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Formierung. Mobilisierung von rechts (um 1968)
ОглавлениеDie Formierungsphase eines radikalen Nationalismus innerhalb des bundesdeutschen demokratischen Systems liegt in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Die Nationaldemokraten (NPD) hatten sich als Sammlungsbewegung gegründet, die nationalkonservativen und rechtsradikalen Gruppen eine gemeinsame politische Heimat bieten, sich von neonazistischen Parteigründungen abgrenzen und so breitere Bevölkerungskreise erreichen wollte. »Deutschland den Deutschen«, dieser mit dem Zusatz »Ausländer raus!« nach der Vereinigung so oft geschriene Slogan, hat seinen Ursprung in dieser Zeit. »Deutschland den Deutschen – Europa den Europäern« war 1964 das Manifest der Partei überschrieben. Damit protestierte die NPD gegen die »Fremdherrschaft« der Besatzungsmächte, gegen Reeducation und den vermeintlichen Zwang zu Wiedergutmachung und Entschädigung.
Tatsächlich gelang der NPD eine bis dahin vergleichslose Breitenwirkung: Bei den Landtagswahlen konnte sie hohe Stimmgewinne verzeichnen, 1968 erreichte sie in Baden-Württemberg mit 9,8 Prozent ihr bestes Ergebnis. Zwar scheiterte sie bei der Bundestagswahl 1969 mit 4,3 Prozent knapp an der Fünf-Prozent-Hürde, bis 2017 aber kam keine Partei rechts von der Union dem Einzug in den Bundestag näher. Dass das gelang, lag an einer Gemengelage von Faktoren.
Erstens erlebte die Bundesrepublik 1966/67 eine erste, wenngleich noch recht harmlose ökonomische Flaute, die der Bevölkerung gleichwohl zu Bewusstsein brachte, dass stetes Wirtschaftswachstum kein Naturgesetz war. Seitdem und bis heute ist die Instrumentalisierung wirtschaftlicher Abstiegsängste ein wesentliches Erfolgsrezept rechter Politik.
Zweitens gingen CDU/CSU und SPD erstmals eine große Koalition auf Bundesebene ein, der vormalige baden-württembergische Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger wurde deren Kanzler (und von rechtskonservativen Wählern und Wählerinnen im »Ländle« sicher auch dafür abgestraft). Die Große Koalition wie die weitere Volksparteiwerdung der CDU ließen Raum für die politische Mobilisierung von rechts. Hinzu kam eine Wahlkampfstrategie, die dicht an den Menschen blieb und dort Präsenz zeigte, wohin die etablierten Parteien sich nicht (mehr) verirrten: in die ländlichen Räume, wo die NPD wirksam Wahlwerbung an Haustüren und in Kneipen machte.
Drittens riefen der politische Wandel, die gesellschaftliche Liberalisierung und die Entwicklung einer linken Jugend- und Protestkultur mehr oder weniger radikale Gegenreaktionen hervor.
Die ersten breiteren Mobilisierungserfolge gründen also in einer Mischung von ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen und Krisenerfahrungen seit Mitte/Ende der sechziger Jahre. Dabei passte sich die Rechte auf ambivalente Weise an die bundesdeutsche Nachkriegsdemokratie an, indem sie sich zunehmend als deren immanente Opposition und bessere Alternative gerierte. In diesem Prozess versuchte die NPD, Traditionslinien zum Nationalsozialismus strategisch zu kappen und neonationalsozialistische Gruppen in ihren Reihen gleichzeitig auszuschließen und zu integrieren – eine widersprüchliche Strategie, die die AfD noch heute verfolgt. Es sei eine »Grundsatzentscheidung der NPD« gewesen, »zugleich als legale Partei und als Fundamentalopposition aufzutreten« (Botsch 2017, S. 69). Für den Erfolg in der Breite der Bevölkerung war dieser strategisch-taktische, aber auch ideologische Anpassungsprozess eine wesentliche Voraussetzung; von ihm profitiert der radikale Nationalismus bis heute. Noch viel ausgeprägter als die NPD stilisiert sich die AfD als Kraft des Widerstands gegen die vermeintliche »Diktatur« der »Altparteien« und als erste Vertreterin einer »wahren Demokratie«.
Zwar formierte sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre eine rechtsradikale Opposition im demokratischen System; als dauerhaft erwies sich deren Mobilisierungsfähigkeit aber nicht. Nach 1969 versank die NPD in der Bedeutungslosigkeit, während die CDU vor allem auf Länderebene massive Wahlerfolge verzeichnete – ein Absorptionsprozess durch den demokratischen Konservatismus, der heute nicht mehr ohne Weiteres gelingt. Der rechtsradikale Flügel zog sich in den Untergrund zurück, wo Terrorstrukturen wie die 1973 in Nürnberg gegründete »Wehrsportgruppe Hoffmann« entstanden; Anfang der achtziger Jahre folgte eine bis dahin vergleichslose Welle rechter Gewalt in der Bundesrepublik.