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Moralische Erschütterung und das Ende der Ära des „Gesellschaftsvertrages“
ОглавлениеIn der belarusischen Gesellschaft wurde der Prozess eines grundlegenden moralischen Wandels eingeleitet. Darin sind auch diejenigen involviert, die sich den Protesten noch immer nicht angeschlossen haben. Sie leben ja trotzdem in Belarus, sie gehen mit denjenigen zu Arbeit, die protestieren, sie sehen, was auf den Straßen vor sich geht. Das autoritäre belarusische Regime hielt sehr lange am sogenannten „Gesellschaftsvertrag“ fest: Der Staat sorgte für das notwendige Mindestmaß an sozialer und wirtschaftlicher Stabilität, und die Bürger schalteten sich im Gegenzug nicht ins politische Leben ein. Nach einer sehr kurzen Zeit der postsowjetischen Demokratisierung, die 1996 mit der Verabschiedung einer Verfassungsänderung endete, passten sich die belarusischen Bürger irgendwie an die für beide Seiten vorteilhaften Bedingungen der autoritären Herrschaft an. Für die Staatsmacht war eine der vorteilhaften Bedingungen, dass die Bürger „stillschweigend“ die Lösung aller Probleme bei der Führung des Landes an sie zurück delegierte. Damit vertat die Zivilgesellschaft für viele Jahre die Chance, eine Rolle als politisches Subjekt zu spielen. Zum charakteristischen Merkmal dieser Zeit wurde die soziale Apathie. Der moralische Wandel, den ich oben erwähnte, ist nun mit einem heftigen und sehr traumatischen Ausstieg aus diesem Zustand der Apathie verbunden. Wir alle waren schockiert über das, was zwischen dem 9. und 12. August 2020 passierte. Nach diesen Ereignissen ist eine Rückkehr zum „Gesellschaftsvertrag“ nicht mehr möglich.
Das, was nach den Wahlen geschah, bewerte ich als rechtliche und menschliche Katastrophe.
Natürlich wird manch einer sagen, dass auch früher schon Menschen festgenommen und zusammengeschlagen wurden. Aber der Punkt ist, dass die meisten unserer Bürger ihre Einstellung zu dem, was in unserem Land vor sich geht, seither radikal verändert haben. Man kann lange über etwas Bescheid wissen: Ja, es gibt die Opposition, ja, man kann lesen, dass jemand verhaftet wurde und man kann das, weiter auf Distanz bleibend, überhaupt nicht auf sich selbst beziehen und sich nicht persönlich betroffen fühlen. Man mischt sich nicht in die gesellschaftspolitische Agenda ein, solange das, was die Staatsmacht tut, keine kollektive Erschütterung nach sich zieht. Und hier war natürlich von großer Bedeutung, dass die ungeheuerlichen Menschenrechtsverletzungen des Regimes sehr zügig aufgedeckt wurden.
Zuerst hören wir, dass etwa 80 Prozent der Wähler für Lukaschenko sind, und vor diesem Hintergrund erfahren wir bereits am Morgen des 10. August, dass jemand zusammengeschlagen oder verhaftet wurde, und dann stürzen Informationen über die ungeheuerlichen Gewaltattacken, über Schikanen und Opfer auf uns ein: Das ist wie bei schweren Prellungen des ganzen Körpers – die Gesellschaft ist traumatisiert und betäubt. Sie können sich an ein lautes Geräusch gewöhnen, doch wenn die Lautstärke dauerhaft derart hoch ist, platzt irgendwann das Trommelfell. So ist es auch mit der Psyche und mit unserem moralischen Selbstbewusstsein. Man funktioniert nach dem Prinzip des Gesellschaftsvertrags, geht zur Arbeit, bekommt seinen gerade so existenzsichernden Lohn und verdient irgendwo und irgendwie etwas zum Überleben dazu. Das Land existierte in einem Zustand des stabilen Überlebens, aber dann kommt es zu einer Katastrophe, und das Land explodiert, die Grenzen der Geduld sind erreicht. Dieser beispiellose Ausbruch an Empörung in der Bevölkerung ist darauf zurückzuführen, dass es zu einer rechtlichen und gleichzeitig zu einer menschlichen Katastrophe kam, dass also diese beiden Momente einander überlagerten. Einerseits haben wir es mit dem vollständigen Zusammenbruch der Rechtsstaatlichkeit im Land und mit der Aufdeckung der absoluten Illegitimität der Macht zu tun. Andererseits sind wir mit der katastrophalen, empörenden Verletzung der Menschenrechte konfrontiert, mit der Missachtung des menschlichen Lebens, der menschlichen Würde und der menschlichen Freiheit. Die gemeinsame Empörung angesichts der dreisten Gesetzesverstöße und der unmenschlichen Brutalität hat die Menschen zusammengebracht. Unser Protest beruht also auf einem Gerechtigkeitsempfinden und auf menschlichem Mitgefühl. Deshalb hat unser Kampf gegen das Regime nicht nur einen politischen, sondern zudem einen klar artikulierten moralischen und ethischen Charakter. Wir sagen, dass wir empört sind, und das bedeutet, dass wir von den Menschenrechten (von Gerechtigkeit, vom Wert des menschlichen Lebens, von der Achtung der Menschenwürde und der menschlichen Freiheit) ausgehen und diese als Grundprinzipien für das Leben in unserer Gesellschaft etablieren wollen. Dies ist die moralische Grundlage des Protests, die wir alle miteinander teilen, dies ist die Grundlage der politischen Einheit.