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Harald Krassnitzer Rauhnächte – ein persönliches Vorwort

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ie heißen Innernächte, Glöckelnächte, Unternächte, Losnächte oder schlicht nur die Zwölften, was uns bereits einen Hinweis auf die Dauer dieses in vielen europäischen Volkskulturen verankerten Brauchtums gibt: Zwölf Nächte, vom 25. Dezember bis zum 6. Jänner, dauert eine Zeit, die aus dem üblichen Jahresablauf herausgehoben ist. In Schweden nennt man sie Jul-Festen, in Frankreich ist die »Chasse Hennequine« ein fester Bestandteil der Rauhnächte, bei uns wurde sie wiederum die »Wilde Jagd« genannt und in der Schweiz »Wutesheres«; in Griechenland schließlich kommen in diesen mystischen Nächten die »Kalikanzari« auf die Erde, bösartige Kobolde, die am Weltenbaum sägen. Die Quellen der Rauhnächte mit ihrer »Wilden Jagd« führen uns zurück bis in die vorchristliche Zeit der Kelten, zu den nordischen Sagen der Isländer und Skandinavier, aber auch in die Antike. Allen Überlieferungen gemeinsam ist ein Stichtag, der 21. Dezember, die Wintersonnenwende, die längste Nacht des Jahres und zugleich der kalendarische Beginn des Winters.

Ich selbst neige dazu, diesen Winterbeginn immer wieder zu vergessen oder zu verdrängen, weil ich um diese Zeit eigentlich schon wieder die Nase voll habe von der Lichtlosigkeit, der Kälte und dem feuchtklammen Wetter. So beginnen viele bereits im Jänner, den Kalender fürs neue Jahr zu studieren, ob nicht der nächste 21. Dezember auf einen Freitag fällt, dann müsste man die Kinder nicht aus der Schule nehmen und könnte früher in wärmere und sonnendurchflutetere Gefilde fliehen, um sich so per Langstreckenflug dem Zyklus der Finsternis und der Kälte zu entziehen. Eine Kulturtechnik der jüngeren Art, von der wir nicht wissen, ob sie sich noch lange halten wird, weil sie uns gerade gehörig auf den Kopf fällt …

Als die europäischen Gesellschaften im Wesentlichen noch agrarisch geprägt waren, war es natürlich nicht möglich, sich mal eben wegzubeamen, wenn es zu »rauh« wurde, die Menschen haben sich arrangiert oder, besser gesagt, mit den jahreszeitlichen Zyklen gelebt, man konnte diese Zyklen lesen und verstehen und hat seine tägliche Arbeit und sein Leben nach ihnen ausgerichtet. Und an den Wendepunkten dieser Zyklen, die sich nach dem Lauf der Sonne richteten, wurden Freiräume oder, wie wir heute salopp sagen würden, Time-out-Zonen geschaffen und damit Zeiten, um zu feiern, zu danken, zu hoffen – und auch, um sich zu fürchten.

Wesentliche Momente waren (und sind) der 21. März – die erste Tagundnachtgleiche im Jahr – mit dem Frühlingsbeginn, der auf die kommende Fruchtbarkeit des Jahres verweist; der 21. Juni, die Sommersonnenwende, die uns mit dem Kürzerwerden der Tage die Vergänglichkeit bewusst macht; der 23. September – die zweite Tagundnachtgleiche des Jahres – mit seinen Fruchtbarkeitsritualen; und der 21. Dezember mit der Wintersonnenwende, die die Rückkehr des Lichts ankündigt und den eigentlichen Beginn der Rauhnächte markiert. Das Christentum hat diese archaischen Strukturen genutzt, um sein Narrativ in den europäischen Gesellschaften zu festigen, und so finden wir jetzt an diesen strategischen Stellen neben den ursprünglichen Bedeutungen das Osterfest, Fronleichnam, das Erntedankfest und natürlich die Geburt des Lichtbringers und Erlösers. Und – wie sollte es anders sein – die Kirche hat natürlich auch über fast alle Auszeit-Zonen die Deutungshoheit gewonnen. Aber eben nur fast, denn neben der machtvollen Erzählung von Christi Geburt haben sich gerade in den Rauhnächten viele der heidnischen Rituale und Protagonisten erhalten. Neben Wotan (oder, je nach Kulturkreis, dann auch wieder Odin) wurden noch dutzende Anführer der »Wilden Jagd« benannt. Begleitet von einem Totenheer und den skurrilsten Fabelwesen, jagen sie unheilverkündend mit lautem Gebrüll, Jammergeschrei und Donnergrollen durch die Lüfte. Und waren doch nichts anderes als die Versinnbildlichung der bedrohlichen Winterstürme. Neben den wilden Gesellen gibt es weibliche Hauptdarstellerinnen, die an Bedeutung und Energetik den männlichen um nichts nachstehen. Im österreichischen und süddeutschen Raum die Frau Perchta, die in Mittel- und Norddeutschland zur Frau Holle wird. Es gibt unzählige Regeln in den Rauhnächten, an die man sich zu halten hat und deren Überschreitung strengstens sanktioniert, deren Erfüllung aber auch reichlich belohnt wird. Zwerge treffen wir, die ihren nordischen Kollegen, den Kobolden, an Listigkeit und Hinterfotzigkeit um nichts nachstehen. Trolle, Elfen, Wald- und Berggeister, Dämonen jeglicher Art bevölkern die Szenerie. Gevatter Tod ist, was er ist: unbarmherzig und endgültig. Und natürlich wird auch die christliche Mythologie miteingebunden, in Gestalt ihres größten Schurken, des Teufels, der, wie sollte es anders sein, für sittenwidrigste Verträge zuständig ist. Neben den Erzählungen rund um das unheilvolle und manchmal auch gütige und großzügige Treiben der Geister und Dämonen ist das Orakel der zweitwichtigste Narrativ der Rauhnächte: Vom Hausschuh-(vulgo Patschen)-werfen bis zum Blei- oder Wachsgießen wurde jede Veränderung oder Erscheinung in der Natur dazu genützt, um Hinweise für den glücklichen Verlauf des kommenden Jahres zu erhalten. Tiere konnten in bestimmten Nächten sprechen und verkündeten den Tod eines Angehörigen der Hofgemeinschaft. Übel war nur, wenn man diese Verkündigungen heimlich mit anhörte, dann war man nämlich selber dran.

Dieses unendliche Reservoir an Geschichten zur Bewältigung von Ängsten und Erfüllung von Hoffnungen und Träumen hat mich in meiner Kindheit fasziniert. Wer wie ich am Fuße des Untersbergs in Salzburg aufgewachsen ist, war vertraut mit den regionalen Vertretern der »Wilden Jagd«: Vorpercht, Hexe, Habergeiß, Moosweib, Rabe, Riese Abfalter, Saurüssel, Baumpercht, Bär, Bärentreiber und Hahnengickerl. Diese Gruselgeschichten waren für mich eine Art Einstiegsdroge in die griechische Mythologie und Sagenwelt und dann später in die großen Erzählungen von Homer und Ovid. Der esoterische Aspekt der Rauhnächte hat mich hingegen nie sonderlich interessiert. Der kultur- und sozialanthropologische Ansatz ist da für mich schon reizvoller. Wie bewältigen Menschen ihre Lebenswelten, welche Techniken entwickeln sie, wie setzen sie sich in Bezug zur Natur? Zwölf Nächte nehmen wir uns Zeit, um auf das lang ersehnte Licht am Ende des Tunnels zuzugehen, das alte Jahr zu verarbeiten und das neue mit Hoffnung vorzubereiten. Wir tun dies mit dem simpelsten Mittel, das uns zur Verfügung steht, mit einfachen Geschichten von den Ängsten, den Sorgen, der Liebe, der Wut, dem ganzen Spektrum des menschlichen Daseins.

Vor ein paar Jahren habe ich mir nach langer Zeit wieder einmal einen Film von Luis Trenker angesehen, »Der verlorene Sohn«, und das eigentlich nur, weil darin eine Sequenz vorkommt, die zu den berühmtesten der deutschen Filmgeschichte wurde: eine Überblendung von den Dolomiten auf die Skyline von New York.

Am Ende dieses Films spielt die geschnitzte Maske eines Rauhnacht-Sonnenkönigs eine entscheidende Rolle. Diese Maske war bereits im ersten Drittel des Films aufgetaucht. Ein wohlhabender amerikanischer Tourist kommt in die Werkstatt eines Holzschnitzers in einem kleinen Südtiroler Dorf, um sich dessen Arbeiten anzusehen, in der Hoffnung, ein Souvenir zu finden. Dabei entdeckt er in einer Ecke der Werkstatt die Maske des Sonnenkönigs und erkundigt sich sofort nach dem Preis. Der Holzschnitzer teilt ihm höflich mit, dass diese Maske unverkäuflich sei. Sie sei ein Unikat, das seit Generationen im Besitz des gesamten Dorfes ist, und ein besonderer Bestandteil eines Rituals während der Rauhnächte. Jedes Jahr wird diese Maske an einen anderen Bauernhof weitergegeben und dieser hat dann die Aufgabe, das Fest und die Feier zur Rauhnacht auszurichten und das Dorf einzuladen. Der amerikanische Kunde bleibt hartnäckig und bietet eine hohe Summe, wenn ihm der Handwerker die gleiche Maske nachschnitzt. Und der Holzschnitzer willigt ein. So weit die Geschichte. Entscheidend ist, dass hier ein Prozess der Reproduktion eines Gegenstandes beginnt, der seinen Wert in der Einzigartigkeit hat. Ab dem Zeitpunkt der Reproduktion verliert das Original an Wert. Das Duplikat wird in New York an der Wand eines riesigen Penthouses hängen. Als Dekorationsgegenstand. Hübsch, aber sinnentleert, weil die Maske nicht mehr ihrem eigentlichen Zweck zugeführt wird. Sie bleibt reduziert auf das Verfügbare. Vielleicht hat der Schnitzer mittlerweile schon hunderte weitere Masken verkauft, vielleicht lässt er diese Masken mittlerweile irgendwo in Asien produzieren, millionenfach. In einer Welt, in der alles zu jeder Zeit verfügbar ist, in der alles berechenbar sein muss, den Kriterien der Effizienz und der Massenproduktion unterworfen wird, verschwindet das Besondere, das Einzigartige, und das Ritual wird zur Folklore.

Ich glaube nicht, dass wir zu archaischen agrarischen Gesellschaftsformen zurückkehren müssen, aber es würde uns guttun, ein paar Techniken von damals zu übernehmen. Die Auszeit der Rauhnächte ist eine davon, und sie ist, wie der Schweizer Autor Urs Faes zeigt, heute immer noch lebendig. In diesem Sinne: Willkommen in der Time-out-Zone und viel Spaß beim Lesen!

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