Читать книгу TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller - Группа авторов - Страница 7

Erzählte Übergänge gegen die definitorische Gewalt des Kollektivs

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Die Zeit der überlappenden Publikationsorte in den zwei unterschiedlichen Systemen ist besonders spannungsreich. Nicht nur schreibt Herta Müller für zwei unterschiedliche Lesergruppen, sie publiziert auch in zwei ganz gegensätzlich strukturierten Literaturbetrieben. Während die Leserinnen und Leser im sozialistischen Rumänien vor dem Ausmaß der Systemkritik erschauderten und sich vielleicht zum Widerstand ermutigt fühlten, wirkten die Texte auf das bundesdeutsche Publikum albtraumhaft und surreal. Nach dem Umbruch 1989 sah sich Müller recht bald mit dem Vorwurf konfrontiert, ihr Schreiben sei mit dem Ende des realexistierenden Sozialismus obsolet geworden. Im späteren Essayband »Der König verneigt sich und tötet« hält sie dieser Kritik entgegen, der geradezu obsessive Wunsch nach Normalität infolge der deutsch-deutschen Vereinigung führe zur Ausblendung der DDR und weiterer sozialistischer Gesellschaften, ähnlich wie der Nationalsozialismus in der Nachkriegsliteratur kaum thematisiert wurde. Mit nicht ganz belastbaren Argumenten werde die angeblich nicht mehr zur Gegenwart gehörende sozialistische Gesellschaft als literarisches Sujet desavouiert: »Im Falle deutscher Themen ist die Gegenwart zum Glück elastisch, dehnt sich Jahrzehnte zurück. Keinem Roman, der weit zurückliegende deutsche Belange thematisiert, sei es Nachkriegszeit, Wirtschaftswunder oder 68er Jahre, wird von der Literaturkritik der Vorwurf des längst Vergangenen gemacht (…).«8 Herta Müller hat früh betont, dass die Erinnerung an die Securitate und ihre literarische Darstellung zu Deutschland gehört. Den wohlgemeinten Rat, »mit der Vergangenheit aufzuhören und endlich über Deutschland zu schreiben«,9 entlarvt sie als Begehren, einen homogenen ›deutschen‹ Erinnerungskanon aufrechtzuerhalten und ihn gegen irritierende Erfahrungen und Erinnerungen aus anderen Teilen des europäischen Kontinents oder der Welt abzuschotten. Diese werden als irrelevant eingestuft für ein imaginiertes Kollektiv, das schon in der zurechtweisenden Ansprache Normierungs- und Normalisierungsansprüche erhebt: »Bei uns in Deutschland«, so auch der Titel des Essays. Dabei ist die Poetik Herta Müllers schon im Frühwerk eine, die sich kollektiven Identitäten verweigert und stattdessen auf den Einzelfall setzt – auf Individuen, die Übergänge gestalten. Sie ist gespeist von der Erfahrung, wie ihre Familie als »›Mitwohnende‹ zum Spielball rumänischer Gastfreundschaft«10 wurde; sie zielt somit auf europäische und globale entangled memories in einem Deutschland, das nicht bloß »virtuelle Inder«11 zulässt. »Je mehr Augen ich für Deutschland habe, um so mehr verknüpft sich das Jetzige mit der Vergangenheit«12 – einer Vergangenheit, deren räumliche und thematische Eingrenzung heute nicht zuletzt dank der Postkolonialen Studien obsolet geworden ist. Durch den Fokus auf individuelle Erfahrung und Übergänge ist Müllers Poetik schon von Anfang an gegen Zentren und normalisierte Beobachtungsregimes ausgerichtet; das betont sie in der ironischen Umkehrung der ständigen Akzentkorrekturen, die sie in Deutschland erfährt: Weil sie von einem deutschen Werbeplakat an das schwarze ›Pech-Brot‹ des Totalitarismus erinnert wird, weist sie auf den Fehler hin, dass ›Pech-Brot‹ in der Anzeige »mit ae geschrieben« werde, »aber wie die Blumenverkäuferin schon sagte: ›Das macht ja nichts‹«.13

Herta Müller beschreibt ihren eigentlichen Anfang als Schriftstellerin nach dem Tod des Vaters wie folgt: »Ich hatte mich nicht mehr im Griff, mußte mich meines Vorhandenseins in der Welt vergewissern. Ich fing an, mein bisheriges Leben aufzuschreiben – woher ich komme, dieses dreihundertjährige starre Dorf, (…) dieser Vater mit seinem Lkw auf den holprigen Straßen, sein Suff und seine Nazi-Lieder mit den ›Kameraden‹.«14

Es geht Müller keineswegs nur um eine Revision des Selbstentwurfs, wenn auch die Zeilen verdeutlichen, dass das Schreiben durchaus eine persönliche Neuverortung in einem existenziellen Sinn ermöglichte. »Welt«, das »dreihundertjährige (…) Dorf« sowie die »Nazi-Lieder« werden genannt, später auch die Russlanddeportation der Mutter und die mechanische Arbeit im Staatssozialismus. Die Koordinaten der Selbstverortung sind breit gefasst: Die Welt als regulative Idee im Hintergrund, die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus, dem Zweiten Weltkrieg, den zwei Systemen nach 1945 und dem Umbruch 1989 werden in den Erzählungen immer wieder zu Anhaltspunkten für die Verletzungen, die die Einzelnen davongetragen haben. Mehr noch, mit dem dreihundertjährigen Dorf ist eine der vielen großen europäischen Migrationsbewegungen angesprochen, die von West nach Ost verliefen und durch ihre Gegenläufigkeit zur heute von Ost nach West verlaufenden Migration wiederum mit dieser verbunden werden muss. Die Komplementarität der beiden Migrationsrichtungen ist nicht nur, aber auch an Deutschsprachigkeit geknüpft. Bereits in den Erzählungen aus dem Band »Niederungen« werden Einblicke in die banatdeutsche Gesellschaft gewährt, die sich nicht nur über die deutschen Schulen, den eigenen deutschen Kultur- und Pressebetrieb und die geschlossenen Ortschaften definiert, sondern auch durch die Katholische Religion von den mehrheitlich das Banat bewohnenden Rumänen unterscheidet. Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Normierungen und Exklusionsregeln mag es eher mit woanders in Europa liegenden traditionsorientierten katholischen Dörfern geben.

Herta Müllers frühe Texte sind somit vor allem Geschichten mühsamer Übergänge, die sich entweder wider alle Wahrscheinlichkeit gegen enorme Widerstände dann doch vollziehen oder ausbleiben und die Figuren in einer unerträglichen Aussichtslosigkeit zurücklassen. Erzwungen werden diese Übergänge durch eine schier unerträgliche strukturelle Gewalt, die zum einen in den banatdeutschen Gemeinschaften von Generation zu Generation weitergegeben wird, zum anderen im Staatssozialismus entsteht, der seine eigenen Bürger überwacht und einschüchtert.

Aktuell an Herta Müllers frühen Erzählungen ist zudem der transnationale Blick auf Europa. Wenn sich Gemeinschaften wie die banatdeutsche selbst dreihundert Jahre nach ihrer Einwanderung in ein Territorium, das mehrheitlich von anderen bewohnt wird, immer noch abschotten und einen Überlegenheitsanspruch aufrechterhalten, wird dies als Gewaltmoment dargestellt. Als Preis für die Gruppenzugehörigkeit müssen die Banatdeutschen auf inter- und transkulturelle Selbstentwürfe verzichten. Genau dies, nämlich Inter- und Transkulturalität im dargestellten mehrsprachigen Raum, wären in den Erzählungen Müllers ex negativo das Naheliegende – zumindest insofern, als die Segregation gegenüber Nicht-Deutschen und die Ehen innerhalb der Sprach- und Kulturgemeinschaft als Absurdität entlarvt werden. Übergänge systematisch zu unterbrechen oder zu verhindern, ist das gemeinsame Zeichen totalitärer Logik, das gemeinsame Signum der Gewalt, das den rumänischen Staat und die banatdeutsche Gemeinschaft verbindet.

In »Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt« von 1987 werden die Grenzübertrittsverbote innerhalb der banatdeutschen Gemeinschaft mit jenen des Staatssozialismus parallelisiert: Betreffen im Fall normativer Ethnisierung die Verbote vermeidbare Interaktionen mit Rumänen und weiteren Nicht-Deutschen, untersagen Staat und Geheimdienst Begegnungen mit Bürgern kapitalistischer Staaten und Reisen in diese Länder. In dieser Erzählung wird die Familie Windisch zermürbt durch das Warten auf die Ausreisegenehmigung; ihre Beschädigung gipfelt nach zahlreichen weiteren Bestechungsversuchen im sexuellen Missbrauch der Tochter Amalie durch den Milizmann und den Pfarrer. Die Machtasymmetrie zwischen den Geschlechtern überschreibt hier jene zwischen den Deutschen und den von diesen gering geschätzten ›Walachen‹, denn die Männer teilen sich die Verfügungsgewalt über die junge Frau, die zu schwach ist, um sich zu wehren, und zu eigenständig, um nicht beschädigt zu werden.15 Die karge, parataktische Sprache vermittelt in kurzen Sätzen den Druck, die Staatsgrenzen endlich zu überschreiten. Amalie empfindet wie Rudi, ein Junge aus dem Dorf, der für wahnsinnig gehalten wird, dumpf, aber deutlich, wie sehr einem die Freiheit im banatschwäbischen Dorf geraubt wird. Beide teilen die Faszination für Glaskörper, aus denen Rudi verzerrt-verstümmelte Kunstwerke baut. Der diaphane Charakter der Glaskörper verspricht Durchlässigkeit, Übergang und die Möglichkeit der Überwindung scheinbar nicht passierbarer Barrieren, seien sie gedanklicher, sozialer oder staatspolitischer Natur. Wahnsinn (im Falle Rudis), Flucht in den Westen (über den Fluss oder die Stacheldrahtgrenze) und Tod (als einziger verfügbarer Übergang) sind konkrete Bezugskoordinaten dieser Sehnsucht nach Übergängen. Freilich entlässt fatalerweise weder der ethnische noch der staatliche Ordnungszusammenhang die darin sozialisierten Individuen endgültig. Auch nach der Auswanderung und anlässlich eines kurzen Rückbesuchs zeigt sich, dass die Selbstbeschränkung nicht ohne Weiteres abgestreift wurde und die Übergänge unvollständig blieben.

In »Reisende auf einem Bein« ist der Zustand des Übergängigen konstant geworden, denn die Reisende verzichtet darauf, die Erinnerungen des »andern Landes«16 ganz abzustreifen, sie verknüpft das dort Erlebte vielmehr mit dem in der Bundesrepublik Angetroffenen. Irene, die Hauptgestalt, die infolge der Bekanntschaft mit einem deutschen Touristen an der Schwarzmeerküste in die Bundesrepublik auswandert, begegnet dort einer Gesellschaft, in der sie sich keineswegs als Heimatlose begreift; vielmehr lehnt sie den Gedanken der Beheimatung – wie Herta Müller – konsequent ab: »Ich bin nicht heimatlos. Nur im Ausland. Ausländerin im Ausland.«17 Die Conditio einer Reisenden auf einem Bein, die Beheimatung ablehnt, ist selbst gewählt, sie geht einher mit der Abwehr der Vereinnahmung durch kollektive Identitäten, Staats- oder kapitalistische Raison.18 »Reisende, dachte Irene, Reisende mit dem erregten Blick auf schlafende Städte. (…) Reisende auf einem Bein und auf dem anderen Verlorene. Reisende kommen immer zu spät.«19 Wenngleich es mit Vulnerabilität einhergeht, nirgendwo zugehörig zu sein, zieht Irene es vor, auf ständiger Reise – im Übergang – zu sein, als durch eine feste Verortung in einem Kollektiv eine total erschlossene Welt gelten lassen zu müssen (und damit auch die eigene Identität als ›geklärt‹ zu betrachten). Diese Auffassung vom Individuum ist in der klassischen Moderne angelegt und keineswegs neu; neu ist aber die Art, wie die fehlende Permissivität der Gesellschaften gegenüber der Individualität in Herta Müllers radikaler Sprache als Gewalt kenntlich gemacht wird: Die Figuren werden auch in der Bundesrepublik mit Forderungen konfrontiert, sich auf Räume und Kollektive festzulegen, sich über Generationenfolgen zu definieren, was Irene als maßlose Zumutung ablehnt – in Abgrenzung von jenem in Deutschland lebenden Italiener, der Irene in der Textlogik im Namen einer falschen Solidargemeinschaft der ›Heimatlosen‹ vereinnahmen will. Sie lehnt dies entschieden ab.

Auch und gerade Figuren des Abjekten kehren in der Bundesrepublik wieder: der onanierende Mann, für den die Protagonistin eine seltsame Anteilnahme empfindet. Diese liegt darin begründet, dass das Onanieren einer Internalisierung des Übergangsverbots gleichkommt. So wie in der totalitären Gesellschaft abgeschottete Systeme gewünscht sind, bleibt der Mann im eigenen Körper eingesperrt, er bezieht die anderen allerdings in missbräuchlicher Weise in sein Agieren ein: Am rumänischen Strand starrt er, hinter Büschen versteckt, auf kichernde Mädchen am Strand, in einer nächtlichen Straße Westberlins steht ein anderer Mann an einer Ecke, hält sich eine Aktentasche vor und flüstert Passantinnen – so auch Irene – etwas zu. Während sein rumänisches Pendant nicht als bedrohlich wahrgenommen wird, sondern allenfalls Mitleid weckt, erregt die Angst der Passantinnen vor einem Überfall den deutschen Onanierer.20

Es geht Herta Müller freilich nicht darum, die demokratische und wesentlich freiere Gesellschaft der Bundesrepublik mit dem Staatssozialismus gleichzusetzen; vielmehr wohnt ihrer Poetik ein sehr feines Sensorium für kollektive Festschreibungen, Verweigerung von Individualität und fehlende Durchlässigkeit gegenüber Selbstentwürfen inne. Die Diskurse und Mechanismen, die individuelle Übergänge hier wie dort verhindern, werden in ihrer jeweiligen Spezifik (de)konfiguriert.

Herta Müller beschreibt in »Reisende auf einem Bein« Szenen der Verwahrlosung in der Bundesrepublik, die freilich weniger auf staatlichen Normierungszwang zurückzuführen sind als auf normalisierte Empathielosigkeit und auf die Kopplung von Ästhetik und Kommerz. Außerhalb der Verkaufsflächen mehren sich unwirtliche Räume: »Die ganze Stadt war die Rückseite der Stadt.«21 Die Vorderseite wird in den Texten nicht eingeblendet, doch nicht die Versprechung, sondern die Verhinderung von Möglichkeiten sind von Belang.

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