenden, emphatischen Autorschaft Milo Raus, wie der Beitrag Martin Jörg Schäfers sie beschreibt, zu den das Problem der Autorität betonenden Fiktionen SIGNAs, in denen das Publikum in den eingespeisten Text verwickelt wird und dieser sich so zum jedes Mal anders erzeugten TogetherText auswächst. Dies rekonstruieren in ihrem Beitrag Anna Häusler und Tanja Prokić.

Die Prozessualität der Texterzeugung und (gegebenenfalls) die Mitwirkung von Laien oder des Publikums am gesprochenen Text tragen dazu bei, dass weitere Grundfeste eines sich als traditionell verstehenden Theaters infrage stehen: Sobald die Texte in einem gemeinschaftlichen Prozess erzeugt werden, stellt sich die Frage nach ihrer Autor*innenschaft. Das schließt ein: rechtliche (Urheber-, Persönlichkeits- oder Tarifrecht) und wirtschaftliche Aspekte (Honorar für den Theatertext, Erlös für den Abdruck, eventuell Tantiemen durch Nachspielen) ebenso ein wie institutionelle (Verantwortlichkeiten, Positionen, Disposition der Proben und Aufführungen, Gagen). Aber auch neue Einordnungen dessen, woher die Texte auf der Bühne kommen, werden nötig: Monika Gintersdorfer spricht in ihrem Beitrag von Live-Übersetzungen durch einen anderen Performer*innentypus (im Gegensatz zu Darsteller*innen) als texterzeugendem Prozess. Für Antje Pfundtner in Gesellschaft sind die Texte choreografiert und kompositorische Elemente ihrer Inszenierungen, während für Anja Kerschkewicz und Eva Kessler von Frauen und Fiktion die Performerinnen als Botinnen jener fremden Texte auftreten, die vorab im Kollektiv recherchiert wurden. Insofern Publikum mitwirkt, ist die Frage nach dem der Aufführung zugrunde liegenden Text nicht mehr eindeutig zu beantworten, mehr noch: Sie verliert oft ihren Sinn. Denn so wichtig der gesprochene Text als verbale Interaktion in SIGNAs Projekten oder etwa in Christoph Schlingensiefs Wahlkampfzirkus Chance 2000 ist, so wenig enthält er den Bedeutungszusammenhang des Ganzen.

Wenn der in einer Aufführung gesprochene Text wie im vorliegenden Band maßgeblich als ein TogetherText verstanden wird, also als prozessual und kooperativ beziehungsweise prozessual und agonal erzeugter Text, dessen Autor*innenschaft fraglich wird, liegt es nahe, auch die grundlegenden Begriffe von Sprache und Text auf den Prüfstand zu stellen.38 Dies geschieht etwa im Beitrag von Miriam Dreysse, die vom Angelpunkt der Autor*innenschaft an Julia Kristevas Intertextualitätstheorie anschließt, sowie im Beitrag von Karin Nissen-Rizvani, die von Michel Foucaults Theorie der Diskursivität und Ereignishaftigkeit von Sprache ausgeht.

Die potentielle Dokumentation eines ästhetischen Prozesses der Texterzeugung gestaltet sich umso komplexer je länger er andauert, je mehr Menschen an ihm beteiligt sind und je unklarer die Frage nach der Autor*innenschaft beantwortet werden kann. Wenn – wie bei den genannten Pollesch, Richter, Rau oder Ronen – der Prozess der Texterzeugung mit der Premiere im Wesentlichen abgeschlossen ist, kann eine Textfassung erstellt, veröffentlicht und mit den bekannten Methoden untersucht werden. Der Prozess hat am Ende ein identifizierbares Produkt hervorgebracht. Im Falle von Theaterkollektiven, die ein Projekt gemeinsam verantworten, insbesondere dann, wenn sie mit Laien beziehungsweise Expert*innen arbeiten wie Gernot Grünewald, Rimini Protokoll oder geheimagentur, wäre eine einheitliche Textfassung aus Sicht der Autor*innen teilweise nicht wichtig, weil es im ästhetischen Projekt vordergründig um die Herstellung sozialer Situationen geht. Sie wäre aber in jedem Fall urheberrechtlich umstritten. Wem »gehört« der Text der Laien oder Expert*innen? Sind sie am künstlerischen Projekt in derselben Weise beteiligt wie die Künstler*innen oder Kollektive? Sind sie Autor*innen oder liefern sie eher Material für das Theaterereignis? Müsste eine solche Textfassung mit abendlichen Varianten leben, wenn abweichende oder neue Geschichten erzählt werden? Vollends unmöglich wird die Dokumentation des Textes im Falle von SIGNAs Shows. Selbst wenn es gelänge, alle Sätze, die an allen verschiedenen Orten von allen Darsteller*innen und vom Publikum gesagt würden, zu notieren und zu sortieren, erhielte man keine Textfassung der Show, sondern nur eine Momentaufnahme eines Abends. Vergleichbar unmöglich verhielte es sich mit Christoph Schlingensiefs Wahlkampfprojekt Chance 2000. In beiden Fällen würde die prinzipielle Offenheit des erzeugten Textes dem Dokumentationsvorhaben entgegenstehen. Existierende filmische Dokumentationen von Christoph Schlingensiefs Chance 2000 zeigen, dass eher die Atmosphären, die Aktionen und die Erinnerungen an die Akteure dokumentiert wurden als das Theaterereignis und der Text als solches.39 1998 wurde ein Buch mit dem Titel Chance 2000: Wähle Dich selbst bei Kiepenheuer & Witsch veröffentlicht, bei dem Christoph Schlingensief und Carl Hegemann als Autoren agierten. In dem Band sind alphabetisch, lose sortiert Wahlkampftexte, Lieder, Definitionen gesammelt, die sprachliche Bruchstücke und dramaturgische Versatzstücke abbilden, jedoch (natürlich) kein Skript der acht Monate andauernden Produktion – und keine Archivierung der gesprochenen und ansonsten erstellten Texte in ihrem Wechselspiel mit den anderen szenischen und performativen Elementen.40

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