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(De-)konfigurationen totalitärer Ordnung Herta Müllers Frühwerk bis 1989

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Bis zum europäischen Systemumbruch 1989 hatte Herta Müller vor allem in rumänischen, aber auch in einigen bundesrepublikanischen Zeitschriften und Zeitungen (u. a. »Akzente«, »Die Zeit«) Lyrik und Prosa veröffentlicht. Erschienen waren in Rumänien zwei Prosabände sowie einzelne Erzählungen; in der Bundesrepublik zwei Erzählungsbände (nicht identisch mit den in Rumänien publizierten) sowie eine Erzählung und ein Roman. Um diese Texte wird es hier gehen; ihnen ist gemeinsam, dass sie von der direkten Auseinandersetzung mit dem rumänischen Geheimdienst Securitate, von Staatsgewalt und Zensur handeln. Nicht minder bedeutsam ist aber, dass es genau diese Umstände waren, die Herta Müllers Schreibweise geprägt haben und die außerdem motivischer Ausgangspunkt ihres Schreibens bis heute geblieben sind. Herta Müllers eigentlicher Anfang literarischen Schreibens fällt mit dem Tod des Vaters zusammen, der Mitglied in der Waffen-SS gewesen war und von der Tochter wegen seiner Kameradschaftslieder und seines Alkoholkonsums als abstoßend und als abweisend empfunden wurde. Als Iosif Müller am 6. Februar 1978 starb, hatte sich seine Tochter bereits aus der beengenden Welt des banatschwäbischen Nitzkydorf befreit, hatte sich in der Kreisstadt Temeswar (Timişoara) eine neue Alltagssprache, das Rumänische, angeeignet, die das Banater ›Minderheitendeutsch‹ ablöste. Sie hatte 1976 ihr Studium der Germanistik und Rumänistik in Temeswar beendet und auf die Vermittlung Nikolaus Berwangers (Leiter des Adam-Müller-Guttenbrunn-Schriftstellerkreises und Herausgeber der Zeitschrift »Neue Literatur«) eine Anstellung als Übersetzerin in einer Maschinenbaufabrik gefunden. Lyrische Texte wie »Am Schwengelbrunnen« oder »Legende«, die 1972 in »Wortmeldungen. Eine Anthologie junger Lyrik aus dem Banat« erschienen, wurden durchaus wahrgenommen und geschätzt; auch die »Neue Banater Zeitung« druckte zwischen 1970 und 1976 regelmäßig Gedichte Herta Müllers. Die Gedichte sind keineswegs glatt und harmonisch, sie setzen sich – anfangs mit Humor, später sprachskeptischer, wie in »Niemals« von 1976 – mit der Anfälligkeit der Welt, aber auch mit der Unzulänglichkeit von Traditionen wie Emotionen auseinander. Herta Müller verwirft später die zwischen 1970 und 1976 entstandenen Texte aber als erste Versuche, die vor ihrem eigentlichen schriftstellerischen Werk liegen, das für sie erst nach dem Tod des Vaters einsetzt. Ab 1978 beginnt Müller hauptsächlich Kurzprosa zu schreiben; diese Phase setzt mit »Die Strassenkehrer« in der Zeitschrift »Echinox« ein und endet 1985 mit »Matthias« in »Neue Literatur«.1 Bereits ein Jahr zuvor, 1984, war im Berliner Rotbuch Verlag der Band »Niederungen« erschienen, der im Vergleich zur Bukarester Ausgabe von 1982 eine geringere Anzahl an Erzählungen enthielt (nur jene in der Ich-Form). War der Folgeband »Drückender Tango« in Bukarest bereits 1984 erschienen, folgte im Berliner Rotbuch Verlag 1987 der Band »Barfüßiger Februar«, der neben einigen neuen Texten Erzählungen aus »Drückender Tango« enthielt; insgesamt entstanden in dieser Zeit 73 Prosatexte, von denen bei Weitem nicht alle auch in Deutschland publiziert wurden.2 Im Jahr 1986 erschien in Deutschland eine bemerkenswerte, lange Erzählung, die ansatzweise schon wie ein Roman angelegt ist: »Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt« – eine Erzählung, in der sich der auf den Einwohnern eines Banater Dorfes lastende Druck so lange steigert, bis sich die Fluchtversuche häufen und immer mehr Menschen alles daran setzen, die Ausreisedokumente zu erhalten. Nachdem Herta Müller 1987 nach Westdeutschland übergesiedelt war, folgt mit »Barfüßiger Februar« im selben Jahr zunächst ein weiterer Prosaband. Der Roman »Reisende auf einem Bein«, 1989 erschienen, lässt sich als Seismogramm des Systemwechsels und der Begegnung mit der bundesdeutschen Gesellschaft lesen. Als Dokument des Übergangs schließt er die erste Schaffensphase ab, die von den literarischen Produktionsbedingungen eines durch die zwei Systeme gespaltenen Europa geprägt war.

Bei näherem Hinsehen ist der Übergang nicht nur ein Motiv, das in Gestalt eines Wunschtraums die Figuren beschäftigt (ob es um Flucht, Todessehnsucht oder die Überschreitung kultureller und sprachlicher Grenzen geht), sondern auch ein ästhetisches Prinzip. Der Grund dafür ist einfach: Die totalitäre Ordnung und ihre Sprache3 bauten auf vermeintlich unfehlbare Referentialisierung, eindeutige Ordnungs- und Handlungsmuster im öffentlichen wie im privaten Raum auf.4 Überschreitungen dieser Grenzziehungen waren weder als Praktiken noch als Semantiken erwünscht. Herta Müllers innovative Metaphern, ihre Serien von Bildern und Begriffen, die von subjektiven Ähnlichkeitsrelationen zusammengehalten werden, lassen sich als Teil einer Poetik des Übergangs verstehen, die sich in jeder Hinsicht widerständig zu den abgesteckten Revieren verhält, die das totalitäre Regime Ceauşescus dem Denken, Empfinden und Handeln der Einzelnen zugestand.

Inhalt und Form der Texte lassen sich auffassen als Auseinandersetzung mit den sprachlichen und polizeilichen Sicherheitsmaßnahmen, die sowohl die banatdeutsche Gemeinschaft als auch das staatssozialistische Rumänien in je unterschiedlicher Weise ergriffen haben, um übergängiges Denken und Handeln, individuelles Empfinden, selbstwirksames Agieren und Originalität zu verhindern. Im Versuch dennoch Übergänge zu gestalten, stoßen Einzelne an die streng bewachten Grenzen der Sprache und Ordnungsmuster und provozieren jene Verletzungen, die ihnen das System zufügt.

In den letzten beiden Jahren vor der Wende erzählen die Texte immer häufiger auch von den Übergängen zwischen Deutschland und Rumänien sowie zwischen der deutschen Mutter- und der rumänischen Umgangssprache.5 Herta Müllers Prosa wird in diesen Jahren selbst ›übergängig‹, denn sie gehörte zwei konträren Gesellschaftssystemen an, erschien in einem jeweils völlig anders gearteten institutionellen Umfeld und richtete sich an die rumänische und die bundesdeutsche Leseöffentlichkeit, die verschiedener kaum hätten sein können. Die Erzählungen der mittlerweile in Berlin ansässigen Schriftstellerin standen in einem starken Spannungsverhältnis zu den Erfahrungswelten der bundesdeutschen Rezipient*innen, während die deutschsprachigen Leser*innen in Rumänien die realistische Intensität der Erzählwelten spürten, in denen sie sich wiederfanden. Dennoch waren die Texte auch und gerade wegen ihres ›übergängigen‹ Charakters in beiden Ländern erfolgreich; erst recht nach der Systemwende wuchs das Interesse daran immer weiter. Möglicherweise hing diese Erfolgsgeschichte nicht allein mit der sprachkünstlerischen Qualität der Texte sowie ihrer Funktion als Seismogramme seelischer Verletzungen in einer der repressivsten Diktaturen der Nachkriegszeit zusammen, sondern auch damit, dass ein transnationales Verständnis Europas und seiner Geschichte immer wichtiger wurde. Dazu gehören die Perspektiven deutschsprachiger Gemeinschaften wie der Banatschwaben – die zugleich auch rumänische Bürger unter der Diktatur sind und außerdem oft in den Nationalsozialismus verstrickt waren, was aber weder in der Bundesrepublik noch in Rumänien aufgearbeitet wurde – und die später großenteils verdrängten Deportationen in russische Arbeitslager. So verweist die Erzählung »Überall, wo man den Tod gesehen hat« aus dem Band »Barfüßiger Februar« auf die Shoah in der Maramuresch, einem Landstrich in Nordrumänien: »Da steht der große schwarze Stein, das Denkmal für die 38 000 Juden aus der Maramuresch, die im Mai 1944 nach Auschwitz deportiert und vergast worden sind.«6 Die Verbrechen des Nationalsozialismus werden nicht nur in diesem Text Müllers thematisiert7 – insbesondere auch diejenigen des eigenen Vaters. In der »Grabrede«, eine in »Niederungen« aufgenommene Erzählung, die schon 1980 in der Zeitschrift »Neue Literatur« erschienen war, erfährt die Tochter auf dem Friedhof anlässlich der Beerdigung ihres Vaters von einem der Sargträger, dass der Vater als Waffen-SS-Soldat an Massenerschießungen beteiligt gewesen war, an einer Massenvergewaltigung teilgenommenen und dabei eine Frau vorsätzlich brutal verletzt hat. Als SS-Soldat war der Vater aber auch in Deutschland gewesen, hatte an Gräueltaten teilgenommen und war, verstört, aber als Täter belastet, ins Banat zurückgekehrt; eine Aufarbeitung seiner Schuld hat es nie gegeben. Seine Tochter erlebt die Bestattung als eigene Beschämung und Verletzung, ja als Hinrichtung im Namen der Dorfgemeinschaft, die ihr eine doppelte Schuld auflädt: Zum einen jene des Vaters, zum anderen die für die Abweichung von der Dorfmoral (sie trägt zur Beerdigung eine durchsichtige Bluse). Der Übergang in den Tod – ihre Hinrichtungsszene – findet aber, wie sich am Ende herausstellt, nur im Traum statt.

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