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Die asymmetrische Macht der protestierenden Zivilgesellschaft

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Die politische Konfrontation in Belarus zeichnet sich durch eine ganz eigentümliche Asymmetrie aus – die Asymmetrie zwischen brutaler physischer Gewalt durch die belarusischen Behörden und dem betont friedlichen Charakter des Protests; zwischen einer systematischen Verletzung des Gesetzes durch die Vertreter des Staates und der ständig wiederholten Forderung der Protestierenden, die Herrschaft des Rechts in Belarus wiederherzustellen. Der friedliche Charakter des Protests ist in der Tat das Kennzeichen dieses Aufstands.

Im Ausland (und insbesondere von Bürgern der Ukraine) hört man sehr oft kritische Stimmen hinsichtlich des friedfertigen Charakters des belarusischen Protests. Ich nehme zur Kenntnis, dass das eine höchst umstrittene Frage ist. Allerdings unterstütze ich diese Strategie und zwar aus mehreren Gründen. Zunächst einmal, weil das autoritäre Regime in Belarus einen extrem breitgefächerten und fest konsolidierten Sicherheitsapparat hat. Zweitens waren Gewalt und Grausamkeit, die sich diese Leute nach Bekanntgabe der offiziellen Wahlresultate zu Schulden kommen ließen, derart brutal und schockierend, dass die physische Gewalt als Mittel der Politik geradezu zum Symbol des Usurpators Lukaschenko und seines Regimes geworden ist.

Als Kern des belarusischen Aufstands lässt sich ein moralisches Trauma ausmachen (die Leute singen: „Wir werden nicht vergessen. Wir werden nicht vergeben“). Im Angesicht der ungeheuerlichen Verletzungen elementarer Menschenrechte haben die Belarusen eine asymmetrische Antwort gewählt. Ihre Antwort ist: Stoppt die Gewalt. Es ist diese moralische Antwort, die zur Basis politischer Solidarität wird. Als Philosophin möchte ich besonders auf das enorme Veränderungspotential einer solchen asymmetrischen Antwort hinweisen. Sie baut auf einer miteinander geteilten moralischen Sensibilität (gleichermaßen individuell wie gesellschaftlich) auf, die dazu führt, dass die Menschen für eine bessere Gesellschaft kämpfen. Solange diese moralische Sensibilität anhält, können wir auf Veränderungen in unserer Gesellschaft hoffen und uns kollektiv dafür stark machen – weiter auf den Straßen demonstrieren und so fort. Ich denke, darin liegt eine wichtige Lektion für moderne Politiker im Allgemeinen: Unsere Gesellschaften müssen moralische Sensibilität entwickeln, die Fähigkeit, Mitgefühl füreinander zu zeigen.

Nirgendwo zeigt sich dieses asymmetrische Verhältnis offensichtlicher als in der Gegenüberstellung unschuldiger Frauen in Weiß, mit offenem Gesicht und Blumen in der Hand auf der einen Seite und den brutalen männlichen Polizisten in Schwarz und dann auch noch mit Gesichtsmasken auf der anderen Seite. Der Protest der weißen Frauen am 12. und 13. August war auf eine Art ein sakraler Moment im Verlauf dieses Aufstands, es war der eigentliche Auftakt des belarusischen Protests, in friedlicher Entschlossenheit unsere Welt zu retten und unser Leben und unsere Würde zu verteidigen. Solcherart friedfertige Standhaftigkeit hat nichts mit Demut zu tun. Unsere Frauen sind stark, und sie zeigen einen wahrhaft bemerkenswerten Mut (es gibt so viele Beweise dafür!). Was sie symbolisieren, das ist die Entschiedenheit: Wir wollen unser Leben in diesem Land ändern und zwar auf der Grundlage eines moralischen Verbots illegaler physischer Gewalt, das heißt auf der Grundlage absoluten Respekts vor Leben und Würde der Menschen.

Darüber hinaus ist solcherart friedliche Entschiedenheit eng verknüpft mit einer Identitätsfrage. Insbesondere schließt unser Protest eine kritische Überprüfung des sowjetischen Erbes ein. Eine der Protestaktionen trug den Titel Die Kette der Buße. Sie verband Akrescina, also den inoffiziellen Namen des Untersuchungsgefängnisses, wo die Häftlinge vom 9. bis 11. August gefoltert wurden mit Kurapaty, dem Ort stalinistischer Massenexekutionen unweit von Minsk im Jahr 1941. So wird das Sowjetsystem als historische Basis für das autoritäre Regime Lukaschenkos wahrgenommen. Die grausame Gewalt der heutigen Einsatzpolizei OMON gegen protestierende Bürger wird so nicht nur vergleichend neben die Verbrechen der deutschen Faschisten gestellt, sondern auch historisch verknüpft mit dem repressiven Agieren der NKWD-Offiziere. Diese Reflexionen sind zweifellos nicht nur für Belarus wichtig, sondern für den postsowjetischen Raum ganz allgemein.

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