Читать книгу Auf dem rechten Auge blind? - Группа авторов - Страница 12
Schluss: Vereinigungsrassismus (1990er Jahre)
ОглавлениеZwar lässt sich das quantitative Ausmaß der Migration in beiden deutschen Staaten kaum vergleichen – in der DDR lebten nie mehr als ein Prozent Nicht-Deutsche, in der Bundesrepublik waren es 1989 fast fünf Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte, ein kleiner Teil bereits mit deutschem Pass. Daneben erschwert die Systemdivergenz den Vergleich, nicht nur weil in der DDR eine transparente Berichterstattung oder kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Thema nicht existierte, sondern auch weil hier der Gegenmobilisierung und migrantischen Selbstorganisation enge Grenzen gezogen waren (wenngleich sich in den späten achtziger Jahren Ansätze zu beidem finden). Was dennoch ins Auge fällt, ist ein virulenter Zusammenhang von Gesellschaftskrise und Rassismus in beiden deutschen Staaten. In der doppelten, wenngleich unterschiedlich ausgeprägten Krisenlage entwickelten sich hier wie dort zeitspezifische Formen rassistischen Ressentiments sowie Dynamiken des Ausschlusses und der Gewalt, an die nach 1990 angeschlossen wurde.
Die beiden Vorgeschichten wirkten also zusammen und verstärkten einander, als nach der Vereinigung die bis dahin größten Wellen rassistischer Gewalt über das Land gingen: »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!« – das wurde jetzt während der pogromartigen Ausschreitungen gegen »Asylanten« oder ehemalige »Vertragsarbeiter« geschrien: in Hoyerswerda im September 1991 oder in Rostock-Lichtenhagen im August 1992. Diesen ebenso radikalen wie komplexen Gewaltereignissen ist – ganz abgesehen davon, dass sie sich auch in Westdeutschland ereigneten, nicht nur in Mölln und Solingen, sondern an vielen Orten – mit einseitigen Erklärungen kaum beizukommen: etwa mit dem Hinweis auf eine vermeintlich genuin ostdeutsche »Fremdenfeindlichkeit« oder auf die Transformationskrise. Verstehen lässt sich diese Gewaltgeschichte nur, wenn man sie im Kontext ihrer deutsch-deutschen Genese vor 1989/90 verortet. Was sich hier äußerte, war ein »Vereinigungsrassismus« im doppelten Sinne des Wortes: weil zusammenkam, was sich vor 1989 in beiden deutschen Staaten entwickelt hatte, und weil die krisenhafte Transformation diesen Prozess dramatisch beschleunigte.
Die hitzige Asyl-Debatte der achtziger Jahre wurde jetzt, zusammen mit der besser organisierten rechtsextremen Szene, in einen aufnahmebereiten Osten exportiert – ein Vereinigungsprozess, über den wir noch viel zu wenig wissen. In Rostock-Lichtenhagen beispielsweise machten just Rechtsextreme aus Hamburg mobil; Michael Andrejewski etwa hatte 1982, zwei Jahre nach dem genannten Brandanschlag auf das Flüchtlingsheim, die Hamburger Liste Ausländerstopp gegründet. Nun deckte er die Rostocker Neubauviertel mit Flugblättern ein, die zum Widerstand gegen die Ausländerflut aufriefen. Diese im Westen erprobten Mobilisierungsstrategien trafen auf eine Kultur des Protests von unten, die sich im Osten schon vor 1989 zu einer gängigen Praxis entwickelt hatte. Jetzt richtete sich der Hass nicht nur gegen die ehemaligen Vertragsarbeitenden aus Vietnam (oder Mosambik), von denen viele bereits entlassen und in ihre Länder zurückgekehrt waren, sondern auch gegen osteuropäische Asylbewerber, darunter häufig Roma. Deren Diskriminierung beruhte auf anderen, über Jahrhunderte hinweg kultivierten rassistischen Vorurteilsstrukturen gegenüber »Zigeunern«.
Anfang der neunziger Jahre diente der rassistische Nationalismus als Kompensation für den Orientierungs- und Statusverlust, der kursierende Diskurs über »Scheinasylanten« und »Wirtschaftsflüchtlinge« re-aktualisierte und radikalisierte Konkurrenzgefühle und Verteilkonflikte. Zudem ermöglichte das politische Vakuum Formen der Selbstjustiz und öffnete Räume für die Entfaltung rechter Gewalt, die es im Westen zwar ebenso, aber doch eingeschränkter gab. Stellvertretend dafür stehen die Bilder applaudierender Nachbarn in Rostock-Lichtenhagen; sie machten den »nachbarschaftlichen Rassismus« und Versuche konsensfähig, das Problem auf dem Weg der Selbstjustiz zu lösen (Jentsch 2016, S. 64).
Die Vorgeschichte nationalistischer und rassistischer (Selbst-)Mobilisierung vor allem in den achtziger und Anfang der neunziger Jahre spielte in den Diskussionen seit 2015 nur eine marginale Rolle, obwohl sich aus der Beschäftigung mit ihr viel lernen ließe. Sie detailliert zu untersuchen und zu schreiben, verspricht Erkenntnisse über Traditionen und Formen der Mobilisierung von rechts in Bundesrepublik und DDR sowie im vereinigten Deutschland, die etwa die stereotype Rede vom »rechten Osten« herausfordern und neue Perspektiven auf ein Thema gewähren können, das uns seit mindestens vier Jahrzehnten erschreckend getreulich begleitet. Die lange deutsch-deutsche Vorgeschichte der gegenwärtigen Konjunktur von Rassismus und rechter Gewalt weist aber auch darauf, wie viel sich in den letzten Jahrzehnten zum Guten verändert hat. Nicht nur haben sich die oft zunächst informellen und lockeren Netzwerke einer demokratischen Gegenmobilisierung professionalisiert und institutionalisiert, wir verfügen zudem über eine stabile sozialwissenschaftliche wie journalistische Expertise, die in den nächsten Jahren um zeithistorische Überlegungen erweitert werden sollte.