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WWW.WASSOLLDASTHEATERIMINTERNET.DE WAS MACHT EIN INKLUSIVES THEATERKOLLEKTIV IN PANDEMIEZEITEN? HOMEOFFICE?

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Meine Damen und Herren

Am 11. März feierten wir auf Kampnagel im großen Team aus Theaterschaffenden mit und ohne Behinderung die Premiere von „Die Stadt bin ich“. Eine Woche später war die Stadt leer gefegt und unsere „Stadt“ gut verpackt im Fundus.

Direkt aus unserer gewohnten Struktur einer Theaterproduktion sind wir in den Shutdown gefallen. In der ersten Zeit waren wir damit beschäftigt, unsere Situationen zu klären: Wer ist wo „untergekrochen“? Geht es allen soweit gut? Wie können wir weiterhin zusammenarbeiten und mit allen in Kontakt bleiben? Denn die Voraussetzungen für virtuelle Treffen mussten wir zunächst erst herstellen: Geräte und Software besorgen, den Umgang damit erklären und ohne real anwesende Assistenz üben. Einige von uns besitzen weder Smartphone noch Computer – sehr viele haben noch nie zuvor eigenständig an einer Videokonferenz teilgenommen. Neben den technischen Aspekten gibt es viele Verfahrensfragen, wie wir ein digitales Ensemblemeeting inhaltlich produktiv und für alle zufriedenstellend gestalten.

Auf anderen Ebenen verlief die digitale Zusammenarbeit aber auch sehr schnell und unkompliziert. In unserem Netzwerk barner 16 haben wir per E-Mail, Sprachnachricht oder Handyvideo diverse Videos produziert und eine neue Hörspielreihe gestartet. Das ist uns wichtig: Unsere Stimmen bleiben so erst einmal hörbar.

Wir lernen:

Corona verschärft auch bei uns Ungleichheiten – innerhalb des Ensembles sowie zwischen uns und anderen Gruppen. Einige gehen virtuos mit ihrem Smartphone um, andere haben keinerlei eigenständigen Zugang zum Internet.

Wir haben viel Neues gelernt, von dem wir zukünftig profitieren können. Allerdings müssen wir uns im ersten Schritt sehr intensiv mit Dingen beschäftigen, die für viele Menschen ganz selbstverständlich erscheinen, und verlieren so Zeit, die wir nicht für anderes – ob Kunst, Interessensvertretung oder Selbstfürsorge – nutzen können.

Melanie Lux erzählt: „Wenn wir nicht mehr live miteinander proben können und jetzt zu Hause arbeiten – im Homeoffice, wie finde ich das denn? Also: Ich habe meine gewohnte Umgebung, ich kann besser nachdenken, kann Filmchen zwischendurch drehen und an meine Kollegen schicken, kann mit euch in einer Videokonferenz sein und alle sehen und sprechen. Ansonsten gab es ja das Kontaktverbot, und ich wohne allein. Da fällt mir auch die Decke auf den Kopf – mir fehlt das, ihr alle in echt, in unserer gewohnten Umgebung …“

Unsere produktive Kraft ist die Spontaneität. Wir inspirieren und helfen uns im direkten gegenseitigen Austausch – wie Melanie beschreibt: in echt.

Die gemeinsame Anwesenheit an einem Ort ist allerdings nicht nur für unseren Arbeitsalltag wichtig. Auch in unseren Stücken sind körperliche Präsenz und die Atmosphäre im Raum von großer Bedeutung. Gerade auch weil Sprache für einige von uns mit Barrieren verbunden ist und wir daher verschiedene Kanäle für Kommunikation und Verstehen nutzen.

Als Theater der Tat – auch im Konzeptions- und Probenprozess, mehr als ein Theater des Wortes – haben wir bislang noch nicht digital miteinander gespielt beziehungsweise performt.

Jetzt erst, nach zweieinhalb Monaten, haben wir die Voraussetzungen dafür geschaffen. Wir sind produktiv, ohne Frage, aber langsam. Wir haben unsere letzte Produktion ausgewertet, ein regelmäßiges Körpertraining organisiert und den Versuch unternommen, diesen Text gemeinsam zu schreiben. Dabei haben wir besprochen, wo Chancen oder Risiken für Menschen mit Behinderung oder uns als Gruppe liegen, wenn sich das Theater verstärkt ins Internet verlagert. Die Schwierigkeit an diesem Gespräch war allerdings: Die meisten hatten noch keines der digitalen Formate gesehen. Unter anderem auch weil bislang bestehende Angebote zumindest für viele von uns nicht barrierefrei – im Sinne von gut auffindbar und verständlich – sind. Insofern werden wir eine Antwort auf die Frage, wie wir das „Theater im Internet“ bewerten oder welche Formate wir uns dafür ausdenken könnten, erst in der Zukunft erhalten, wenn wir einen Weg gefunden haben, dies selbst auszuprobieren und zu reflektieren. Menschen, die ansonsten mit der mangelnden Barrierefreiheit „echter“ Theaterhäuser kämpfen, aber sich ohne Barrieren im Netz bewegen, sehen digitale Theaterformate vielleicht positiver als wir. Was als Chance oder Risiko gilt, hängt maßgeblich davon ab, wen man fragt. Und von den Alternativen – was, wenn ein Livestream auch nach der Pandemie den echten Besuch einer Vorstellung ersetzen soll?

Einige von uns benötigen gerade alle Kraft, ihren Alltag zu bewältigen, andere schreiben in einer Geschwindigkeit neue Stücke, dass einem schwindelig wird. „Ein Mantel, nein, ein ganzer Mensch, eingekleidet in Mund-Nasen-Schutzmasken – aneinandergenäht“, antwortet Dennis Seidel auf die Frage, wie er ein Kunstwerk zum Thema „Schutzkonzept“ gestalten würde. Er selbst schreibt und spielt bei sich zu Hause, macht Musik, entwickelt Soloperformances mit Meerschweinchen und denkt an Live-Übertragungen aus seinem Zimmer. Er und auch Friederike Jaglitz betonen, dass der Vorteil dieser Arbeit sei, dass man seine Ruhe habe: Niemand redet einem rein oder macht Bemerkungen über das, was man tut. Allerdings kann das Erarbeitete auch mit Niemandem direkt besprochen werden, nicht persönlich. Die fehlende Resonanz der Zuschauenden bemängeln viele Gruppenmitglieder.

Ein weiterer Aspekt des Theaters in Zeiten der Pandemie beschäftigt uns:

Kunst greift tagesaktuelle Themen auf. Zum Beispiel die Frage der Triage – wer bekommt die notwendige ärztliche Unterstützung, wenn die Ressourcen nicht ausreichen? Gerade jetzt wäre es wichtig, die Perspektive von Menschen mit Behinderung sichtbar zu machen, die hiervon ganz direkt bedroht sind, dazu jedoch kaum gehört werden. Aber wie können wir solche Themen besprechen, erklären, uns ihnen stellen, wenn wir einander nicht berühren, nicht trösten können? Und wenn wir die Auswirkungen von dem, was wir sagen, nicht an den feinen Reaktionen unseres Gegenübers ablesen und unser Verhalten darauf abstimmen können?

Wenn die Kunst im digitalen Raum stattfindet (und sich zudem Rahmenbedingungen und der gesellschaftliche Kontext täglich verändern), steigen Tempo und Anspruch an Aktualität. Damit Schritt zu halten fällt uns schwer. Und wir sind vor allem dann langsam, wenn wir wirklich als Gruppe weitergehen und nicht einige, zum Beispiel diejenigen ohne Internetzugang, zurücklassen wollen. Hier ist das Theater im digitalen Raum für uns eher Risiko als Chance.

„Ein Objekt aus Palmen aus vielen Farben, die Palmen aneinandergebunden. Ein Reetdach, eine Tür, ein Häuschen mit Fensterchen, durch die man durchluschern kann. Wir können uns da hinein verkriechen, wenn wir Schutz brauchen. Das Dach kann man öffnen, um Sonne zu tanken“, beschreibt Lina Strothmann ihr Schutzkonzept-Kunstwerk. Im Gegensatz zu Linas Palmenschutzraum können wir unsere Räume nicht eigenständig nach Bedarf öffnen. Wir sind einerseits freie Gruppe und andererseits Teil einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Einige von uns haben ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf. Zu den Regeln, die allgemein für die Theaterarbeit gelten, kommen so noch weitere Vorgaben hinzu, die uns auf absehbare Zeit eine noch stärker eingeschränkte (Proben-)Arbeit erlauben, Dienstreisen (= öffentliche Auftritte) sind untersagt. Es zeichnet sich ab, dass der Theaterbetrieb ab Herbst weitgehend ohne die Beteiligung von Künstler*innen mit Behinderung hochgefahren wird. Jedenfalls ohne uns.

Also werden wir in unserem Tempo neue Formate und digitale Performances entwickeln und versuchen, trotzdem sichtbar zu bleiben. Wir hoffen, dann noch ein Publikum zu finden, das sich neben einem realen Theaterbesuch auch für Theater im Netz interessiert. Und vor allem hoffen wir auf eine „Rolle vorwärts“ – um die inklusive Öffnung des Theaterbetriebs mit Impulsen aus dem Lockdown wieder in Schwung zu bringen.

Meine Damen und Herren ist ein inklusives Theaterkollektiv aus Hamburg. Seit 1996 arbeiten hier Schauspieler*innen mit sogenannter geistiger Behinderung. Aufführungsorte sind u. a. Kampnagel in Hamburg sowie das Forum Freies Theater in Düsseldorf. Das Team dieses Artikels besteht aus Katharina Bromka, Lis Marie Diehl, Josefine Großkinsky, Friederike Jaglitz, Melanie Lux, Tom Reinecke, Dennis Seidel, Paula Stolze, Lina Strothmann, Martina Vermaaten.

Lernen aus dem Lockdown?

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