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ОглавлениеSHOWCASE IM SPLITSCREEN VIDEOBOTSCHAFTEN AN DIE DOMINANZKULTUR
Michael Annoff und Nuray Demir
DAS FREIE THEATER WAR SCHON IMMER IM LOCKDOWN
„Gimme my check, put some respeck on my check Or pay me in equity, pay me in equity Or watch me reverse out the debt“
APES**T, The Carters (2018)
Frühjahr 2020: Das Theater muss zu Hause bleiben. Auf eilig einberufenen Zoom-Konferenzen fängt es an, sich Sinnfragen zu stellen: Wie kann ich die Kunst der Begegnung und der Versammlung bleiben? Wie bleibe ich ohne öffentliche Orte lebendig? Was kann ich tun, um aus der Krise eine Chance zu machen?
Viele Theatermacher*innen erleben den pandemischen Lockdown als ein einschneidendes Ereignis. In der Quarantäne ist ihrer Arbeit die Grundlage genommen. Eingesperrt im Homeoffice eröffnet sich der Raum, nach der Zukunft ihrer Zunft zu fragen. Zwischen iMac und Yogamatte übt die kreative Klasse den Spagat zwischen Panik und Utopie. Wird der Kunst der Geldhahn zugedreht oder macht Not erfinderisch? Entsteht endlich ein postmigra … äh, -digitales Theater, das neue Publikumsgruppen viral erschließt? Das Leben muss irgendwie weitergehen. Was für viele Theatermacher*innen eine neue Erfahrung darstellt, ist für Andere schon lange Alltag: Die Grenzen sind dicht. Auf der Straße zu stehen und von der Polizei angesprochen zu werden. Bürgerliche Freiheit, aber kein Zugang zu bürgerlichen Institutionen. Depressiv, aber keine Therapie.
Im Jahr 2018 haben lediglich zehn Prozent der Menschen in Deutschland wenigstens einmal eine öffentlich geförderte Kulturinstitution besucht. Kann es sein, dass das Freie Theater für die Mehrheit der Menschen schon immer im Lockdown gewesen ist? Liegt es vielleicht daran, dass sich das Theater und sein Publikum schon lange vor Corona in Social Distancing geübt haben? Im Mai 2020 sind „systemrelevante“ Lohnarbeiter*innen längst wieder bei der Arbeit und schieben sogar Doppelschichten. Oder haben in Kurzarbeit andere Sorgen als Kulturbesuche. Offensichtlich erleben die Insider*innen des Freien Theaters den Lockdown viel dramatischer als ihre Nicht-Besucher*innen. In der Stille der Heimarbeit erwachen alte Audience-Development-Träume, in denen neue Besucher*innengruppen gewonnen werden, ohne dass man sich selbst ändern muss.
Das Theater wird aber nur dann gestärkt aus der Krise hervorgehen, wenn es von vorne beginnt: bei seinem Programm und seinen Dramaturgien. 2018 drehten The Carters ihr „APES**T“-Video im Louvre und hatten schnell mehr Klicks als das Museum im ganzen Jahr Besucher*innen. Mona Lisa musste sich wie ein in die Jahre gekommener Stummfilmstar mit einer Statistinnenrolle begnügen. Traurig lächelnd schaute sie aus dem Hintergrund der Selbstkrönung einer Schwarzen Künstlerin zur Queen of Pop zu. In der Krise 2020 gehen TikTok-Tänze durch die Decke. Die Zuschauer*innenzahlen der Lockdown-Programme deutschsprachiger Kulturinstitutionen dümpeln jedoch im zweistelligen Bereich. Aus Millionen Menschen sind längst selbst mediatisierte Performer*innen geworden. Das Theater hat also nicht nur seine auratischen Aufführungsorte verloren, es muss auch noch auf denselben Plattformen wie falcopunch (mehr als acht Millionen Follower) und youneszarou (fünf Millionen Follower) um Aufmerksamkeit buhlen. Während die Lai*innen- und Alltagskultur in den ersten Tagen einen fulminanten Kreativitätsschub erlebt, dackelt die „Hochkultur“ mal wieder hinterher: Wozu Balkonkonzerte kuratieren, wenn die sich in vielen Nachbarschaften wie von selbst organisieren?
SZENEN EINER GESPALTENEN GESELLSCHAFT
„Die meiste Zeit sitzen wir in einem oder zwei Zimmern und arbeiten, während jeder uns zur Verfügung stehenden Sekunde. In fünf Jahren, erzählt mir jemand im Internet, wird es ein Drittel aller US-Amerikaner wahrscheinlich genauso machen: als Online-Freelancer freiberuflich und allein arbeiten.“ „Die Selbstsucht der anderen“, Kristin Dombek (2014)
Analoge Aufführungen fallen aus, die Theaterbühnen bleiben zu. In der unfreiwilligen Spielzeitpause wird frisch gestrichen, renoviert und Inventur gemacht. Die Programmverantwortlichen erproben zu Hause neue digitale Formate: Online-Inszenierungen und kontaktloses Theater, Live-Chats und Zoom-Panels, Screen-Sharings und Streams der guten alten Aufzeichnung von der Standkamera aus der letzten Reihe. Theater für alle (mit stabiler Internetverbindung). Die „neue“ Ästhetik des Splitscreens wird anscheinend zum Sinnbild der gesellschaftlichen Verhältnisse. Im Lockdown werden Wohnarbeitszimmer zum Guckkasten neuer Inszenierungsformen, die die Grenzen von Privatem und Professionellem verwischen lassen. Das Gegenwartstheater versammelt seine Akteur*innen in kleinen Kacheln unterteilt auf der Bühne des Screens. Auf allen Kanälen dasselbe Spiel: Dramaturg*innen und Künstler*innen beraten vor ewig gleichen Altbaukulissen, was zu tun ist. Hier und da ein Requisit bürgerlichen Dekors, aber irgendwie ironisch in Szene gesetzt. Weißer Stuck rahmt das Ganze.
Im Lockdown sind die Theatermacher*innen wie so viele in der Gesellschaft einer Illusion erlegen: dass sich in der Bedrohung durch einen pandemischen Virus alle in der gleichen Situation befinden. In der Krise tritt die Digitalisierung plötzlich wieder in ihrer alten Paraderolle auf, in der sie seit Mitte der 1990er Jahre niemand mehr sehen wollte: Sie darf noch einmal darbieten, dass das Internet eine grandiose Demokratiemaschine wäre. Und so verhüllt der Splitscreen im Freien Theater und anderswo seinen Apparat, der alte Ungleichheiten wiederholt und vergrößert. Die digitalen Formate und Dramaturgien sind Teil dieser Illusion, weil die Kacheln den Eindruck erzeugen, dass alle Akteur*innen wirklich den gleichen Background hätten.
Festangestellte Dramaturg*innen müssen den Apparat notgedrungen am Laufen halten. Die Risiken und Belastungen eines abrupt veränderten Bedarfs werden aber an die freischaffenden Künstler*innen outgesourct. Obwohl die Künstler*innen auf Ausfallhonorare hoffen und warten, machen viele Institutionen neue Rechnungen auf: Auch digitale Formatentwicklungen kosten Geld.
Die Neuerfindung des Theaters findet unter ungleichen Bedingungen statt. Während die großen Institutionen noch auf die Bedeutung der Kunst für Gesellschaft beharren, kratzen die Künstler*innen die nächste Miete zusammen. Und auch wenn Soli-Kampagnen so mancher Häuser Straßenzüge und Newsfeeds zieren, verschlimmert so manche kuratorische Idee die Ungleichheit in prekären Verhältnissen noch mehr. Die strukturelle Unterfinanzierung des Freien Theaters müssen nach wie vor vor allem die Künstler*innen aushalten und zugleich flexibel auf die Anfragen des digitalen Notprogramms reagieren.
Der Umbau des Apparats führt dazu, dass alte Illusionen weitergesponnen werden. Viele Programme erweckten vor der Krise den Eindruck, ihre Positionen und Perspektiven für ein breites Publikum in der postmigrantischen Gesellschaft zu diversifizieren. Was aber ausblieb, war bisher eine nachhaltige Veränderung des institutionellen Apparats, der vermehrt migrantisierte Künstler*innen auf die Bühne brachte. Die Institutionen werden bis heute vor allem von sozial privilegierten Theatermacher*innen betrieben. Insbesondere diskriminierte Künstler*innen müssen zur gleichen Zeit bangen, endgültig aus dem Spiel geworfen zu werden.
POSTMIGRANTISCHE PERSPEKTIVEN
„Voodoo, I can do what you do, easy“
Ready or not, The Fugees (1996)
Im Lockdown nimmt sich das Theater ganz viel vor. Auf seiner To-do-List steht: Nach der Krise muss ich die Kunst sein, die die postmigrantische Gesellschaft bei sich im Publikum versammelt. Tage und Wochen vergehen, und plötzlich ist so viel zu tun, dass das Theater vergisst, was früher schiefgelaufen ist. Es verzettelt sich mal wieder, denn schon vor der Krise hätte es besser mehr getan, als nur migrantisierte Künstler*innen in sein Programm zu integrieren. Auch wenn heute viel öfter von postmigrantischem Theater und Diversität die Rede ist, tun viele Institutionen so, als ginge es noch immer darum, sich „interkulturell zu öffnen“. Es geht aber nicht um die Bereitschaft weißer Dominanzkultur, sich selbst migrantisierte Positionen zur Seite zu stellen. Stattdessen müssen Institutionen lernen, dass sie keine Bollwerke sind, sondern flexible Systeme von Öffnung und Schließung. Theater muss lernen, seine Apparate ständig auseinanderzunehmen und neu zusammenzubauen, kaum dass sie zu laufen beginnen. Nachdem Deutschland jahrzehntelang seine Realität als Einwanderungsland verpennt hat, geht es nicht allein darum, bisher ausgeschlossene Akteur*innen, ihre Geschichte(n), Formate und Dramaturgien hereinzulassen. Ein postmigrantisches Theater ist nicht nur sein „diversitätssensibles“ Programm, es muss eine Institution sein, die sich kontinuierlich darauf vorbereitet, diejenigen am Apparat zu beteiligen, die in Zukunft noch dazukommen wollen.
Wenn das schon der Fall wäre, würde das Theater des Lockdowns vielleicht ganz anders aussehen. Das situierte Wissen von 70 Jahren Migrationsgeschichte(n) hätte Eingang in die Theaterarbeit gefunden. Denn lange bevor das Theater online ging, gab es schon Millionen Expert*innen für Homevideos in Deutschland. Mit Kassettenrecordern und Videokameras produzierten sogenannte Gastarbeiter*innen und ihre Familien schon mit modernsten Kommunikationstechnologien, als in weißen Amtszimmern noch von „Ausländerkulturarbeit“ die Rede war. Da wurden quer durchs Wohnzimmer bombastische Bühnenbilder gebaut, auf der Tanzbühne im Kinderzimmer probierte das Ensemble, und in der Küche schrie die Chefdramaturgin den Intendanten an. Wer solche Meisterwerke kennt, die als Kassetten- und Videobriefe an weit entfernte Verwandte und Freund*innen verschickt wurden, kann im Lockdown der Theater nur müde gähnen. Bereits 2004 analysierte Fatima El-Tayeb: „Das jüngste Medieninteresse an der ‚zweiten Generation‘ scheint kaum mehr als eine erneute Objektifizierung, eher hippes Saison-Thema als echtes Interesse an den Lebensumständen dieser neuentdeckten Gruppe.“ Stattdessen ist die Postmigrantisierung des Freien Theaters bereits vor der Pandemie ins Stocken geraten. Der Erfolg von Identitätspolitiken ist in ein kuratorisches Paradigma übersetzt worden, über das die Institutionen der Dominanzkultur die Sichtbarkeit marginalisierter Künstler*innen verwalten.
Dieses Paradigma führt dazu, dass eine marginalisierte Gruppe nach der anderen zum neuen Subjekt der Emanzipation ausgerufen wird, nur um dann nach einer Weile von einer anderen ersetzt zu werden. Die Subjekte antidiskriminatorischer Kämpfe werden in den Spielplänen so schnell ausgewechselt und neu besetzt, dass sie kaum strukturell wirksam werden können: Queers vs. Kanaks vs. Crips vs. Climate. In den Konjunkturen identitätspolitisch informierter Programme werden diejenigen zur Verfügungsmasse (eher) privilegierter Kurator*innen, die die gerade aktuellen Marginalisierungsdiskurse notgedrungen glaubhaft verkörpern.
Zu Beginn des Lockdowns war im Theater und darüber hinaus plötzlich von Solidarität die Rede. Doch schon jetzt ist Skepsis erlaubt. Nach den ersten Geldspritzen und Sofortmaßnahmen scheint es so, als sollten vor allem die Ungleichheitsmaschinen intakt gehalten werden. Ob die Erfahrung der Pandemie tatsächlich dazu beiträgt, dass Solidarität über Identitäten und Interessen hinaus mehr ist als eine flüchtige Illusion, bleibt abzuwarten.
Michael Annoff arbeitet ethnografisch, kuratorisch und vermittelnd. Nach dem Studium der Volkskunde/Kulturanthropologie war Michael an der Graduiertenschule der Universität der Künste tätig und lehrte dort im Studium Generale. Seit 2016 akademische Mitarbeit für Kultur & Vermittlung im Studiengang Kulturarbeit der FH Potsdam. Michael hat 309 Freund*innen auf Facebook.
Nuray Demir arbeitet künstlerisch, kuratorisch und choreografisch in den visuellen und performativen Künsten. Nach dem Studium der Freien Kunst realisierte Nuray Projekte auf Kampnagel, in den Sophiensælen, dem Hebbel am Ufer in Berlin und bei den Wiener Festwochen. Seit 2019 ist sie Teil der künstlerischen Leitung von District*Schule ohne Zentrum. Nuray hat 261 Follower auf Instagram.
Seit 2018 entwickeln Michael und Nuray gemeinsam „Kein schöner Archiv“. Es dokumentiert das immaterielle Erbe der postmigrantischen Gesellschaft und wäre 2020 Teil der Impulse-Akademie gewesen. Ab August 2020 ist „Kein schöner Archiv“ ein Jahr lang mit „Unfassbare Geschichte(n)“ zu Gast im FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum. „Kein schöner Archiv“ hat 252 Likes auf Facebook.