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»Das Schöne ist das Durchsichtige« Norbert Otto Eke und Christof Hamann im Gespräch mit Herta Müller

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Die erste Frage, Frau Müller, gilt dem Verhältnis von Erfahrung, Biografie und literarischem Text. Zur Psychodynamik des Lesens gehört, dass sich beim Lesen als Effekt des Textes stets eine innere Stimme im Kopf des Lesenden Gehör verschafft. Diese Stimme wird häufig mit der realen Autorin Herta Müller gleichgesetzt. Wie verhält es sich damit? Sie selbst haben sich ja wiederholt auf den von Serge Doubrovsky in die Diskussion eingeführten Begriff der Autofiktionalität als Modus autobiografischen Schreibens bezogen, um das wechselvolle Verhältnis von Nähe und Ferne zu erklären.

Die Beantwortung Ihrer Frage hängt davon ab, was man als literarischen Text bezeichnet. Im Fall von Essays, in denen man über sich selbst spricht, zum Beispiel über die eigene Kindheit, stimmt das schon überein. Essays sind ein Genre, das zur Voraussetzung hat, dass das, was man über seine eigene Biografie sagt, auch stimmt, dass nichts erfunden wird. Ein Essay ist diesbezüglich mit einem journalistischen Text vergleichbar. Auch ein Journalist darf ja nicht erfinden und anschließend behaupten, er habe das, was er in einer Reportage beschreibt, gesehen oder erlebt. Romane und Collagen, überhaupt fiktionale Texte, sind aber etwas anderes; sie arbeiten zumindest teilweise mit Fiktion. Andererseits: Das wirklich Erlebte ist Vorlage für die literarische Fiktion, und eigene Erfahrungen schreiben daran stets mit, auch wenn ich die äußeren Umstände nicht respektieren muss. Wenn ich beispielsweise über ein Verhör schreibe, dann schreibe ich aus meiner Erfahrung heraus darüber, eben weil ich Verhöre erlebt habe, erfinde aber zugleich ein ›literarisches‹ Verhör‹; daraus entsteht dann eine Situation, die mit keinem der realen Verhöre identisch ist. Aber meine innere Erfahrung, das heißt mein Wissen davon, wie ein Verhör vor sich geht, schreibt an der Fiktion mit; sie ist die Grundlage der Erfindung. Und das macht auch viel mehr Sinn, in einem fiktionalen Text etwas zu erfinden; ein fiktionaler Text würde müde werden, wenn er die Voraussetzungen eins zu eins respektieren müsste. Fiktionale Texte haben ganz andere Voraussetzungen als Essays. Beim Schreiben von Essays muss ich mir nicht vornehmen, eins zu eins die Realität zu respektieren; das ergibt sich von selbst.

Es gibt in den unterschiedlichen Gattungen und Genres also unterschiedliche Grade von Nähe und Ferne zur eigenen Biografie?

Es kommt auf den Ausgangspunkt an, den man sich selber gesetzt hat. Wenn ich mir vornehme, einen biografischen Essay zu schreiben, dann ergibt sich der Umgang mit der Realität eigentlich von selbst. Beim Schreiben von Romanen genauso. Vielleicht ist das bei mir eine Art innere Notwendigkeit, ein eigener Kompass.

Stützen Sie sich beim Schreiben auf Aufzeichnungen, beispielsweise auf Tagebücher, Arbeitsjournale oder andere Formen der Aufzeichnung?

Ich habe nie Tagebuch geschrieben und tue das auch nach wie vor nicht. Ich könnte mich nicht in so eine selbstauferlegte Pflicht einspannen. Auch würde mir wahrscheinlich oft die Lust dazu fehlen. Ich glaube außerdem, dass ich manche Erfahrungen oder Begegnungen gar nicht in Worte fassen will. Vor allem aber: Damals, in Rumänien, hätte ich gar nicht ausgehalten, meine Erlebnisse unmittelbar oder kurz danach aufzuschreiben. Ich war verstört, und ich hätte es nicht ertragen, mir diese Verstörung dann auch noch in Worten und Sätzen bewusst zu machen. Nicht, dass ich all die Turbulenzen und Ängste bewusst verdrängt hätte, aber all das saß eher abstrakt in meinem Kopf, obwohl es für sich genommen völlig konkrete Ursachen hatte. Also allein aus Selbstschutz hätte ich damals kein Tagebuch führen können. Dazu kamen die ständigen Hausdurchsuchungen. Ich hätte, was ich aufschrieb, verstecken müssen. Aber wo? Wahrscheinlich wären die Notizen gleich bei der ersten Hausdurchsuchung gefunden worden. Und dann hätten die Behörden natürlich ein großartiges Beweismittel gegen mich und meine Freunde in der Hand gehabt. Einmal angenommen, ich hätte damals ein Tagebuch schreiben wollen, hätte ich es so führen müssen, dass es im Falle der Beschlagnahme durch den Geheimdienst nicht gegen uns hätte verwendet werden können. Ich hätte das Erfahrene, Erlebte und Erlittene verschlüsseln, verklausulieren oder fingieren müssen. Über Ihre Frage habe ich noch nie nachgedacht, aber es könnte sein, dass das alles eine Rolle gespielt hat. In einer anderen Zeit vielleicht oder unter anderen Lebensumständen hätte ich vielleicht Tagebuch schreiben wollen, können, sollen. Aber ich glaube, kein einziger Freund oder Bekannter hat in Rumänien Tagebuch geschrieben, das wäre undenkbar gewesen. Auch haben uns die Ruhe und die Kraft gefehlt, die zum Schreiben eines Tagebuchs, so denke ich, nötig sind.

Schrift wird in diktatorischen Systemen also zum Gefährdungsmoment, macht angreifbar und verwundbar.

Wie bereits gesagt, wäre ein solches reflektiertes Schreiben für mich allein schon aus psychologischen Gründen gefährlich gewesen, weil mir dabei die eigene Notlage, die Gefährdung, die Angst erst so richtig vor Augen getreten wären. Für so etwas habe ich Abstand gebraucht. Erst während der Arbeit an »Niederungen« ist mir zum Beispiel auch so richtig bewusst geworden, was meine Kindheit eigentlich für mich bedeutet hat, welche Verhältnisse damals herrschten, wie schrecklich abgelegen und unheimlich diese ganze Gegend war, wie eine kleine verschlossene Kiste. Ich bin von dort weggegangen, mir war dieser Kindheitsort zuwider, hatte aber dennoch eine lange Zeit unendliches Heimweh danach. All das ist mir erst durchs Aufschreiben bewusst geworden.

Und noch ein Letztes zum Tagebuch: Beim Schreiben, wenn man also ins Wort geht, bewegt man sich in ein anderes Feld der Erfahrung hinein. Die Sprache ist ja ein ganz künstliches Metier und es stellt sich die Frage, wie komme ich davon wieder los, wenn ich etwas schon einmal, beispielsweise im Tagebuch, fixiert habe. Soll ich das jetzt respektieren, weil es Sprache ist und ich, wenn ich an einem fiktionalen Text arbeite, auch in der Sprache bin, oder soll und kann ich dieses Fixierte außer Acht lassen? Irgendwie sind solche Aufzeichnungen in ihrer ja doch literarischen Form eine Art ›Zwischenlandung‹. Und was mache ich dann damit?

Erinnerung ist oft unscharf, manchmal trügt sie. Besonders wenn man aus dem Kopf zitiert, führt das zu teils kuriosen Fehlern. Prüfen Sie zum Beispiel Zitate, um Irrtümer zu vermeiden? Etwa wenn Sie, wie in »Der Fuchs war damals schon der Jäger« oder »Herztier«, Gedichte und Lieder zitieren?

So ist das, wenn man Zitate, die man auswendig zu wissen glaubt, nach Jahren aufschreibt, so wie man sie im Kopf mit sich herumträgt. Und dann sagt dir ein Lektor, das Zitat stimmt nicht. Ist nicht möglich, denkst du, schaust nach und merkst, dass du es über die Jahre zugeschnitten hast, vielleicht einer inneren Notwendigkeit folgend. Generell ist Recherche wichtig, weil auch das Fiktionale Glaubwürdigkeit braucht. Wenn du beispielsweise einen Ortsnamen oder ein Geschichtsdatum verwendest, dann kannst du zwar in deinem Roman darüber schreiben, aber sollten der Name oder das Datum nicht korrekt sein, wird die Glaubwürdigkeit des Textes beschädigt. Für »Atemschaukel« etwa war eine solche Korrektheit für mich selbstverständlich. Um über Deportation und über das Leben in einem Lager zu schreiben, war ein hohes Maß an Recherche unerlässlich. Ich musste beispielsweise wissen, wie viele deportiert wurden und wann, und da der Abtransport im Januar erfolgte, konnte ich die Bilder, die vom Erfrieren handeln, verwenden, aber wenn er im Mai oder im Sommer erfolgt wäre, hätte ich mit anderen Bildern arbeiten müssen. Recherche ist auch Verantwortung gegenüber dem Gegenstand, über den man schreibt.

Etwas anderes ist es, wenn sich im Laufe der Zeit die Ansichten über etwas verändern, weil man Neues erfährt, weil Wissen hinzukommt, beispielsweise durch Lektüren, Begegnungen und Gespräche. Dann bin ich auch nicht immer einverstanden mit dem, was ich früher gedacht oder für richtig gehalten habe. Mit wissentlicher Täuschung hat das aber nichts zu tun. Ansichten kann man korrigieren, auch öffentlich korrigieren, wenn sie sich als falsch herausgestellt haben, weil man es nicht besser wusste oder weil man es gar nicht wusste oder weil man es anders wusste, das passiert ja.

Wann sind Sie das erste Mal mit Literatur in Berührung gekommen? Sie haben in einem frühen Interview im Zusammenhang mit den »Niederungen« einmal auf Werke Franz Innerhofers und Thomas Bernhards als jeweils prägende und wichtige Lektüreerfahrungen hingewiesen. Diese fanden aber wahrscheinlich erst statt, nachdem Sie aus Ihrem Heimatdorf weggezogen waren.

Natürlich. Ich hatte als Kind gar keine Bücher abgesehen von Kinderbüchern aus der Schule. Die bekam ich am Ende des Schuljahrs als Prämie für gute Leistungen. Ich bekam stets solche Prämien, weil meine Mutter mich trimmte, die Erste zu sein, obwohl ich beispielsweise überhaupt nicht rechnen konnte, im Turnen nicht gut war und es mit dem Akkordeonspielen und der Musik nicht klappte. Aber für meine Leistungen in anderen Fächern habe ich immer diese Kinderbücher überreicht bekommen, rumänische Kinderbücher, die »Der allmächtige Igel« oder so ähnlich hießen. Das waren natürlich immer ideologische Bücher für Kinder. In einem dieser Bücher gab es beispielsweise eine Ameise und eine Grille, und die Ameise war dort das Vorbild für die fleißigen Menschen im Sozialismus und die Grille war der Kapitalist. Für mich waren diese Bücher völlig uninteressant. Statt sie zu lesen, wurden sie bei uns zu Hause als Topfuntersetzer benutzt. Alle unsere Topfuntersetzer waren meine Prämienbücher vom Schuljahresende. Die wurden dann ein Jahr lang genutzt, und wenn ich im darauffolgenden Jahr neue Buchprämien mit nach Hause brachte, wurden sie gegen die alten ausgetauscht.

Gelesen wurde bei uns zu Hause nicht. Es gab in meinem Elternhaus Reste aus der Bibliothek meines Onkels, der im Krieg gefallen war. Er war ein überzeugter Nazi, der in unserem Dorf eine schreckliche Rolle gespielt hat, nicht nur, weil er Menschen denunzierte, die nicht in den Krieg ziehen wollten. Er glaubte, weil er studiert hatte, den großen Dorfideologen geben zu müssen, und kam sich selbst wie ein Führer vor, wie der Führer des Dorfes. Dieser Onkel besaß eine große Bibliothek, die meine Großmutter großteils im Backofen verbrannte, als die Russen kamen. Als einfacher Mensch wusste sie nicht, welche Bücher möglicherweise gefährlich sein konnten. Sie war ganz allein, hatte Angst. Mein Großvater war in dieser Zeit als Angehöriger der sogenannten ausbeutenden Klasse in ein Lager in der Dobrudscha deportiert, meine Mutter in Russland im Arbeitslager. Meine Großmutter ließ nur einige wenige Bücher übrig, die dick und schwer waren, in Leinen gebunden und mit Goldlettern versehen: ein Lexikon, das ihr unverfänglich schien, eine deutsche Lebensschule mit Nazipropaganda über Gesundheit und Körperkultur und ein großes medizinisches Buch, in dem man sich Organe ansehen konnte. Dieses Buch habe ich als Kind geliebt. Aber sonst hatten wir keine. Es gab eine Dorfbibliothek, aber dort befanden sich auch keine anderen Bücher als die, die ich in der Schule geschenkt bekam. Meine Großmutter hat hier und da mal Märchen erzählt, Rotkäppchen zum Beispiel. Über meinem Bett hing ein Bild mit Rotkäppchen. Das war so schlecht gemalt, dass ich von den Steinen dachte, sie seien große Gurken.

Ich habe in einem Ihrer Essays gelesen, dass Sie in der Schule einmal ein Parteigedicht aufsagen mussten, sie dann aber ein Gedicht über eine Schwalbe vortrugen. War das schon eine frühe Form des ›Eigensinns‹, aus dem heraus später Ihre Literatur entstanden ist.

Das war noch im Kindergarten, irgendwann im Winter. Das Gedicht handelt von der Schwalbe als Maurer. Ich kann mich nur noch an die erste Zeile erinnern: Wer war der kleine Maurer? Es ging darum, dass sich die Schwalbe ein Nest aus Schlamm mauert. Weihnachten als christliches Fest war in dieser Zeit offiziell abgeschafft, es gab nur das Frostmännchen, das allerdings erst am 1. Januar kam, die Rumänen hatten es von den Sowjets übernommen. Dann erst gab es auch Tannenbäume, nicht bereits an Weihnachten. Ich sollte an einer Frostmännchen-Feier ein Parteigedicht aufsagen, das meine Mutter von der Kindergartendirektion erhalten hatte. Meine Mutter versuchte vergeblich, es mir einzubläuen. Da ich noch nicht lesen konnte, hat sie es mir wieder und wieder vorgesagt, aber vergeblich. Ich lernte es nicht, jedenfalls nicht so, dass ich es im Kulturheim auf der Bühne hätte vortragen können. Daher sagte ich das Gedicht mit der Schwalbe auf, weil ich mir dachte, wenn ich gar nichts sage, bekomme ich bei der anschließenden Tombola auch keine Weihnachtspäckchen und keinen Neujahrs-Frostmann geschenkt. Das war dann ein Affront, ja, aber was konnte man einem Kind schon vorwerfen?

Ich würde gerne nochmal auf Ihre Lektüren zu sprechen kommen. Wie sind Sie zum Lesen, insbesondere von deutschsprachiger Literatur gekommen?

Zum Lesen bin ich in der Stadt, auf dem Gymnasium gekommen, zuerst anhand von Schulbüchern. Paul Celan zum Beispiel war darin abgedruckt, sein Gedicht »Die Todesfuge«, wenn auch nur teilweise, weil verschwiegen werden musste, dass die Konzentrationslager, in denen Celans Eltern ermordet worden waren, unter rumänischer Leitung gestanden hatten. Das waren natürlich immer die Faschisten gewesen, die hießen in Rumänien stets bloß die Faschisten; mit denen hatte Rumänien offiziell nichts zu tun. Dass Celan Suizid beging, wurde ebenfalls nicht gesagt, das hatte in einem sozialistischen Lehrbuch nichts zu suchen. Die Rumänen haben zwar so getan, als wären sie stets Antifaschisten gewesen, aber das ist falsch: Rumänien war unter Antonescu ein faschistischer Staat und Verbündeter Hitlers.

Ich habe in dieser Zeit auf dem Lyzeum aus Neugier angefangen zu lesen und weil ich dort eine Reihe von jungen Menschen kennenlernte, unter anderem Ernest Wichner und Gerhard Ortinau, die lasen alle. Für uns, die wir alle Deutsch sprachen, war insbesondere das Goethe-Institut in Bukarest wichtig. Rolf Bossert, einer aus unserer Gruppe, lebte in Bukarest und stellte den Kontakt her. Wir fuhren nach Bukarest und liehen uns Bücher im Goethe-Institut aus. Mit der Post hätten wir sie uns nicht schicken lassen können, weil der Geheimdienst die Päckchen gekapert und uns bei den Beschäftigten im Goethe-Institut dann als unzuverlässig verleumdet hätte, um so zu verhindern, dass wir uns weiter Bücher ausleihen können. Das Lesen führte dazu, dass wir uns vom Staat zu distanzieren begannen. Und ’68 hatte an unserer zunehmend kritischen Haltung ebenfalls einen Anteil. Sehr interessiert waren wir an Essays aus dem »Kursbuch«. Die Autoren dieser Zeitschrift mochten in einer Demokratie leben, aber wie wir hatten auch sie Eltern, die Nazis gewesen waren. Darüber war bis dahin dort so wenig geredet worden wie bei uns.

Andere Bücher bekamen wir aus dem Ausland, von Bekannten, die bereits ausgewandert waren, und über »Internationes«. Dafür musste man eine Begründung schreiben, was wir auch taten, das heißt wir erfanden eine. Beispielsweise schrieben wir, dass auf dem Gymnasium ein Aufsatz über dies oder das von uns verlangt wurde und wir dafür bestimmte Bücher benötigen würden. Das funktionierte gut. Wir erhielten Nachschlagewerke, Lexika, aber auch literarische Werke, etwa von Peter Handke. Die Autoren der von uns bestellten Bücher durften nur keine Feinde des Sozialismus sein. Thomas Bernhard war für mich besonders wichtig, weil er in seinen Büchern den alltäglichen Faschismus zum Thema gemacht hat. Ich habe von ihm mehr gelernt als von allen anderen, die ich las. Mir war so, als würde Thomas Bernhard die Gesellschaft beschreiben, in der ich lebte.

Auch ich bin über Thomas Bernhard zur Literatur gekommen, das »Kalkwerk« war eine meiner ersten eigenständigen Lektüren. Aber wir im Westen haben Bernhard wahrscheinlich aufgrund unserer anderen Sozialisation komplett anders gelesen.

Ja, ihr habt die langen Sätze gelesen und seine unglaubliche Intelligenz und seinen Humor, aber auch seine Fähigkeit zu Ironie und Sarkasmus geschätzt. Es ist so wie mit Franz Kafka, über den Imre Kertész gesagt hat: Bei uns in Osteuropa sei Kafka ein Realist gewesen. Wir haben Bernhard und Kafka anders gelesen, wir haben ihn mit der Diktatur im Nacken gelesen und das ist etwas anderes, als wenn du keine Diktatur im Nacken hast. Du gehst, wenn du Bernhard mit den Erfahrungen in einer Diktatur gelesen hast, in eine ganz andere Richtung. Lektüren hängen eben stets vom eigenen Leben ab. So wie in der Polizei jeder etwas anderes sieht. Einer, der aus einer Demokratie kommt, sieht die Polizei unvoreingenommener an als jemand, der ein Leben lang von ihr bedrängt oder misshandelt wurde. Wie verstehen wir eigentlich Bücher? Wir verlängern doch nur etwas, was wir kennen oder wir lernen es kennen, aber wenn wir etwas Neues kennenlernen, geht auch das aus von dem, was wir zuvor erfahren haben. Als ich einmal zu Besuch in Israel war, hörte ich an der Universität in Jerusalem, dass für Israelis zum Beispiel »Der Handschuh« von Schiller oder »Der Erlkönig« von Goethe etwas mit dem Holocaust zu tun haben können. Diese Gedichte werden dort ganz anders wahrgenommen. Diese Lesart ist eben auch möglich, nur sehen Menschen mit anderen Erfahrungen diesen Zusammenhang nicht.

Durch Sie habe ich den österreichischen Autor Theodor Kramer kennengelernt. Sie haben eine Sammlung mit seinen Gedichten herausgegeben. War Ihnen Kramer bereits damals in Rumänien bekannt?

Ich bin in Rumänien in einem Antiquariat auf ein Buch von ihm gestoßen, publiziert in einem Exilverlag. Ein Band mit Gedichten, der »Die Gaunerzinke« hieß. Erst später habe ich erfahren, dass Kramer Jude war, dass er im letzten Moment vor den Nazis fliehen konnte und dass seine Gedichte auch diese Situation und seine Angst in dieser Situation beschreiben. Seine Gedichte waren wie ein Magnet für mich, sie zogen mich vielleicht deshalb so an, weil wir in Rumänien auch Angst hatten. Seine Angst muss noch viel größer und tödlicher gewesen sein als die, die ich erlebte, sicherlich. Dennoch gingen mir seine Gedichte nahe, auch weil ich wusste, mein Vater war in der SS und mein Onkel war ein Nazi und Theodor Kramer, den ich so schätzte, musste fliehen, weil mein Vater und mein Onkel wie viele andere Nazis waren. Wie ich vorhin sagte: Leben und Literatur sind aufeinander bezogen.

Ähnlich erging es mir auch mit Paul Celan. Ich habe mich geniert vor den Texten – und habe sie gleichzeitig so gemocht. Das hat mich verwirrt: Auf eine Weise fühlte ich mich mit Celan seelenverwandt, und gleichzeitig wusste ich, theoretisch hätten ihn mein Vater und mein Onkel umbringen können. Diesem Dilemma war ich ausgesetzt, aber weil ich dieses Dilemma ernst nahm, bin ich ein politischer Mensch geworden. Ich hatte und habe für Theorien nie Zeit gehabt, weil ich immer bedrängt wurde von dem, was war und was sein musste. In dem Sinne habe ich anfänglich auch keine Literatur im eigentlichen Sinn geschrieben, ich wollte mir vielmehr mit dem Schreiben immer selbst helfen. Ich war unglaublich beeindruckt, wenn ich gelesen habe, was andere geschrieben haben, Thomas Bernhard etwa oder Márquez, diese Sätze, diese Schönheit, da war ich völlig fertig. Ich dagegen hatte überhaupt keine Distanz, ich schrieb, weil ich wissen wollte, wie man lebt. Und das hat sich nicht verändert. Wenn ich heute mal wieder Gedichte von Helga M. Novak oder Sarah Kirsch, von Theodor Kramer oder von Rolf Bossert lese, die mir damals in Rumänien viel bedeuteten, die mir in meiner Angst halfen, dann weiß ich auch heute noch, warum sie mir damals wichtig waren, eben weil ich sie so nötig hatte. Angst ist ein guter Literaturkritiker.

Es gab in Rumänien ja auch die Kulturinstitute der DDR. Haben Sie von diesen auch Bücher ausleihen können?

Ja, die gab es, aber die waren furchtbar, die haben wir gar nicht erst betreten. Von einem Leiter des DDR-Kulturinstituts wurden wir einmal beim Geheimdienst denunziert, wegen Wolf Biermann. Dieser Mann war dabei, als wir im Adam-Müller-Guttenbrunn-Literaturkreis in Temeswar Biermann-Lieder gehört haben. Seine Anzeige führte zu Hausdurchsuchungen bei uns.

Und haben Sie außer deutschsprachiger Literatur auch Literatur aus anderen Ländern gelesen?

Natürlich lasen wir auch Bücher rumänischer Autoren. Aber oftmals fehlte uns etwas. Wir wollten wissen, wie geriet man in so eine finstere Diktatur, wie konnte ein Land so verelenden, wie kam es zu dem ungeheuren Personenkult um Ceaușescu, wie er seit Stalin nirgends mehr in Osteuropa anzutreffen war. Auf solche Fragen benötigten wir Antworten. Die fanden wir aber weniger bei rumänischen Intellektuellen, als vielmehr bei Autoren aus Ungarn, aus der ČSSR oder aus Polen. Oder wir fanden sie bei Schriftstellern aus mittel- und südamerikanischen Ländern, die ja ebenfalls oft diktatorisch regiert wurden. Rumänien hatte – wahrscheinlich weil das Rumänische auch zu den romanischen Sprachen gehört – eine enge Beziehung zu lateinamerikanischen Schriftstellern. Viele Bücher wurden sehr früh ins Rumänische übersetzt, beispielsweise die von Gabriel García Márquez – den ersten Márquez habe ich auf Rumänisch gelesen. Wir lasen auch kubanische Literatur oder die Bücher von Ernesto Cardenal. Oft wurden aus den Ländern, mit denen es politische oder wirtschaftliche Beziehungen gab, auch Bücher importiert. Mit den Filmen war es genauso. Wir schauten uns unendlich viele sowjetische Filme an, Filme, die hauptsächlich in den asiatischen Regionen der Sowjetunion produziert wurden. Das war eine unglaubliche Kinematografie, und keineswegs nur sozialistische Auftragskunst. Diese unglaublich schönen kleinen, feinen Kunstgeschichten kamen ebenso in die Kinos wie die offiziellen, indoktrinierenden blöden Staatsschinken.

Wo haben Sie sich denn über Literatur ausgetauscht? Einerseits gab es ja diesen offiziellen Adam-Müller-Guttenbrunn-Kreis, den Sie eben erwähnt haben, andererseits und jenseits dessen haben Sie sicherlich auch an anderen Orten diskutiert.

Der Adam-Müller-Guttenbrunn-Kreis war konventionell und konservativ. Dort trafen sich alte Menschen, darunter auch solche, die früher Nazi-Gedichte geschrieben hatten und jetzt stalinistische Gedichte verfassten. Ja, wir sind in diesen Literaturkreis gegangen, haben uns dort eingemischt, vielleicht kann man auch sagen, wir haben den Laden aufgemischt.

»Wir« heißt: die »Aktionsgruppe Banat«?

Auch, aber ich gehörte ja nicht zur Aktionsgruppe. Ich schrieb einmal für den Literaturkreis einen Text, der hieß »Das schwäbische Bad«, es sollte um Heimat gehen. Na gut, ich geb’s euch, habe ich mir gedacht. Wenn ihr Heimat wollt, dann bekommt ihr sie, aber so, wie ich sie sehe. Die Aufregung war groß. Aber ich war nicht die Einzige, die diese alten Menschen herausforderte. Andere haben genauso dafür gesorgt, dass die alteingesessenen Mitglieder sich übergangen und überfordert fühlten. Wir wurden natürlich auch denunziert und dann kamen die Hausdurchsuchungen, der Arrest und alles.

Und außerhalb dieses Literaturkreises?

Alle in meinem Freundeskreis haben schon sehr früh angefangen zu schreiben, auf dem Gymnasium schon, Gedichte vor allem. Wir schrieben, wir tauschten uns aus, wir diskutierten über das, was wir gelesen hatten. Aber wir teilten auch dieselben Anschauungen, wir hassten diesen Staat und diese Unterdrückung, dieses Maulhaltenmüssen, und wir teilten auch die Angst. In unserer Gruppe waren wir zu Hause, nur dort wurde offen über die unmöglichen Zustände gesprochen. Das hat uns zusammengeschweißt. Und auch, nachdem unsere Gruppe verboten worden war, blieben wir Freunde. Selbst dann, als wir nach dem Studium über das ganze Land verteilt wurden. In Rumänien war es eine allgemeine Pflicht, dass man drei Jahre nach dem Studium irgendwo in dem Beruf arbeitete, auf den hin man studiert hatte. Wo das war, entschied der Staat. Das war die beste Gelegenheit, uns so weit auseinander zu bringen, dass wir uns nur noch sehr selten sehen konnten. Ich musste in die Moldau, eine Gegend ganz im Osten, an der Grenze zu Moldawien, andere mussten im Süden arbeiten. Aber selbst in der Zeit verloren wir den Kontakt nicht. Das waren enge Freundschaften, fast als wäre man Geschwister, daran konnte die Geheimpolizei nichts ändern.

Haben sich Ihre Lektüren dann gravierend verändert, als Sie 1987 nach Deutschland gekommen sind?

Eigentlich nicht, mich hat nach meiner Ausreise nach wie vor das Thema Diktatur interessiert, nicht nur die in Rumänien, sondern auch in anderen Ländern. Was sich aber in Deutschland änderte: Ich konnte schreiben, was ich wollte, ich musste nichts mehr verstecken. Ich konnte einfach in eine Buchhandlung oder in eine Bibliothek gehen, um mir ein Buch zu besorgen. Also sind ganz andere Beziehungen zu Menschen, zu Büchern, möglich geworden und natürlich dann auch neue ästhetische Erfahrungen. Ich hatte nun auch den Wunsch nach Lektüre jenseits des notwendigen Verstehens des Lebens. Vielleicht hätte ich manches Buch früher in Rumänien nicht gelesen, was ich in Deutschland las, zum Beispiel die sehr, sehr großartigen Bücher von Per Olov Enquist, die nichts mit Diktatur zu tun haben. Ich halte ihn für einen großartigen Stilisten. Dass solche Lektüren dazu kamen, war vielleicht neu. Ich selbst habe so viel über Diktatur geschrieben oder schreiben müssen, weil ich so kaputt war und weil ich den Kopf bei gar nichts anderem hatte und weil es ja die Diktatur in Rumänien die ersten Jahre, in denen ich in Deutschland lebte, immer noch gab. Es tut weh, wenn man grauenhafte Verhältnisse selbst erlebt hat und weiß, dass andere sie immer noch erleben, und man kann eigentlich nichts für sie tun, außer man spricht und schreibt darüber. Ich fand, das sei das Mindeste, was ich tun könnte, aber selbst wenn ich diesen Grund nicht gehabt hätte, ich hätte so oder so über nichts anderes schreiben können.

Über Theodor Kramer, Bernhard oder auch Márquez haben wir gesprochen. Sind denn aus der Gegenwartsliteratur noch Bücher dazugekommen, denen Sie einen ähnlichen Stellenwert wie den Büchern der Genannten zusprechen würden?

Ja, immer wieder. Ich habe gerade »Auf Erden sind wir kurz grandios« von Ocean Vuong gelesen. Ich könnte das ganze Buch abschreiben, es ist so grandios. Als Leserin bin ich total ungeschützt. Ich lese ganz langsam und wenig und bemühe mich darum, dass das Buch noch eine Weile hält. Aber mit anderen Büchern bin ich ungeduldig, Bücher, in denen ich nichts finde. Weil ich als Leserin so ungeschützt bin, lasse ich mich auch nicht vereinnahmen. Wenn ich an einem Buch nichts finde, zwanzig, dreißig Seiten lang, dann sage ich, ist gut, ist nicht für mich, ist nicht meine Sache.

In früheren Interviews, auch in einigen Essays, haben Sie über die Gemengelage verschiedener Sprachen, Sprachstandards und -register – Deutsch, Rumänisch, Mundart, Hochdeutsch und so weiter – gesprochen, die ihrer Literatursprache den ganz charakteristischen Ton verleiht. Ist das eigentlich auch nach der langen Zeit der Entfernung von Rumänien und aus den anderen Sprachkontexten so, dass beispielsweise das Rumänische nach wie vor im Hintergrund mitschreibt?

Ja, das Rumänische ist da, oft unterschwellig. Manchmal ist mir die andere Sprache bewusst und manchmal auch nicht. Manchmal finde ich das rumänische Bild einfach besser. Der Pfirsich beispielsweise heißt im Rumänischen die »piersică«, und dadurch hat der Pfirsich bei mir ein Samtkostüm, wegen des femininen Genus des rumänischen Pfirsichs. Ich gebe auch dem im Deutschen maskulinen Pfirsich ein Kostüm und nicht etwa einen Samtanzug, einfach weil der rumänische Pfirsich schöner ist, feminin. Sprache verändert die Ästhetik, und wenn man, bewusst oder unbewusst, in mehreren Sprachen schreibt, dann kann man gar nicht mehr von einer Ästhetik sprechen, man muss das Wort in den Plural setzen, Ästhetiken oder so. Die Worte in einer bestimmten Sprache haben ja einen eigenen, ihren eigenen Blick und ihre eigene Befindlichkeit in jeder Sprache. Und oft ist mir die Befindlichkeit des rumänischen Wortes näher als die des deutschen Wortes.

Das sind jetzt aber keine wirkungsstrategischen Entscheidungen zur Gestaltung von Fremdheitseffekten, oder?

Eine meiner Erzählungen trägt den Titel »Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt«. Das ist eine aus dem Rumänischen übersetzte Redewendung, von der man im Rumänischen genau weiß, was sie bedeutet: Der Mensch ist ein Verlierer. Im Deutschen erschließt sich diese Bedeutung erst einmal nicht. Aber ich hatte in der Erzählung die Möglichkeit, die Redewendung so zu platzieren, dass der deutsche Leser ahnt, was gemeint ist. Fasane sind tapsig und finden sich nicht so gut zurecht. Die Rumänen haben dies als Ausgangspunkt für die Metapher genommen. Der Mensch ist ein Fasan, weil er sich nicht, weil er sein Leben nicht im Griff hat. Das ist der Unterschied zum deutschen Fasan, der eher ein Bild für Arroganz liefert. Darum ist mir der rumänische Fasan viel näher als der deutsche. Ich liebe den rumänischen Fasan, nicht den deutschen. So geht es mir mit vielen Wörtern. Und nicht nur mir, sondern wohl jedem, der in seinem Leben mehrere Stationen hinter sich gebracht hat, mehrere Auftenthaltspunkte, mehrere Orte in der Welt. Wenn ich ›Frankfurt‹ lese, finde ich dieses Wort jedes Mal aufs Neue großartig, denn ›Furt‹ heißt auf Rumänisch ›Diebstahl‹. Und dass nun ausgerechnet viele Banken in Frankfurt sind, das ist zwar ein Zufall, aber ein schöner Zufall. Zufall ist so schön.

Das funktioniert allerdings nur, wenn man beide Sprachen gleichermaßen beherrscht.

Ja, ich kann sie vielleicht nicht gleichermaßen, aber ich kann sie. Ich könnte nicht auf Rumänisch schreiben.

Heißt das, die 2005 in dem Band »Este sau nu este Ion« erschienenen rumänischen Collagen sind übersetzt?

Nein, dieser Band enthält Collagen, für die ich das Textmaterial ausgeschnitten habe. Ich wollte zeigen, was für eine großartige Sprache das Rumänische ist, eine Sprache, in der sich viele Wörter reimen, auch die Ironie besser funktioniert als im Deutschen. Das vermeintlich Vulgäre, die Diminutive, all das hat eine ganz andere Bedeutung als im Deutschen. Es gibt unterschiedliche ästhetische Grundsätze in den beiden Sprachen. Wenn ich auf deutsch »Kaffeechen« sage, ist das ganz etwas anderes, als wenn ich im Rumänischen »cafeluța« sage. Und so ist es auch mit dem Fluchen. Weil ich von diesen Unterschieden wusste, wollte ich zumindest einmal auch Collagen mit rumänischen Texten herstellen. Zudem besaß ich viel Material. Zwei Jahre lang arbeitete ich nur mit rumänischen Zeitschriften an rumänischen Collagen, aber dann war Schluss. In irgendeiner der Schubladen hier müssen noch viele rumänische Wörter liegen, ich werfe sie nicht weg, sie bleiben hier, sie dürfen hier sein wie die deutschen Wörter auch.

Mehrsprachigkeit ist also eine Chance für Literatur?

Ich finde, Randliteraturen sind oft so interessant, weil sie in Kontakt zu anderen Sprachen und Ländern stehen. An den Rändern geht viel durcheinander, die, die an Rändern wohnen, bekommen von all dem jenseits der Grenzen etwas mit, und all dieses Andere hat natürlich seine eigene Sicht, einen eigenen Blick.

Mich würde noch ein anderer Aspekt Ihrer Sprache interessieren, nämlich das wiederholte Aufgreifen von Redewendungen.

Also, ich finde, das Schönste an der Sprache ist die Verblüffung, ist, wenn jemand ahnungslos etwas Großartiges sagt, einen Satz, der in sich viele Bedeutungen birgt. Da horche ich richtig auf. Die sagen das nicht absichtlich, sondern es ist einfach intuitiv so. Oft versteckt sich gerade auch in Redewendungen Großartiges, jede Sprache besitzt solche Fertigteile, die nicht ideologisch sind, die einfach überliefert und gebräuchlich geworden sind. Ich frage mich, wie eine Redewendung entstanden ist? Irgendwann muss sie irgendjemand zum ersten Mal gesagt haben, und ein anderer hat sie wiederholt, weil sie sich gut eignete für eine andere Situation, und nach einiger Zeit wurde aus dem Satz eine Redewendung und eine Art Parabel, die für alles mögliche gut ist. Solche Redewendungen hab ich oft zu Hause gehört, von meinen Eltern oder von meiner Großmutter. »Denk nicht dorthin, wo du nicht sollst«, zum Beispiel. Ist das nicht ein großartiger Satz? Das ist umständlich und unbeholfen, aber gerade dadurch wird der Satz so großartig und die darin ausgesprochene Warnung klingt gar nicht mehr so böse. Der Satz ist mehr als bloß eine Drohung, die Warnung schützt dich auch irgendwie, obwohl sie dir etwas verbietet. Wenn der Satz gelautet hätte, »Denk nicht das, was du nicht denken sollst«, dann wäre aus ihm sicher keine Redewendung geworden. Oder: »Am Rand der Pfütze springt jede Katze anders«. Das sind Sätze, die mir in bestimmten Situationen halfen, in denen ich nicht mehr weiter wusste. Sie haben mich jedenfalls nie getäuscht. Und irgendwie haben sie mich auch behütet. Von solchen Redewendungen gibt es jede Menge, und oft hörst du sie von sogenannten ›einfachen‹ Menschen. Das ist die Poesie der Ahnungslosen. Ich finde Redewendungen auch so schön, weil die, die sie verwenden, oft nicht wissen, wie poetisch diese Sätze sind. Das ist Alltag, und das berührt mich ja. Davon kann ich als Schriftstellerin profitieren.

Ich würde, wenn es Ihnen recht ist, gerne das Thema wechseln, hin zum Schreiben und besonders hin zum Herstellen von Collagen. Ich möchte beginnen mit einer Frage, die die ganz unmittelbare ›Materialität‹ und vor allem auch die ›Körperlichkeit‹ des Schreibens betrifft. Welche Schreibutensilien nutzen Sie? Schreiben Sie im Stehen oder im Sitzen?

Ich habe solchen Fragen oder Problemen noch nie eine Bedeutung beigemessen. Ich habe überhaupt keine Rituale. Ich würde auch nie sagen: Das kann ich so und nur so oder nur dort oder nur dann oder nur unter bestimmten Umständen. Solche Gedanken kommen mir nicht, weil ich, als ich anfing zu schreiben, in der Not geschrieben habe. Ich habe in der Fabrik, zwischen den Etagen, auf den Treppen, geschrieben, das heißt: Mein Schreibzeug ist gewesen, was ich zur Hand hatte. Es gab in Rumänien nicht einmal Papier. Ich habe Papier aus der Fabrik genutzt, irgendwelche einseitig beschriebenen Listen oder Formularblätter, die im Büro nicht mehr gebraucht wurden. Das schenkten mir die Buchhalter. Es gab auch keine Kopiergeräte; Schreibmaschinen mussten jedes Jahr für eine Schriftprobe zur Polizei gebracht werden, und man musste erklären, warum man sie benötigt und wer alles Zugang zu ihr hat. Also, da entwickelt man keine Allüren mit dem Werkzeug oder mit der Körperhaltung. Ich schrieb in der Haltung, in der es eben in diesem Moment ging, im Stehen, im Sitzen, krumm auf der Treppe in der Fabrik, oft so, dass keiner merkte, dass ich schrieb. Zu Hause versteckte ich das Geschriebene oder gab es jemand zum Verstecken, weil ich Angst hatte. Unter solchen Umständen achtet man weder auf die Art des Papiers noch darauf, ob man das Papier mit irgendeinem Bleistift oder mit was auch sonst immer beschreibt.

Geändert hat sich nichts. Also ich schreibe, wie es gerade kommt. Wenn mir etwas einfällt, schreibe ich es mit der Hand auf, danach tippe ich es ab. Seit wir einen Computer haben, kann ich hundertmal etwas verändern, ohne dass ich Tipp-Ex oder ich weiß nicht was benutze. Aber ich denke gar nicht darüber nach. Ich habe den Eindruck, wie ich schreibe, wann und mit welchen Mitteln, ob ich morgens oder abends schreibe, das ist absolut unwichtig. Wichtig ist nur, was kommt raus, damit habe ich genug zu tun. Das ist schon schwierig genug. Damit habe ich oft Probleme, nicht aber damit, womit es geschrieben ist. Kugelschreiber beispielsweise, ich klaue Hotelkugelschreiber. Ich glaube, ich wäre zu schade für einen teuren Füllfederhalter, weil ich den nicht schätzen könnte, ich bin eine, ja, ich bin eine Banausin in diesen Dingen. Anders ist es allerdings beim Kleben, da achte ich etwa sehr auf das Papier.

Es ist also ein Unterschied, ob man einen Text schreibt, egal ob mit Bleistift oder mit einem Kugelschreiber, oder ob man mit Schere und Kleber arbeitet?

Ja, das ist ein enormer Unterschied. Beim Collagieren ist das Papier wichtig, weil man kleben muss. Und Farben sind wichtig, weil sie zueinander passen müssen. Eine Collage inszeniert sich auch. Das ist einer der Gründe, weshalb ich heute so ›schreibe‹, neben einer ganzen Reihe von anderen Gründen. Die haben sich über die Jahre verändert, manche waren mir wichtig, als ich angefangen habe, andere sind mir mit der Zeit immer wichtiger geworden. Heute sind Aussehen und Inszenierung des Ganzen für mich ausschlaggebend, eine Collage muss schön sein, sie muss ›schwingen‹, sie darf nicht plump wirken, und Bild und Text müssen zueinander passen. Darauf achtete ich früher nicht so sehr, ich habe sowieso viel mehr aus dem Stegreif heraus gemacht. Wenn ich heute ein Wort habe, aber sein Aussehen gefällt mir nicht, dann bastle ich es mir neu zusammen. Das hätte ich früher nicht gemacht. Die Größe eines Wortausschnitts ist ebenfalls wichtig. Für mich gilt: Wenn etwas zu groß oder zu klein ist oder die Farbe nicht passt, dann mache ich es mir passend.

Was heißt, Sie machen es passend?

Ich klebe ein Wort aus einzelnen Buchstaben zusammen. Dafür muss ich auf das Papier achten. Wenn man schon die Fugen zwischen den Buchstaben sieht, dann müssen diese zumindest schön aussehen, und das geht nicht ohne gutes Papier. Also, hier achte ich auf das Material. Das ist so wie bei jedem Handwerk. Die Handarbeit, das ist überhaupt das Besondere an dieser Art von Schreiben, die Handarbeit. Ich habe mir das immer gewünscht, ich wollte ja nie Schriftstellerin sein, ich habe mir immer gewünscht, Friseurin zu werden oder Schneiderin, als Kind schon. Ich kompensiere, glaube ich, mit dem Collagieren, dass ich es nicht zur Friseurin gebracht habe.

Mit Studierenden habe ich vor Kurzem eine Collage aus Ihrem aktuellen Band »Im Heimweh ist ein blauer Saal« betrachtet. Der Text der Collage lautet: »Angst beruht auf Angst bis es weh tut, man passt sich an wie die Kröten ans Gras seit alle schweigen, hört man mitten am Tag in der Stadt die Wolken steigen.« Im Vorfeld habe ich den Studierenden von Ihrem Leben in Rumänien erzählt, vom Leben in einer Diktatur. Dennoch hat sich kein einziger der Studierenden in einer Wortmeldung auf diese Zeit in Rumänien bezogen. Aktuelles wurde angesprochen, ein chinesischer Student hat die Collage auf seine Situation in China bezogen, eine andere Studentin auf Ungarn.

Aber Rumänien kommt ja auch gar nicht vor. Ich habe auch in meinen Romanen immer geschrieben: »das andere Land«. Die Repression ist in Diktaturen immer vergleichbar, sie mag in asiatischen oder osteuropäischen Ländern oder in muslimischen Gottesstaaten wie dem Iran stattfinden. Auch die Angst ist überall gleich. In all diesen Ländern darf nicht der Einzelne entscheiden, alles wird in der Zentrale entschieden, und wenn einer so durchgeknallt ist wie der Staatspräsident Chinas, dieser Xi Jinping, dann wehrt sich keiner, aus Angst vor Gefängnis oder Repressalien. Es sind stets dieselben Mechanismen wie eh und je. Was ich heute über China in der Zeitung lese, kenne ich, ich habe es tausendmal erlebt, und es geht immer weiter. Das ist ein Muster. Von daher ist es gut, wenn die Studenten diese Collage sehen und lesen und dann über China sprechen oder über Ungarn oder über ein anderes diktatorisches Land.

Ich würde gern auf die Form der Collagen zurückkommen. Sie haben angedeutet, dass formale Aspekte im Laufe der Jahre zunehmend wichtiger geworden seien. Bereits in »Reisende auf einem Bein« von 1989 wird das Verfahren des Collagierens beschrieben. Veröffentlicht wurden die ersten Collagen dann erstmals zwei Jahre später in den Paderborner Poetikvorlesungen »Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet«. Diese frühen Collagen, dann auch die aus der Postkartensammlung »Der Wächter nimmt seinen Kamm«, scheinen mir im Vergleich mit den neueren Collagen nicht nur optisch rauer, sondern auch textuell verschlüsselter gewesen zu sein. In dem Maße, in dem die von Ihnen eben angedeutete Formgebungsarbeit wichtiger geworden ist, scheinen die Collagen nun auch zugänglicher, Brecht hätte gesagt: kulinarischer, geworden zu sein. Dazu trägt die Verwendung von Rhythmen und Reimen ebenso bei wie die Farbgestaltung, zudem sind die collagierten Texte in gewisser Weise narrativer und verspielter geworden.

Ich glaube alles, was man lange macht, verändert sich, weil man sich selbst verändert. Früher waren die Collagen-Texte viel länger, auch habe ich winziges Material verwendet, aus Zeitschriften wie zum Beispiel »Spiegel«, »Stern« und »Focus« oder aus Tageszeitungen. Inzwischen arbeite ich mit größerem Material. In den ersten Collagen ging es auch, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, sehr ungefiltert um die Diktatur. Ich habe sie damals in Rom gemacht, in der Villa Massimo, 1990, da waren die Diktaturen in Osteuropa gerade implodiert. Inzwischen habe ich zu dieser Zeit eine größere Distanz und auch andere Bedürfnisse; ich habe mich auch ein Stück weit befreit, vielleicht durch das Schreiben, vielleicht aber auch durch die veränderte historische Lage – die Diktaturen existieren eben nicht mehr. Solange sie existieren, bedrücken sie dich, einfach weil du weißt, es gibt sie noch, du bist zwar entkommen, aber du kommst von dort. Das ist anders, als wenn du weißt, Gott sei Dank, es ist vorbei. Ich glaube, danach hat mich etwas losgelassen, was mich früher nicht losgelassen hat, oder vielleicht habe auch ich etwas loslassen können. Wahrscheinlich ist es gegenseitig: Es hat mich losgelassen und ich habe es losgelassen. Dadurch wurden andere Zugänge möglich, auch eine Art von Humor. Die Collagen haben über die Jahre eine Art von Leichtigkeit gewonnen, auch wenn die vergangene Zeit noch drinsteckt. Diese Geschehnisse sind weiterhin darin vorhanden, sie werden nur anders angegangen oder sie spiegeln sich anders, weil sie sich in meinem Kopf mittlerweile anders spiegeln als damals, als ich noch mittendrin war oder als ich wusste, andere sind noch mittendrin.

Könnten Sie noch Näheres zur Farbgestaltung und der visuellen Inszenierung der Collagen berichten: Verwenden Sie in den Collagen ausschließlich Originale oder werden beispielsweise Farbhintergründe im Interesse des Gesamteindrucks nachträglich hergestellt oder verändert?

Ich helfe natürlich nach. Es kann sein, dass mir manches etwas zu monoton scheint, dann male oder radiere ich auch ein bisschen oder färbe ein. Oder wenn mir ein Wort zu schmal erscheint, dann klebe ich etwas dran. Eigentlich wäre ich doch besser Schneiderin geworden als Friseurin, ich bessere aus, ich flicke, ich verändere, aber nur, wenn ich meine, die Bilder und Texte verlangen danach.

Das heißt also, Sie nehmen sich mittlerweile größere künstlerische Freiheiten?

Ja, ja (sie zeigt eine Collage). Sehen Sie hier das Wort »zurückreiten«, das aus unterschiedlichen Buchstaben zusammengeklebt ist. Damit die Fugen nicht so stark hervortreten, versehe ich die Buchstaben mit Hilfe eines Radiergummis mit Schattierungen. Auch wenn etwas heller erscheinen soll, arbeite ich mit einem Radiergummi. Ich radiere an den Rändern der Buchstaben, bis diese heller sind, das führt auch zu Leichtigkeit. Dann klebe ich Schicht auf Schicht übereinander. Und bevor ich das Bild klebe, muss ich zuerst die Ränder beschneiden, weil nachher kann ich mit der Schere nicht mehr hineinschneiden.

Aber alles geschieht per Hand, mit Schere, Radiergummi und Stift? Da wird nichts am Computer nachbearbeitet?

Nein, nein, ich arbeite nur mit Schere, Stiften und Radiergummi, und das ist eigentlich das Schöne daran. Wie bei jeder Handarbeit geht es um das Detail. Ohne Detailverliebtheit kann man so eine Arbeit nicht machen.

Uns ist aufgefallen, dass sich in den neueren Collagen – das gab es früher auch nicht – immer wieder einmal auch handschriftliche Schnipsel finden. Schreibt sich da die Autorin Herta Müller mit ihrer Hand grafisch in die Collagen hinein?

Das sind auch Originale. Ich bekomme manchmal Kataloge und Werbeprospekte, die Handschriftliches enthalten, das schneide ich sofort aus.

Also handelt es sich nicht um Ihre Hand-Schrift?

Nein, ich schreibe nichts in meine Collagen hinein. Eine Fundgrube für schöne Buchstaben und Wörter sind die Auktionskataloge von Griesebach, aber auch Verlagsprogramme von Hanser oder Fischer, in denen bunte Buchumschläge mit Wörtern in allen Farben abgedruckt sind. Ein Wort kann aus jedem Text stammen, aber wenn ich es ausgeschnitten habe, ist es für sich, dann kennt es nur noch sich selbst. Wenn ich Katalogen, Prospekten und Zeitungen einzelne Wörter entnehme, bestehle ich niemanden, und im Nachhinein ist egal, woher ich das »der« oder das »die«, oder das Wort »Tisch« herhabe.

Hier auf dem Tisch liegt eine Notizkladde, für Entwürfe?

Ja, darin schreibe ich mir Varianten auf. Das ändert sich ja dauernd; manchmal kommt mir auch irgendwas dazwischen, weil ich ein anderes Wort finde. Wenn ich einen Text lege und ihn dann ändere, dann weiß ich oft gar nicht mehr, was vorher war, was ich hatte. Oft komme ich später aber auf einen ganz frühen Entwurf zurück. Darum muss ich alles aufschreiben, damit ich weiß, wie die Variante war und wie sie ausgesehen hat.

Wie entstehen die Collagenbände? Nach welchen Kriterien werden sie zusammengestellt?

Zuerst prüfe ich, ob Collagen, die auf zwei gegenüberliegenden Seiten im Buch gedruckt werden sollen, zusammenpassen, sowohl optisch als auch inhaltlich. Da bekomme ich auch Hilfe, zum Beispiel von meinem Lektor. Es hilft mir, wenn ein Außenstehender, der eine größere Distanz zu den Collagen hat, mitentscheidet.

Das ist das eine; ich habe mit meiner Frage eigentlich – und das ist das andere – unterstellt, dass ein Band im Ganzen komponiert ist.

Eigentlich nicht.

Aber das Material wird doch in einer ganz bestimmten Reihenfolge angeordnet.

Ich mache erst einmal jede Collage für sich. Daher glaube ich, dass die Collagen für sich eher unabhängig voneinander sind. Von daher gibt es auch keine strikte Reihenfolge. Und wenn die einzelnen Collagen dann im Buch zusammenkommen, müssen sie sich arrangieren. Wie die Sätze sich arrangieren in einem Text, müssen sich auch die Collagen miteinander arrangieren. Ich habe jetzt im Sinn, etwas wirklich Zusammenhängendes zu machen, aber darüber will ich noch nicht reden; wenn man so viel darüber redet, dann will das nicht mehr.

Entsprechen die Collagen in den Büchern von der Größe her den Originalen?

Ja, das tun Sie.

Ich sprach neulich mit einem Kollegen über die Vermarktung der Collagen als Wandschmuck. Er hat zu mir gesagt, er würde eine Collage bei sich aufhängen, allein weil er sie optisch schön findet. Ist das Ihrer Meinung nach ein legitimer Umgang?

Ach, das ist mir egal. Dumont hat jetzt schon den zweiten Kalender mit Collagen von mir gemacht. Die verkaufen sich gut. Ich bin sicher, so ein Kalender wird nicht nur von Literaturexperten gekauft. Ja, warum denn aber auch nicht? Mir wird auch immer wieder gesagt, dass gerade Kindern meine Collagen gefallen. Das freut mich, ich meine, das ist ein Zugang zur Sprache.

Verschiedene Ihrer Collagen sind in transkribierter Form wie Gedichte gedruckt worden. Die Bildebene ist dabei natürlich weggefallen. Würden Sie die Textteile der Collagen als Gedichte gelten lassen?

Ja, die Texte müssen auch für sich stehen können, sie müssen auch ohne die visuelle Dimension auskommen. Man kann den Collagentext auch als Gedicht drucken, ja, das kann man machen, es gibt nichts, was man nicht darf. Man hat ja als Autor am Ende sowieso kein Mitspracherecht mehr. Ich glaube auch, der Collage ist es egal, wenn ihr Text als Gedicht gedruckt wird. Sie fühlt sich angenommen, unabhängig davon, wo sie hängt und wer was mit ihr macht.

Bestimmte Wörter häufen sich in Ihren Collagen, zum Beispiel »Narr«, zum Beispiel »durchsichtig«.

»Durchsichtig«, das Wort gefällt mir viel besser als zum Beispiel »transparent«. Das Schöne ist das Durchsichtige. Es gibt Wörter, die mag man nicht, wahrscheinlich intuitiv, und es gibt Wörter, die man mag. Mir ist das beim Schreiben oft gar nicht so bewusst. Ich weiß nicht, wie oft ich welches Wort benutze, Wörter kommen und gehen. Vor ein paar Jahren gefiel mir das Wort »wachsnasig«, das habe ich dann mehrfach zusammenkleben müssen, so oft, bis ich das Wort so hatte, wie es meiner Meinung nach aussehen sollte, mit seinen Rändern und mit seinen Fugen zwischen den Buchstaben. Ich verwendete dann das »wachsnasig«, das mir vom Handwerklichen her am gelungensten erschien in einer Collage, aber neben diesem einen »wachsnasig« hatte ich am Ende noch mehrere andere, und da mir das Wort gefiel, setzte ich es später in andere Collagen hinein. Auch vor Kurzem habe ich das Wort erneut für eine Collage verwendet. Sie sehen ja, ich habe inzwischen so viele Wörter in den Schubladen, dass ich oft Angst habe, ich finde sie nicht mehr. Es gibt so viele Wörter, auf die ich besonders aufpassen möchte, weil ich weiß, ach, irgendwann werde ich sie benötigen, und ich lege sie dann abseits von den anderen. Aber inzwischen habe ich so viele Wörter an abseitigen Orten, dass ich oft nicht mehr weiß, an welchen abseitigen Ort ich nun gerade dieses eine Wort hingelegt habe, mit dem ich mir so viel Mühe gegeben hatte.

Insofern ist das Schreiben mit der Schere auch ein Schreiben nach Orten. Dort drüben auf dem Fußboden liegt das Material, die Zeitschriften, die Prospekte. Hier, entlang der Wand, liegen einzelne Seiten mit Wörtern und Buchstaben, die ich ausschneiden möchte. Dazwischen befinden sich Häuflein aus ausgeschnittenen Wörtern und Buchstaben, von denen ich weiß, aus ihnen sollen einmal Collagen entstehen. Und manche dieser Häuflein, die ich mir zurechtgelegt habe, die müsste ich eigentlich nur noch zusammenkleben. Aber dann fehlt mir die Lust dazu, weil ich schon wieder anderes im Kopf habe. Die Häuflein aber bleiben liegen, und oft vergeht so viel Zeit, dass ich, wenn ich mir ein Häufchen dann doch wieder vornehme, nicht mehr weiß, was ich damit wollte. Da denke ich mir, jetzt ist aber Schluss. Dann ist die innere Bereitschaft weg. Die hat sich einfach weggeschlichen oder sie ist mir abhandengekommen. Aber auch, wenn ich an einer Gruppe von Wörtern weiterarbeite, bleibt es spannend bis zum Schluss. Denn jedes Wort ist so individuell wie eine Situation. Es geht ja nicht nur um seine Bedeutung, genauso wichtig ist, wie es aussieht, aus welchen Farben es besteht, aus welchen Schrifttypen, wie es daherkommt. All das haben die Wörter bereits in sich, ich muss nichts tun außer suchen.

Und dann die Wörter hier an den verschiedenen Orten auch finden.

Finden, oder Nichtfinden. Ja, es gibt auch die Verzweiflung des Nichtfindens. Ich weiß, das Wort ist da, ich muss es nur finden, aber ich finde es nicht. Oder, auch nicht besser, ich finde es und dann passt es nicht. Dass ich meistens aber Freude habe mit den unendlich vielen Wörtern, hat, glaube ich, mit meiner Biografie zu tun. Dieser Überfluss an Wörtern ist für mich eine Art von Freiheit. Das macht für mich den Sog dieser Art von Arbeit aus, sie hat einen ganz anderen Sog, als wenn ich mit der Hand etwas schreibe oder am Computer, einen Prosatext oder einen Essay, es ist eine andere Ausgangssituation.

Dieses Glück des Findens oder das Unglück des Nichtfindens ist aber nicht einfach ein zufälliger Vorgang so wie in den dadaistischen Gedichten des frühen Tristan Tzara, in denen der Zufallswurf entscheidend war. Das entspricht nicht Ihrer Art der Arbeit, Sie betten das Gefundene ja stets in eine Struktur ein.

Meine Collagen sind konventionell, nicht experimentell. Ich möchte mit ihnen etwas sagen, einen bestimmten Inhalt transportieren. Und vielleicht auch: Ich möchte etwas zusammensetzen, weil ich so viel Zerbrochenes kenne. Die Collagen haben übrigens auch nichts mit Droh- oder Erpresserbriefen gemein, wie es immer wieder in Besprechungen zu lesen gewesen ist. Das macht mich wütend, weil ich denke, meine Güte, was für eine unmögliche Assoziation. Ich weiß nicht einmal, wie ein richtiger Erpresserbrief aussieht.

Das ist dann doch etwas ganz anderes: die zerbrochene Form, die etwas mit der zerbrochenen Biografie, mit brüchigen Erfahrungen und der abgebrochenen Biografie zu tun hat …

Es gibt mir Sicherheit, wenn ich weiß, ich habe dieses Reservoir an Zeitschriften und Verlagsprogrammen. Ich kann diesem Reservoir entnehmen, was ich will und wie ich es will. Ich kann entscheiden, was für meine Arbeit taugt. Wörter aus einem Boulevardblatt, das für sich nichts wert sein mag, taugen für mich dennoch als Material. Das ist für mich meine Freiheit bei dieser Arbeit. Aber es gibt auch eine Regel, die ich mir gesetzt habe: Mein Format ist die Größe einer Ansichtskarte. Ich kann nur so viele Wörter und Bilder benutzen, dass sie Platz auf dieser Karte haben, mehr nicht. Das ist die Regel und das andere ist die Freiheit. Das ist wie im Leben: Da sind die Tatsachen und in die Tatsachen muss ich die Freiheit hineinkriegen, immer wieder muss sich die Freiheit an den Tatsachen reiben, so lange, bis ich das Höchstmögliche, das ich mir wünsche, erreiche. Das ist Arbeit.

Wir bedanken uns ganz herzlich für dieses Gespräch.

Berlin, Januar 2020

TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller

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