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IV. TogetherTexte innerhalb und außerhalb des Probenraums
ОглавлениеFür eine langfristige Beschäftigung mit den hier als TogetherText bezeichneten prozessualen Phänomenen ergeben sich vom analytischen Standpunkt aus vor allem drei Perspektiven: die Zugänglichkeit der betreffenden Texte und der Status dieser Quellen im Verhältnis zu den Prozessen, denen sie entstammen (Dokumentation), das Problem von Autor*innenschaft und Verantwortlichkeit in Teamstrukturen sowie deren Rekonstruktion (Autorisation), außerdem die Frage der Lesbarkeit und Deutung der dabei entstehenden Texte und des Zusammenhangs mit ihren szenischen Kontexten (Lektüre und Textanalyse). Alle diese Linien sind mit zahlreichen Unbekannten verbunden: z. B. mit einer oft konstitutiven Unzugänglichkeit der Texte, mit den performativen Verfahren und Artistic Research eigenen Formen,41 die sich mit guten Gründen gegen Explikation sträuben, mit der Nachträglichkeit der Zuschreibungen bezüglich der Arbeitsprozesse. Entsprechend setzen die in diesem Band versammelten Beiträge auf ganz unterschiedlichen Ebenen an: bei institutionellen und historischen Verortungen, bei künstlerischen Programmatiken, bei Texterzeugungsprozessen in Proben und mit Publikum, bei auf einer Bühne gesprochenen TogetherTexten, die von außen nichts von einer traditionelleren Theatertextvorlage zu unterscheiden scheint. Aus der Breite der Ansätze und Beispiele ergibt sich ein Blick auf den verschobenen Status von Text in den szenischen Künsten der Gegenwart.
Für nachhaltige akademische Herangehensweisen bieten sich zahlreiche Anschlusspunkte und Annäherungsmöglichkeiten über die sich seit den Zehnerjahren des 21. Jahrhunderts intensivierende Forschung zu Probenprozessen in den szenischen Künsten.42 Von deren Rekonstruktion oder gar der Einbettung in den Entwicklungsprozess als beteiligte Beobachter*in sind Einsichten auch in die Prozessualität der Textentwicklung zu erwarten. (Die Einblicke in die Notiz- und Skizzenbücher, die viele Künstler*innen während der Corona-Krise über ZOOM gewährten, scheinen hier für die nächste Zeit ein fruchtbares Quellenmaterial zu bieten.)43 Zu achten wäre hier darauf, den Prozess zumindest dort nicht zu privilegieren,44 wo das vorherrschende Dispositiv der szenischen Künste auf absehbare Zeit doch an einem Ergebnis orientiert ist – mag man es Aufführung, Performance oder Show nennen. In diesen sind Texte zu hören, manchmal zu sehen, manchmal werden sie währenddessen prozessual entwickelt. Wie diese Texte in sich und in ihrem szenischen Zusammenhang funktionieren ist mindestens ebenso wichtig wie der Prozess ihrer Entwicklung.
Zu fragen wäre immer nach dem Zusammenhang der beiden Ebenen, wie es zahlreiche Beiträge dieses Bandes tun. Handelt jede Stück- und Textentwicklung in der Erarbeitung und Probe doch auch das dramaturgische Prinzip aus, das der Aufführung, der Performance oder der Show letztlich ihre Struktur gibt.45 Für Rimini Protokoll etwa heißt das, um auf das einleitende Beispiel zurückzukommen: »Erst, wenn der Rechercheprozess beendet ist, wird klar, wonach gesucht worden ist«46. Auf ähnliche Weise muss für jede Produktion nach dem Status von Text und den besonderen künstlerischen Verfahren seiner Hervorbringung gesucht werden, im Probenprozess oder im Resultat oder in deren Wechselverhältnis. »Es kommt darauf an, wie die Texte entstehen«47, sagt René Pollesch 2005 zum damaligen Volksbühnen-Chefdramaturgen Carl Hegemann und ist sich sicher, dass diese Art der Entstehung sich in der Beschaffenheit des Texts niederschlagen wird. Produktionen aus den ersten 20 Jahren des 21. Jahrhunderts, insbesondere aus der Gießener und Hildesheimer Schule sind hier besonders dankbare Analyseobjekte, weil sie die Aufführung oft als eine Art Dokumentation der Probenarbeit begreifen und diese ebenso reflektieren wie oft sprachlich auf den Bauplan der vorgeführten performativen Anordnung verweisen. She She Pop nennen diese den Abend sprachlich erklärenden Passagen plastisch-plakativ »Erklärbären«48: Diese nehmen das Publikum mit in die immer auch sprachlichen Versuchsanordnungen, die eine She She Pop-Performance ausmachen.
In den Probenprozessen werden nicht zuletzt die Arten und Weisen verhandelt, mit denen eine Produktion sich zur Realität und zum Realen außerhalb der Proben einerseits in Verbindung setzt und andererseits von ihm abgrenzt. Prozessual erzeugte TogetherTexte in den szenischen Künsten entstehen nicht im luftleeren (Proben-)Raum, sondern in Anlehnung an und Differenz zu den vielfältigen Verfahren und Vorgängen der Texterzeugung außerhalb des Theaters und seiner Institutionen. An Sprache als einem sozial hergestellten und reproduzierten Material arbeiten sie sich ab, an den an diesem Sprechen hängenden Utopien ebenso wie an den Dystopien. Erneute Prominenz hat im 21. Jahrhundert das (romantisierende) Bild erlangt, mit dem Hannah Arendt in ihrer politischen Theorie Mitte des 20. Jahrhunderts gegen alle gerade vergangenen Katastrophen der modernen Gesellschaft und im Angesicht der aufziehenden Verwerfungen des Konsumkapitalismus ein demokratisches Gemeinwesen als szenischen TogetherText imaginiert: als eine Szene unserer sich ständig erneuernden Auftritte in sprachlichen Exponierungen vor den anderen. Über unsere Sprache enthüllen wir uns voreinander und verweben unsere Geschichten miteinander; das gemeinsame ›Herumtexten‹ wird so zur Verwirklichung einer nur in der Vielfalt des aneinander gerichteten Sprechens erreichbaren Autonomie.49 Demgegenüber sieht Paolo Virno Arendts Utopie in einer kapitalistisch durchgestalteten globalen Welt des beginnenden 21. Jahrhunderts in ein Schreckensszenario verkehrt: Unsere ständige Selbstpräsentation vor anderen in einem Dauerkommunikationsmodus, der nach ständig neuen Anschlüssen und Verbindungen sucht, erzeugt in erster Linie unseren Marktwert: ein ebenfalls szenischer TogetherText des gemeinsamen ›Herumtextens‹ als eines ökonomischen Zwangs, der jeglicher politischen Handlungsfreiheit verlustig gegangen ist.50 Die dunkle Seite dieses Zwangs zeigt sich im 21. Jahrhundert nicht zuletzt in der Zunahme der vielstimmigen, aber kaum je mehrstimmigen Sprachen des Ressentiments, der Phobien und der klar bestimmbare Grenzziehungen imaginierenden Phantasmen: in der Zunahme von sprachlichen Äußerungen, welche die bestehende Vielstimmigkeit mit ihren Brüchen, die Ausgesetztheit an die anderen und prozessuale Dimension, in der wir diese Ausgesetztheit verhandeln, schlicht verleugnet oder verwirft. Die prozessual erzeugten Texte der szenischen Künste der Gegenwart, um die es dem vorliegenden Band zu tun ist, sind nicht zuletzt Gegenentwürfe zu solchen Verleugnungen und Verwerfungen – auch und gerade dort, wo sie sie überspitzen und manchmal ad absurdum führen.