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»Inge. Einem Inspektor gewidmet«: Ironische Dekonfiguration der Propaganda

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Das Editorial der »Neue(n) Literatur. Zeitschrift des Schriftstellerverbandes der SR Rumänien« von 1981, das auch drei Erzählungen Herta Müllers enthält, ist dem fünfzigjährigen Jubiläum der Zeitung »Scînteia« (dt. »Der Funke«) gewidmet. Bereits 1931 habe diese »gegen die Reaktion und den Faschismus, gegen den Krieg, für soziale Freiheit und nationale Unabhängigkeit, für Demokratie und Sozialismus« gekämpft; die »demokratische Presse«, die auch eine »revolutionäre« gewesen sei, habe die Richtung des »stets ansteigenden Wegs zum Fortschritt und zur Zivilisation« aufgezeigt, den die Gesellschaft nach der »Befreiung« beschreite.22

Diesen Zeilen würden heutige Leser in einer demokratischen Gesellschaft auf Anhieb wohl zustimmen; tatsächlich beziehen sie sich aber auf eines der zentralen Organe der Kommunistischen Partei Rumäniens, auf eine der wichtigsten publizistischen Stützen der Diktatur Ceauşescus, eine Zeitung, die dem Geheimdienst nahestand und Propaganda in dessen Sinne verbreitete. Die Zeilen vermitteln einen Eindruck davon, was Herta Müller mit der ›hölzernen Sprache‹ der Diktatur und der Komplizenschaft aller Wörter meint, auf die kein Verlass mehr ist. Will man nicht mit diesem totalitären Zugriff auf die Welt identisch sein, muss man ironisch vorgehen, die Begriffe ihren Verwendungszusammenhängen entreißen, eher subjektiv-aisthetische als rationale Pfade einschlagen, um die Absurdität dieser doppelbödigen Ordnung aufzuzeigen. Etwas anderes bleibt den Figuren, die in dieser überwachten Welt leben, auch kaum übrig, unterliegen doch jeder Begriff und jede Interaktion der Definitionsmacht des Totalitarismus.

In der »Scînteia« wird außerdem der Journalismus im Dienst des ganzen Volkes, »ohne Unterschied der Nationalität« zur »Hebung des Lebens- und Zivilisationsstandards« und zur »vielseitigen Vervollkommnung der Organisation und Leitung der Gesellschaft« gelobt; abschließend verwirft das Editorial feindliche »Denkungsarten sowie fremde Anschauungen und Einflüsse (…), Tendenzen des Parasitentums, eines Lebens ohne Arbeit« und spricht sich für »Ethik und Rechtlichkeit« aus.23 Damit kristallisiert sich ein Feindbild heraus – jenes des Schmarotzers, der den Dienst an der vermeintlich intakten Solidargemeinschaft verweigert.

Just in diesem Heft der »Neuen Literatur« erscheint Herta Müllers Erzählung »Inge«, mit der Zueignung »Einem Inspektor gewidmet«. Die Hauptfigur Inge ist offenkundig arbeitslos, auf sie trifft also das im Editorial beschworene Stigma zu. Sieben weitere Erzählungen Müllers handeln von einer Figur dieses Namens, »In einem tiefen Sommer«, »Schulbankgesicht«, »Möbelstücke«, »Der Regen«, »An diesem Tag«, »Eine Arbeit« und »Es ist Sonntag«; Inge wohnt stets eine autofiktionale Funktion inne, wie Herta Müller selbst erklärte.24

Mit dieser hilflosen, ihren eigenen Wahrnehmungen ausgelieferten Figur entwickelt Müller schon früh ein wichtiges Merkmal ihres Stils. Drastisch schildert ihre Sprache Verletzungen, die Inge erlebt, indem sie keiner Ideologie einen Sinn abgewinnen kann, obwohl sie über keinen eigenen belastbaren Selbst- und Weltentwurf verfügt. Gewalterfahrungen und bedrückende Leere bestimmen demzufolge Inges Erleben. Weil sie die Staatsideologie nicht teilt, wirkt diese nicht sinnstiftend; ihre Sozialisation im System hat zur Folge, dass ihr sowohl öffentlicher Widerstand als auch eigenständige gesellschaftliche Gegenentwürfe sinnlos scheinen. Auch kommen die Machthaber als moralisch und intellektuell beschränkte Wesen daher – sie erinnern an Hannah Arendts »Banalität des Bösen« und vermitteln den Eindruck, eine gegen sie initiierte Revolte gar nicht begreifen zu können. Daher verlagert sich Inges Widerstand nach innen, in eine subjektive, individuelle Sprach- und Bildwelt. Diese Disposition wird nicht als individuelle Schwäche dargestellt, sondern als Effekt eines gesellschaftlichen Systems, das selbst keine Spielräume für offenen Widerstand zulässt. Im Leiden Inges an den Menschen, denen sie begegnet, äußert sich Kritik an der generalisierten Angst, an der Internalisierung der Regeln der Diktatur und an Automatismen, die an die Stelle zwischenmenschlicher Interaktionen getreten sind. Inge weigert sich, auf vorgefertigte Versatzstücke, auf Skripte zurückzugreifen, die in der sozialistischen Diktatur sicherstellen, dass die Einzelnen aus Sicht des Geheimdienstes Securitate keine Fehler begehen. Damit verschmäht sie das Sinnstiftungsangebot der totalitären Gesellschaft. So leistet sie eine Form passiven Widerstands, der mit eigener Beschädigung einhergeht – denn Inge ist den Gewaltmustern ausgesetzt, ohne die Partizipationsangebote der sozialistischen Gesellschaft wahrzunehmen und ohne ihr Widerständig-Sein mit anderen zu teilen.

Durchgehend findet sich im Innenleben Inges das Motiv der systematischen Umkehrung der in ihrer Gesellschaft bekannten Markierungen als Befreiungsakt – sei es, dass sie auf Landschaften, auf den menschlichen Körper oder auf einzelne Sinneswahrnehmungen bezogen sind. In einem Bewusstseinsstrom voller Montagen, die die allgemeine Proliferation der Täterschaft spiegeln, wird selbst die Vegetation übergriffig. Nicht nur die Natur, auch das eigene Empfinden und die Sprache, die der Verstand vergebens einsetzt, um sich zu orientieren, sind korrumpiert von allgegenwärtiger struktureller Gewalt. Gleichzeitig ringt Inge mit sich selbst, um sich davon zu lösen: »Der Himmel war dieselbe Betonplatte wie das Pflaster, auf dem Inge mit den Füßen stand. Inge musste auf dem Kopf gehen, weil der Himmel auch ein Gehsteig war.«25 Im Fortlauf dieser surreal anmutenden Szene, die an den Anfang von Georg Büchners »Lenz« erinnert, spießt ein Baum Inge auf, sie bearbeitet darauf hin alle Blätter mit den Zähnen, »bis alle Blätter gezackt waren und einen anderen Baum bildeten. Inges Kopf drehte sich und stellte sich quer. Er stand mit dem Hals nach oben.«26 In diesen Hals legt eine fremde Frau, eine Botin des Geheimdienstes, einen Strauß samtschwarzer Rosen – Kondolenzblumen – und beteuert, sie passten gut zu Inge, der Hals müsse bloß etwas tiefer werden.

Unübersehbar setzt sich die Erzählung mit Morddrohungen auseinander, die von Fremden wie der Frau mit den samtschwarzen Rosen auf offener Straße ausgesprochen werden, und mit der übermächtig werdenden Angst vor den Vollstreckern des sozialistischen Überwachungsstaates. Infolge der Verinnerlichung sozialistischer Normierung und ihrer Externalisierung sind diese überall anwesend – auch in der eben nur scheinbar davon unbelasteten Vegetation: »und ein Baum (…) stemmte sich durch Inge hindurch und spießte sie auf«.27

Die Erzählung offenbart, dass die Hauptgestalt unterschiedlichen Gewaltstrukturen ausgesetzt ist – marschierenden Soldaten, Milizmännern, einem Beamtenapparat, dessen Allmacht willkürlich ausagiert wird, entsolidarisierten Mitmenschen und einer Amtssprache, die die Welt in diesem Geist kartiert. Der Text verhält sich zugleich aber auch widerständig gegen diese Gewalt, zum einen, indem er deren brutale Absurdität entlarvt, zum anderen, indem eine eigenlogische Wahrnehmung willkürliche Schnitte durch Bilder und Wörter vollzieht und Inges individuelle, nicht mehr im Dienst des Totalitarismus stehende Selbst- und Weltsicht zum Vorschein bringt.28

Inge tritt vor einen Inspektor, dessen wirrer – und deshalb keinen Widerspruch duldender – Monolog darauf hinausläuft, dass sie entlassen wird, weil sie als studierte Lehrerin nicht als Übersetzerin in einem Maschinenbauunternehmen eingesetzt werden kann. Die Begründung ist fadenscheinig, weil das Lehramtsstudium in Rumänien nicht unüblich als Qualifikation für die Übersetzerlaufbahn war.

Herta Müller hatte selbst eine solche Arbeitsstelle infolge ihrer Weigerung, mit dem Geheimdienst zusammenzuarbeiten, verloren, und dadurch traf das Stigma der ›Asozialität‹ und des ›Parasitentums‹, das im Editorial der Zeitschrift, in der ihre Erzählung erschien, beschworen wurde, aus Sicht von Partei und Geheimdienst auf die Autorin zu. »Inge« steht in einem geradezu grotesken Verhältnis zum Editorial, denn dieses Stigma wird als Folge der Machtausübung von Partei und Geheimdienst mit ihrem Verwaltungs- und Vollstreckungsapparat entlarvt. Als missliebig empfundene Person konnte sie entlassen – da der Staat der einzige Arbeitgeber war – und sozial vernichtet werden, indem sie als unsolidarische ›Asoziale‹ gebrandmarkt wurde.

Logik hat der Ministerialvertreter gar nicht nötig: »Also, wie gesagt: da demnach dennoch das Maschinenbauministerium weil Sie, nachdem, seit der Betrieb, während dieser Zeit eine Stelle, sondern, oder Ihnen angehört, und das Maschinenbauministerium leider währenddessen, also das Unterrichtsministerium deshalb durch den Betrieb (…) seither, demnach auf keinen Fall zuständig ist.«29

Die Poetik, aus der 1993, wenige Jahre nach der Flucht in die Bundesrepublik, der erste Collagenband mit dem Untertitel »Vom Weggehen und Ausscheren« hervorgehen sollte, kündigt sich hier schon an: Die Brüche und Lücken im Sprachteppich des Beamten sind das Entscheidende. Sie bringen die Leser auf die Spur, auf die es ankommt. Realistisch anmutende Auszüge aus einer Ansprache werden so miteinander verschnitten, dass Sinnangebote jenseits logisch nachvollziehbarer Kausalitäten und syntaktischer Regeln entstehen, indem beim Lesen von einem Schnitt zum nächsten geglitten und so eine Spur erkennbar wird, die systemimmanente Gewalt offenlegt; in dieser ironischen Fusion von Realismus und Dada liegt eine der Charakteristiken von Herta Müllers Poetik. In diesem Beispiel führt die Spur auf die Willkür, Selbstgefälligkeit, Rücksichtslosigkeit, aber auch auf die Allmacht des leitenden Beamten, der ministerielle Zuständigkeiten und Gewaltenteilung ebenso ignorieren, wie er die grammatikalischen Regeln missachten und dabei über die Existenz Inges entscheiden kann. Noch deutlicher wird dieser Zug von Müllers Poetik in den Reflexionen über das Collagieren, die Inge in »Reisende auf einem Bein« anstellt. Zudem lässt sich hier schon der Ansatz ausmachen, den totalitären Anordnungen von Sinn – einschließlich der normierten Verhaltens- und Redeweisen – einen eigenen »Irrlauf im Kopf«30 entgegenzusetzen. »Aus dem, was man erlebt hat, sucht sich der Zeigefinger im Kopf auch beim Schreiben die Wahrnehmung aus, die sich erfindet.«31 Dieser ästhetische, auf Sinneswahrnehmungen basierende Widerstand als Verfahren der Dekonfiguration totalitärer Macht gehört zu den Konstanten in Herta Müllers Werk. Er ist grundsätzlich ironischer Natur, denn auf den ersten Blick werden die Verhältnisse bloß aufgezeigt, insgesamt aber werden sie negiert.32

Der Zeigefinger im Kopf arbeitet, so zeigt sich bereits in »Inge«, nicht nur schneller als die Schere der Zensur, sondern er modifiziert die Sinnzusammenhänge und setzt sie neu zusammen; so entfalten sie ein subversives Potenzial. Voraussetzung dafür ist, dass die Faktur totalitärer Zusammenhänge kenntlich wird: Die Figuren werden dabei vorgeführt, wie sie sich im Takt kollektiver Angst synchronisieren und Handlungsaufträge erfüllen, wie die Überbringerin der samtschwarzen Rosen, die Inge mit dem Tod bedroht: »Die Frau sagte links und tat einen Schritt, die Frau sagte rechts und tat einen zweiten Schritt. (…) Inge hörte ihre Sandalen klappern und ihre Stimme links-rechts, links-rechts, links-rechts sagen.«33 Wenn wenig später Inge auf dem Weg zum Schulinspektorat ihre eigenen Schuhe im links-rechts-Takt klappern hört, wird deutlich, dass existenzielle Angst jede und jeden anfällig für Gleichschaltung macht.

Herta Müller führte in der Paderborner Poetikvorlesung »Der Teufel sitzt im Spiegel« aus, in ihrem Schreiben stets von einem »Punkt der Erfahrung, die ich jemals gemacht habe«,34 auszugehen. Mit dem Punkt ist nicht ein factum brutum gemeint, sondern etwas schmerzhaft Erlebtes, das zum Exemplum erhoben wird. Von einem »kleinen brennenden Punkt«35 geht auch die Figur Inge in der gleichnamigen Erzählung aus, wenn sie, nach der Begegnung mit dem Inspektor wieder zu Hause angekommen, auf den flimmernden Fernsehbildschirm starrt und einen eigenen ›Irrlauf im Kopf‹ beginnt. Sie dekonstruiert das »Panoptikum der Todesarten«,36 in dem sie gefangen ist, indem sie sich selbst zur Beobachterin erhebt und eigene Bilder anstelle der vorgeschriebenen setzt – freilich ein solipsistischer Akt, aber in der Textlogik der einzig verfügbare. In einer Reihe imaginärer Mise en abymes bohrt sich ihr Blick in den Fernsehbildschirm und er-findet darin eine Situation, in der sie sich schließlich selbst beobachten und widerständig agieren kann: »Der Punkt weitete sich und wurde so groß wie der Bildschirm selbst. Inge sah auf dem Bildschirm ihr Zimmer. Inge sah Inge in Inges Zimmer auf Inges Bett liegen. Inge sah Inge auf einem Bildschirm auf einen Bildschirm schauen.«37

Zunächst erfolgt die angsteinflößende Augmentation eines Punktes, der wie ein verstecktes Beobachterauge oder wie eine Kamera innerhalb des Fernsehers wirkt. Die Fläche des Bildschirms konvergiert mit einem imaginären Kameraauge, wobei Inge in der Spiegelung auf dem Bildschirm dasselbe sieht (oder zu sehen meint), was auch ein versteckter Beobachter – das geheime Auge der Securitate im augmentierten Punkt – beobachtet. Angst vor dem Beobachtet-Werden und Selbstermächtigung halten sich am Beginn dieser Szene, die die Ambivalenz aller Mediennutzung in einem Überwachungsstaat förmlich auf den Punkt bringt, die Waage. Im letzten oben zitierten Satz vollzieht sich aber ein re-entry der Unterscheidung zwischen Inge und dem Bildschirm auf der Seite des Bildschirms. Inge sieht dann mehr als ein verstecktes Auge aus dem Fernseher sehen und die Spiegelung des Bildschirms zeigen könnte, nämlich sich selbst wie sie auf den Bildschirm blickt, und wird damit zur höherrangigen Beobachterin, die sich selbst unter den Bedingungen eines ambivalenten mediengestützten Beobachtungsregimes sehen und hinterfragen kann. Dadurch durchbricht sie den Terror der internalisierten Überwachung und imaginiert mediale Verhältnisse, die ihr Kontrolle und Deutungsmacht gewähren. Es ist kein Zufall, dass sich Inge genau nach diesem re-entry ihrer selbst besinnt und an den rettenden Zettel mit der Selbstanweisung ›Kopfstand‹ erinnert. Sie vollzieht damit eine das geheime Auge der Securitate (sei es anwesend oder bloß imaginiert) provozierende Geste, die diese Art der Überwachung zugleich in ihren Machtansprüchen unterläuft.

»Der weiße Handschuh des Milizmanns (…) über der Stadt«38 verliert mit diesem finalen Kopfstand, der abermals an »Lenz« und die Subversion einer als ›verrückt‹ empfundenen Welt erinnert, seinen Schrecken. Spiegelungen und allgemein Medialität (z. B. das Auge der Kamera) werden umcodiert vom Moment der Beschämung und Entmündigung zu einem der Selbstermächtigung: Der Teufel sitzt allenfalls in dem Sinne im Spiegel, als er den Weg zu selbstreflexivem Widerstand und Subversion weist.

In dieser frühen Erzählung gelingt es Herta Müller, »die Spanne« zwischen der Konfiguration der totalitären Ordnung und der »erfundenen Wahrnehmung«,39 die subversiv und de-konfigurierend wirkt, kenntlich zu machen: die Faktur der Gewalt wird ebenso offengelegt wie die Tatsache, dass sie keinen Geltungsanspruch erheben kann und am Ende wie ein Trugbild zerrinnt.

Der Kontrast des Gehalts der Erzählung zum Bekenntnis im Editorial, die »Entwicklung des Geistes der Freundschaft und der Verbrüderung zwischen allen Werktätigen, ohne Unterschied der Nationalität, für die Festigung der Einheit unseres ganzen Volkes« als »ständige Aufgabe«40 anzunehmen, könnte kaum deutlicher sein. Die Redaktion beschwört den »Einklang mit der gesamten Presse«41 – Herta Müller entlarvt ihn als totalitären Gleichtakt; die Redaktion bekennt sich zur »Tradition im besten Sinne der humanistischen und kommunistischen Tätigkeit der Journalisten und Schriftsteller«42 – Herta Müller verweigert sich nicht nur affirmativer Sinnstiftung, sondern zersetzt ihren Anspruch und setzt individuelle Eigenlogik dagegen.

Die Erzählung »Inge« wurde im Band »Niederungen«, der 1982 im Kriterion Verlag in Bukarest erschien, wieder abgedruckt. Zwar wurden der jungen Schriftstellerin Preise und Ehrungen zuteil, doch beim Geheimdienst gingen bereits harsche Anklagen ein: »Kritik und noch mehr Kritik. Diese Kritik ist so destruktiv, dass man sich fragen muss, was denn der Zweck dieser Texte sein soll (ACNSAS, FI, Akte 233477, Bd. 1, 5).«43 Langjähriger Chefredakteur der »Neuen Literatur« war von 1969 bis 1984 Nikolaus Berwanger, auch er ein banatdeutscher Schriftsteller, der sich 1984 für die Flucht in die Bundesrepublik entschied und dort ab 1987 im Marbacher Literaturarchiv arbeitete; er ließ durchaus kritische Untertöne jüngerer Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu. Das Personengeflecht von Redakteuren, Zensoren, Parteifunktionären, die alle als Spitzel infrage kamen, steigerte den Druck auf die Schriftstellerin erheblich. Interessanterweise wurde »Inge« aber nicht in die Ausgabe der »Niederungen« aufgenommen, die 1984 im Rotbuch Verlag erschien. Wilhelm Solms vermutete schon 1990, dass Herta Müllers Erzählungen gerade dort, wo sie ihre höchste »poetische Intensität« entfalten, »kaum zu ertragen sind« für die bundesdeutschen Leserinnen und Leser, und dass sie deshalb vom Lektorat nicht in die Ausgabe aufgenommen wurden. »Die ›eingefrorenen Bilder‹ aus dem Banater Dorf: die Bilder von den Schneemännern mit den ›Augen voller Gewalt‹, von den vor Gelbsucht fiebernden Pappeln und von den alten alleingelassenen Frauen – ›die leeren knochigen Kopftücher ohne Gesichter‹ – bleiben im Gedächtnis haften.«44

TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller

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