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»Deutschland den Deutschen«? Zur Entwicklung von Rassismus und Rechtsextremismus in Bundesrepublik und DDR1 Franka Maubach

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Wie lässt sich die jüngste Konjunktur von Rassismus, Radikalnationalismus und Rechtsradikalismus historisch erklären? Wie die Tatsache, dass rassistische Parolen in der Bevölkerung vermehrt Zuspruch, Anhänger und Anhängerinnen finden? Um diese Fragen beantworten zu können, muss die deutsche Geschichte seit 1945, die bis vor wenigen Jahren vor allem als »Erfolgsgeschichte« geschrieben wurde, unter einer kritischeren Perspektive betrachtet werden. Die (Selbst-)Enttarnung des NSU 2011, die rassistischen Ausschreitungen während und nach der »Flüchtlingskrise« 2015, der Einzug der AfD in den Bundestag 2017 mit fast 13 Prozent und die rechtsterroristischen Anschläge der vergangenen Monate – in Kassel, Halle, Hanau – geben einen dringenden Anlass, nach den historischen Ursachen und der Vorgeschichte solcher Vorfälle in der deutschen Nachkriegszeit zu fragen (vgl. Frei u. a. 2019; zum Forschungsstand Müller 2019). Seitdem deutlich wurde, dass die gegenwärtige Konjunktur eine lange Geschichte hat, entsteht in der Geschichtswissenschaft ein neues Forschungsfeld, werden Projekte geplant, neue Fragen gestellt und Wissensbestände zusammengeführt.

Eine Zeitgeschichtsschreibung, die auf dem rechten Auge nicht blind ist, sollte die Geschichte der radikalen Rechten nicht isoliert betrachten, nicht nur als Geschichte rechter Parteien und Bewegungen, Täter und Taten, sondern in ihren gesellschaftlichen Kontexten – gerade, um das Thema vom Rand in die Mitte der deutschen Nachkriegsgeschichte zu holen. Ein solcher gesellschaftsgeschichtlich erweiterter Zugang müsste Ost und West systematisch zusammendenken, einen Bogen schlagen zu Alltagsrassismus, radikalnationalistischen Einstellungen und rechten Protestpraktiken in breiten Bevölkerungsgruppen, aber auch – und vor allem – die Erfahrungen der Opfer rechter Gewalt und von Menschen mit Migrationsgeschichte einbeziehen. Integriert werden müsste außerdem die Geschichte der Gegenmobilisierungen und bürgerschaftlichen Initiativen gegen rechts. Das gilt auch mit Blick auf den Umgang mit Migration und Rassismus, die den Schwerpunkt dieses Beitrags bilden. In der sich entwickelnden Einwanderungsgesellschaft der Bundesrepublik trat in der Regel beides zusammen auf: rassistisches Ressentiment und solidarische Unterstützung, rechte Gewalt und zivilgesellschaftliche Initiativen sowie migrantische Selbstorganisation (vgl. El-Mafaalani 2018). Diese Parallelgeschichte mit zu untersuchen bewahrt davor, die Geschichte des Rassismus in ihrer Bedeutung und Auswirkung zu überschätzen. Es ist gerade die »Gleichzeitigkeit von Pluralisierung und Homogenisierung« (Möhring 2015, S. 372), die auch noch unsere Gegenwart bestimmt.

Wie lässt sich diese Geschichte erzählen, welche Brüche und Zäsuren prägen sie, welche Kontinuitäten und Konjunkturen verzeichnet sie? Allgemein beruht die Mobilisierungsfähigkeit auf der Rechten auf einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung radikalnationalistischer und rechtsradikaler Kreise mit der bundesdeutschen Demokratie, die in den sechziger Jahren in ihre entscheidende Phase trat. Schon in seinem berühmten Aufsatz Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit hatte Theodor Adorno 1959 »das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potenziell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie« betrachtet (Adorno 1959/1963, S. 128). In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre vermochte die NPD über das neonazistische Lager hinaus Resonanz zu erzeugen und Wählerstimmen zu gewinnen: »Das offen Antidemokratische fällt weg. Im Gegenteil: Man beruft sich auf die wahre Demokratie und schilt die anderen antidemokratisch« (Adorno 2019, S. 37). Auch wenn rassistische Ressentiments in den sechziger Jahren keine entscheidende Rolle spielten, stellen diese Jahre die formative Phase für die Mobilisierungsfähigkeit auf der Rechten dar.

Als zentrale Scharnierzeit zur Gegenwart erweist sich das Jahrzehnt vor Mauerfall und Vereinigung. Während oft davon ausgegangen wird, dass migrationspolitisch die Jahre um 1989/90 die entscheidende Zäsur darstellen (Möhring 2015, S. 371), wird hier argumentiert, dass sich die spezifische Gemengelage aus rassistischer Mobilisierung, rechter Gewalt und bürgerschaftlichem Engagement bereits in den achtziger Jahren ausprägte (vgl. Weinke 2020, S. 128–130). Am Umgang mit vietnamesischen Migranten und Migrantinnen, die als Boatpeople in die Bundesrepublik und als Vertragsarbeitende in die DDR kamen, lässt sich diese komplexe Konstellation für die beiden deutschen Staaten exemplarisch nachvollziehen. Abschließend wird darüber nachgedacht, inwiefern es gerade die doppelte deutsch-deutsche Vorgeschichte war, die nach 1990 zu den gewalttätigen Ausschreitungen gegen Migranten – Vertrags- oder Gastarbeitende wie Geflüchtete – führte.

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