Читать книгу Geschichte und Region/Storia e regione 29/1 (2020) - Группа авторов - Страница 5

Editorial

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„Eine dritte Medienrevolution nach der Ausbildung der menschlichen Sprache und der Einführung komplexer Schriftsysteme“ sei die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern im 15. Jahrhundert gewesen, schreibt Reinhard Wittmann, einer der prominentesten Akteure der deutschsprachigen historischen Buch- und Leser*innenforschung der vergangenen Jahrzehnte, in seiner Geschichte des deutschen Buchhandels.1 Und mit ähnlichen Superlativen rund um Johannes Gensfleisch und seine Erfindung wurde auch von anderer Seite zurecht selten gespart. Gar epochemachender Charakter wurde ihr zugesprochen, wie der häufig zitierte Ausspruch Goethes beispielhaft zeigt, demzufolge sich die „Welt- und Kunstgeschichte“ in eine Phase vor und eine nach der Erfindung der Buchdruckerkunst teile.2

Tatsächlich ist das, was im Kern lediglich eine neue (zugegeben geniale) Technik war, die eine Vervielfältigung von Geschriebenem dramatisch beschleunigte, in seinen mannigfaltigen Auswirkungen schier unüberblickbar: Dazu zählen unter anderem die Erleichterung der Verbreitung und Speicherung von Informationen, die veränderten Rahmenbedingungen der Generierung von Wissen in stark erweiterten „virtuellen“ Diskursräumen, die zugleich als Arenen politischer Agenden dienen, oder aber mentalitätsgeschichtliche Aspekte. Doch gleich, mit welchen der unterschiedlichen Aspekten dieser Revolution sich wissenschaftliche Analysen beschäftigen, zugrunde liegt ihnen, wenngleich nicht immer explizit formuliert, stets eine a-priori-Konstante: Es ist die unbestrittene Überzeugung, dass diesen Druckerzeugnissen – vom Flugblatt bis zu mehrbändigen Werken, von wissenschaftlichen Abhandlungen über heilige Schriften, legistische Texte und Schulbücher bis zu politischer Berichterstattung und Unterhaltungsliteratur – eine Wirkmächtigkeit innewohnt.3 Sie formen die Wahrnehmung ihrer Konsument*innen, ja ganzer Gesellschaften, sie konstituieren deren Wirklichkeit mit.4

Eine Geschichte des Lesens könne sich aus diesem Grund nicht in einer Beschreibung von Lesestoffen erschöpfen, argumentiert Silvia Serena Tschopp mit Roger Chartier. Gebot der Stunde sei die Hinwendung zu Fragen der Perzeption und Rezeption des Gelesenen. Systematische Untersuchungen vergangener Lesegewohnheiten und ihrer Implikationen seien zwar, so erklärte sie 2014 zum Stand der historischen Leser*innenforschung, nach wie vor ein Forschungsdesiderat, zugleich jedoch auch ein „anspruchsvolles Feld“, das von einer Reihe methodischer Unwägbarkeiten geprägt sei. Lesen sei, so Tschopp, letztlich doch stets „partiell unlesbar“.5 Ungeachtet dieser methodologischen Einschränkungen ist eine Reihe von Fragestellungen rund um die Geschichte des Lesens und des Buchwesens dennoch analysierbar. Eine Auswahl möglicher Annäherungen an diesen sehr heterogenen Themenkomplex ist in diesem Heft vereint.6

Die grundlegenden Fragen im Bereich der historischen Leseforschung lassen sich drei großen Themenkomplexen zuordnen:7 Eine zentrale Voraussetzung stellen die „Ermöglichungsbedingungen von Lektüre“ dar. Damit bezeichnet Tschopp etwa das Vorhandensein eines Marktes für Lesestoffe sowie ausreichender Bildungsvoraussetzungen, zeitlicher und ökonomischer Ressourcen. Der zweite Fokus liegt auf der „Signifikanz, die dem Lesen in spezifischen historischen Momenten zukam“, der Entscheidung also, ob gelesen wurde oder eben nicht. Dabei sind zum Beispiel unterschiedliche sozioökonomische, konfessionelle oder gender-bezogene Parameter der Lesenden relevant. Die Beschäftigung mit „Formen der Leseförderung“, zum Beispiel durch (obrigkeitliche) Alphabetisierungsbestrebungen, gehört ebenso hierher, wie der eingehende Blick auf Versuche, unter anderem mittels Zensur Lektüregewohnheiten zu verhindern oder zumindest zu kanalisieren.8 Der dritte Komplex stellt schließlich die Frage in den Mittelpunkt, wie gelesen wurde; er interessiert sich für die „Formen der Aneignung von Texten“.9

Genau diese Fragen stehen auch im Zentrum des vorliegenden Bandes. Das breite inhaltliche und methodische Spektrum der einzelnen Beiträge macht dabei deutlich, wie unterschiedlich die Zugänge zu diesem gleichermaßen spannenden wie komplexen Thema der Buchund Leser*innengeschichte sein können. Im Fokus steht der katholisch dominierte Alpenraum, der in der einschlägigen Forschung mit einigen Ausnahmen bislang wenig Beachtung erfahren hat, sowie dessen südliche Ausläufer; als zeitlicher Rahmen wurde die Zeit von etwa 1750 bis 1850 gewählt.10 Zum einen erlaubt die Quellenlage des genannten Untersuchungszeitraums verstärkt mikrohistorische Untersuchungen, zum anderen wurden eben genau in jener „Sattelzeit“ die Grundlagen „für die Entstehung einer modernen ‚Kulturwarenindustrie‘, eines fortschrittlichen kulturellen Kommunikationssystems“ gelegt.11 Der gesellschaftliche Wandel wirkte sich maßgeblich auch auf Buchhandel, Schriftstellertum und Lesepublikum aus.

Maurizio Piseri stellt in seinem Beitrag die grundlegende Frage nach der Verteilung der Lesefähigkeit und zieht auf der Suche nach einer Antwort die Ergebnisse demografischer Erhebungen aus der napoleonischen Zeit heran, um die schulische Versorgung im unteren Aostatal zu rekonstruieren.12 Dabei zeichnet er eine spezifische Form einer „alpinen Alphabetisierung“ nach.13 Verstärkte kommunale Bestrebungen, eine schulische Grundversorgung für möglichst viele Kinder zu sichern, korrelieren ihm zufolge mit erhöhter ökonomischer Prekarität. Gerade die Siedlung in Räumen, die aufgrund ihrer klimatischen Gegebenheiten und ihrer Bodenbeschaffenheit für eine Subsistenzwirtschaft nicht geeignet waren und die Ausübung eines Zusatzgewerbes notwendig machten, erforderte demnach ein gewisses Maß an schulischer Bildung. Wer Dienstleistungen und/oder Produkte auf einem überregionalen Markt anbieten musste, sah sich – so erklärt Piseri – in besonderem Ausmaß auf das Beherrschen von in der Regel schulisch vermittelten Kulturtechniken angewiesen. Erschöpfenden Aufschluss über die Lesefähigkeit der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen vermögen derartige Studien zwar nicht zu geben, und selbst eine mit Sicherheit bestimmbare Alphabetisierungsrate ließe lediglich begrenzte Rückschlüsse auf den potentiellen Wirkungsbereich von Texten zu. Ohne Zweifel jedoch stellen Grundlagenstudien dazu, wer denn überhaupt zu welchen Zeiten lesen konnte, einen wichtigen Ausgangspunkt für weiterführende Fragen zur Geschichte des Lesens und des Buchwesens dar.14

Während im Zeitraum, mit dem sich dieses Heft beschäftigt, einerseits die Ausbildung einer Lesefähigkeit erwünscht war und auch vonseiten der Obrigkeiten gefördert wurde – man denke etwa an die Einführung einer Schulpflicht in den Habsburgischen Erblanden durch die Allgemeine Schulordnung von 1774 –,15 gab es andererseits parallel dazu auch Bündel von Maßnahmen, die auf eine Einschränkung des Lesens abzielten. Diesem Phänomen widmet sich der Beitrag von Daniel Syrovy aus vorrangig literaturwissenschaftlicher Sicht. Die „Freiheit der Leser*innen“ bedurfte, da waren sich religiöse und staatliche Autoritäten einig, klar definierter Grenzen, immerhin war beziehungsweise ist das Lesen ein grundsätzlich „rebellischer“ Akt, wie auch Roger Chartier findet.16 Anhand der habsburgischen Zensurpolitiken in der Lombardei und im Veneto zeigt Syrovy zunächst die konzeptionelle Entwicklung der Zensur von einem didaktischerzieherischen, volksaufklärerischen Ansatz zu einer vor allem auf die Erhaltung der staatlichen Integrität ausgerichteten Polizeimaßnahme. In einem nächsten Schritt veranschaulicht der Beitrag, wie ausgeprägt die Gestaltungsfreiheit in den oberitalienischen Territorien auf dem Weg zur Erreichung des vermeintlich absoluten Zieles der Abwehr revolutionärer Tendenzen war. Gleichgültig, was nun seine konkrete Intention oder wie seine regionale Ausgestaltung gefärbt gewesen sein mag, die Auswirkungen des Zensursystems auf die Entwicklung des literarischen Feldes waren enorm. Die Vorstellung, Zensur bewirke lediglich, die Verbreitung bestimmter Lesestoffe zu unterbinden, greift zu kurz. Das Wissen um die Mechanismen der Zensur prägte die Arbeit von Autor*innen, Verleger*innen und Buchhändler*innen ebenso wie das Verhalten der Konsumentinnen und Konsumenten von Druckwerken – von der Kaufentscheidung über den Umgang mit dem Gegenstand Buch bis hin zum konkreten Akt des Lesens selbst. Bücher lesen zu können war also nicht allein von individuellen Fähigkeiten abhängig, sondern maßgeblich auch von außen beeinflusst.

Zwei Beiträge in diesem Themenheft widmen sich schwerpunktmäßig der Frage nach der Verbreitung von Büchern im 18. Jahrhundert beziehungsweise dem Zugang zu diesen.17 Methodisch sind sie jedoch gänzlich unterschiedlich angelegt: Liliana de Venuto untersucht das Verlags- und Druckereiwesen sowie private und öffentliche Bibliotheken im Trentino und konzentriert sich dabei vorrangig auf die Städte Trient und Rovereto sowie in zweiter Linie auf das Etschbeziehungsweise Lagertal. Die verschiedentlich diagnostizierte „Leserevolution“ im Europa des 18. Jahrhunderts18 verortet sie auch in dieser Region. Besonders der Lesehunger der adeligen und/ oder bürgerlichen (Funktions-) Elite, die – gefördert durch aufklärerisch motivierte obrigkeitliche Maßnahmen – sich zunehmend verbreiterte und zugleich professionalisierte, bedeutete einen Aufschwung für Buchproduktion und -handel in der Region. Damit verbunden war außerdem eine beträchtliche Zunahme der Zahl der Bibliotheken und eine Diversifizierung ihrer Typen. Zusätzlich zu den traditionellen Büchersammlungen geistlicher Persönlichkeiten und religiöser Institutionen sowie den Fachbibliotheken Einzelner aus Berufsbereichen wie Recht, Medizin oder Pharmazie bildeten sich vermehrt Büchersammlungen heraus, die auf allgemeinere Studien- oder Vergnügungszwecke ausgerichtet waren. Besonders hervorzuheben ist dabei die Bedeutung der Mitglieder der Mitte des 18. Jahrhunderts in Rovereto gegründeten Accademia degli Agiati. Sowohl die Bibliothek der Gelehrtenakademie selbst als auch die Büchersammlungen einzelner Mitglieder waren in ihrem Umfang beträchtlich. Ihre Untersuchung erlaubt Einblicke in einen kleinen Teil der Republic of Letters und eröffnet zugleich eine spezielle Perspektive auf die tiefgreifenden Umwälzungen auf verwaltungs- und/oder politikgeschichtlicher Ebene.

In ganz anderer Art und Weise beschäftigt sich der Beitrag von Michael Span mit dem Besitz von Büchern. Er berichtet von Ergebnissen des Forschungsprojektes Reading in the Alps, das dem privaten Buchbesitz im katholisch dominierten Alpenraum im 18. Jahrhundert nachspürt. Grundlage der in diesem Heft präsentierten Resultate bildet die mikrohistorische Untersuchung von (vorwiegend Verlassenschafts-) Inventaren aus dem im Pustertal rund um die Stadt Bruneck liegenden Landgericht St. Michaelsburg. Aufgrund der Erhebung einer ganzen Reihe personenspezifischer Daten – Namen, Verwandtschafts- beziehungsweise Familienverhältnisse, Berufe, Wohnorte sowie auch Vermögenswerte – werden ausgehend von der basalen Bestimmung des Anteils an Inventaren, die Buchbesitz nennen, weitere aufschlussreiche Differenzierungen möglich. Das Ergebnis ist ein Stück Grundlagenforschung, wie sie Roger Chartier als nach wie vor „notwendig“ für die Buch- und Leser*innengeschichte bezeichnet hat,19 und auf die weiterführende Untersuchungen zurückgreifen können. Deutlich zeichnen sich bereits in diesem hier vorgestellten Datenmaterial Tendenzen der Verteilung von Buchbesitz anhand unterschiedlicher Parameter wie Gender, Berufsgruppe sowie vor allem sozioökonomischer Kennzahlen ab. Wenngleich bibliografische Angaben in den Inventaren meist sehr spärlich sind, so lassen sich doch auch Aussagen zu den am stärksten verbreiteten und damit mutmaßlich wohl beliebtesten Lesestoffen treffen. Gegen ein allgemein gültiges Muster sperren sich jedoch hier wie dort Einzelfälle, deren Detailstudium als Forschungsdesiderat unterstrichen wird. In diesem Sinne möge der vorliegende Beitrag Anregung zu zahlreichen weiterführenden Betrachtungen sein.

Wie facetten- und aufschlussreich eine solche Einzelstudie sein kann, zeigt Peter Andorfer in seinem Beitrag auf.20 Die Grundlage für seine Ausführungen bildet eine überaus außergewöhnliche Quelle, nämlich die Aufzeichnungen des Leonhard Millinger, eines Bauern aus Waidring, einem Tiroler Dorf an der Grenze zu Bayern und Salzburg im Landgericht Kitzbühel. Dieser verfasste Anfang des 19. Jahrhunderts eine „Weltbeschreibung“, in der er in enzyklopädischer Weise Inhalte aus mehreren unterschiedlichen Büchern kompilierte. Indem er seine Quellen dezidiert benennt, ergeben sich seltene Einblicke in das Leseverhalten eines Bauern dieser Zeit. So zeigt sich nicht nur, dass Millinger bestimmte Bücher beziehungsweise Passagen aus Büchern gelesen hat, sondern auch, welche der darin enthaltenen Informationen er als wert erachtete, erinnert zu werden. Die (scheinbaren) Diskrepanzen zwischen den wahrscheinlichen Intentionen der Autoren der Bücher und dem Sinn, den Leser Millinger ihren Texten für sich gab, sind zuweilen beträchtlich. Sie zeigen die bereits angesprochene „Freiheit der Leser*innen“ eindrucksvoll und erinnern daran, wie wichtig die Abkehr von der Vorstellung werkimmanenter Interpretationen in der historischen Leser*innenforschung ist.21

Unterschiedliche Aspekte der Geschichte des Lesens und des Buchwesens werden also in diesem Heft vorgestellt. Sie alle eint die Überzeugung, dass vertiefte Einblicke in die Auswirkungen der Medienrevolution Buchdruck ein besseres Verständnis historischer Gesellschaften und Entwicklungen ermöglichen. Sie offenbaren auch, dass es noch bedeutende Forschungsdesiderate gibt, deren Bearbeitung lohnend wäre – allen methodischen Problemen und Unwägbarkeiten zum Trotz. So wäre Grundlagenforschung notwendig, wie etwa die Generierung verlässlicherer Daten zu Schulwesen und Alphabetisierung vor der Einführung zentralstaatlicher Regelungen, detaillierte Rekonstruktionen der Distributionswege und der Zirkulation von Büchern abgesehen vom offensichtlichen und vielfach bereits gut erforschten Buchhandel22 oder auch Untersuchungen zum Einfluss der Lektürepräferenzen von Weltgeistlichen, denen durch ihr Amt eine Multiplikatorenfunktion zukam. Mikrohistorisch angelegte Untersuchungen könnten hier – eine jeweils geeignete Quellenlage vorausgesetzt – wertvolle Einsichten eröffnen. Weiteren Untersuchungsbedarf konstatiert Daniel Syrovy im Bereich der Zensurforschung. Er regt die eingehende Analyse bislang kaum berücksichtigter Quellenbestände an. Offen bleibt schließlich auch weiterhin die Frage nach den Formen der Aneignung von Texten, die auf den genannten Grundlagenforschungen aufbauen kann.

Michael Span und Ursula Stampfer

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1 Reinhard WITTMANN, Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick, München 32011, S. 22. Wittmann übernimmt damit das Urteil von Michael GIESECKE, Als die alten Medien neu waren. Medienrevolutionen in der Geschichte. In: Rüdiger WEINGARTEN (Hg.), Information ohne Kommunikation?, Frankfurt a. M. 1990, S. 75–98, hier S. 76.

2 Johann Christian LOBE, Aus dem Leben eines Musikers, Leipzig 1859, S. 131.

3 Diverse obrigkeitliche Zensurbestrebungen weisen auf ein ausgeprägtes Bewusstsein für diese Wirkmächtigkeit hin. Zur Bedeutung der Erfindung des Buchdrucks im deutschsprachigen Raum vgl. insbesondere Ursula RAUTENBERG (Hg.), Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch, 2 Bände, Berlin 2010.

4 Selbstverständlich setzte die Bedeutung des geschriebenen Wortes nicht erst mit der Erfindung der Druckerpresse ein, doch war es bis dahin nur einem kleinen elitären Kreis zugänglich. War das Lesen lange vorrangig auf den klösterlichen Bereich beschränkt, traten ab dem Hochmittelalter zunehmend auch Adelige, Gelehrte und Bürger als Lesende (und Schreibende) auf. Erst in der Mitte des 14. Jahrhunderts konnte, nicht zuletzt in Zusammenhang mit der Gründung von Universitäten, das „Lesemonopol der Kleriker“ endgültig gebrochen werden. Diese veränderte Lesekultur bildete die Voraussetzung dafür, dass Gutenbergs Erfindung so ungemein folgenreich die Leser*innenund Buchgeschichte verändern konnte. Waren die neuen, meist sehr kostspieligen Druckwerke anfangs nur sehr wenigen vorbehalten, entwickelte die neue Technik schon bald eine ungeahnte Eigendynamik und ermöglichte ab dem 16. Jahrhundert eine Demokratisierung des gedruckten Buches. Vgl. Hans-Martin GAUGER, Die sechs Kulturen in der Geschichte des Lesens. In: Paul GOETSCH (Hg.), Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich, Tübingen 1994, S. 27–47, hier insbes. S. 32–38.

5 Silvia Serena TSCHOPP, Umrisse und Perspektiven. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 39 (2014), 1, S. 151–165. Der Hinweis auf Chartier findet sich auf S. 156. Zu seinen weiteren umfassenden Überlegungen zu einer Geschichte des Lesens siehe z. B. Roger CHARTIER, Lesewelten. Buch und Lektüre in der Frühen Neuzeit (Historische Studien 1), Frankfurt a. M./New York/Paris 1990, bes. S. 7–24; DERS., The Order of Books. Readers, Autors and Libraries in Europe between the Fourteenth and Eighteenth Centuries, Stanford CA 1994; Guglielmo CAVALLO/Roger CHARTIER, Einleitung. In: DIES. (Hg.), Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt a. M./ New York/Paris 1999, S. 9–57; Roger CHARTIER, The Order of Books revisited. In: Modern Intellectual History 4 (2007), 3, S. 509–519.

6 Neben dem bereits zitierten Beitrag von TSCHOPP, Umrisse und Perspektiven, findet sich ein weiterer rezenter Überblick über die einzelnen Entwicklungslinien der historischen Buch- bzw. Leser*innenforschung und deren Spezifika auch bei Ursula RAUTENBERG/Ute SCHNEIDER, Historischhermeneutische Ansätze der Lese- und Leserforschung. In: DIES. (Hg.), Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin/ Boston 2015, S. 85–114. Sehr breit angelegt ist der literaturwissenschaftlich fokussierte Überblick von Jost SCHNEIDER, Geschichte und Sozialgeschichte des Lesens und der Lesekulturen. In: Rolf PARR/ Alexander HONOLD (Hg.), Grundthemen der Literaturwissenschaft: Lesen, Berlin/ Boston 2018, S. 29–98.

7 TSCHOPP, Umrisse, S. 158 f.

8 Zur Zensur als Institution und Praxis im 18. Jahrhundert vgl. insbesondere Edoardo TORTAROLO, L’invenzione della libertà di stampa. Censura e scrittori nel Settecento, Rom 2011 bzw. DERS., The Invention of Free Press: Writers and Censorship in Eighteenth Century Europe (International Archives of the History of Ideas/Archives internationales d’histoire des idées 219), Dordrecht 2016. Als neues Grundlagenwerk zum Zensurwesen in der Habsburgermonarchie, die auch in diesem Heft stark im Fokus steht: Norbert BACHLEITNER, Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848 (mit Beiträgen von Daniel Syrovy, Petr Píša und Michael Wögerbauer), Wien/Köln/Weimar 2017. Zur Zensur im italienischen Raum vgl. auch Ludovica BRAIDA, Circolazione del libro e pratiche di lettura nell’Italia del Settecento. In: Gianfranco TORTORELLI (Hg.), Biblioteche nobiliari e circolazione del libro tra Settecento e Ottocento. Atti del Convegno di nazionale di studio, Perugia, 29–30 giugno 2001, Bologna 2002, S. 11–37.

9 TSCHOPP, Umrisse, S. 158 f. Ein ganz ähnlicher Fragenkatalog wird auch bei RAUTENBERG/SCHNEIDER, Ansätze, S. 93 f., angeführt.

10 Ein allgemeiner Überblick findet sich z. B. bei Ute SCHNEIDER, Frühe Neuzeit. In: RAUTENBERG/SCHNEIDER (Hg.), Lesen, S. 739–763. Die Leser*innengeschichte des katholisch dominierten Raumes wird in diesem Überblick nur am Rande erwähnt, indem mit Chartier darauf hingewiesen wird, dass das Lesen konfessionsunabhängig als Frömmigkeitsübung entdeckt wurde (S. 745, sowie CAVALLO/CHARTIER, Einleitung, S. 50 f.). Eine Bestandsaufnahme der Forschungen zur Geschichte des Lesens in der frühen Neuzeit bietet auch Alfred MESSERLI, Leser, Leserschichten und -gruppen, Lesestoffe in der Neuzeit (1450–1850): Konsum, Rezeptionsgeschichte, Materialität. In: Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch, Bd. 1: Theorie und Forschung, Berlin 2010, S. 443–502. Besonders aufschlussreich und thematisch breit gefächert zum Bereich der Buch- und Leser*innengeschichte der Habsburgermonarchie des 18. Jahrhunderts ist der Sammelband von Johannes FRIMMEL/Michael WÖGERBAUER (Hg.), Kommunikation und Information im 18. Jahrhundert. Das Beispiel der Habsburgermonarchie, Wiesbaden 2009. Zur Buchproduktionen sowie zu Bibliotheken und Buchbesitz im Trentino vgl. auch Giancarlo PETRELLA (Hg.), „Navigare nei mari dell’umano sapere“. Biblioteche e circolazione libraria nel Trentino e nell’Italia del XVIII secolo. Atti del convegno di studio, Rovereto, 25–27 ottobre 2007 (Biblioteche e bibliotecari del Trentino 6), Trient 2008; Edoardo BARBIERI, Ai confini dell’Impero: uno sguardo alle biblioteche trentine del XVIII secolo (rassegna bibliografica). In: Studia Scientifica Facultatis Paedagogicae (2014), 5, S. 9–38.

11 Vgl. WITTMANN, Geschichte, S. 121.

12 Die „Quantifizierung der Leserschaft“ wird auch von Ute Schneider als „eines der größten Forschungsprobleme“ und also wesentlichsten -desiderate im Bereich der Buch- und Leser*innengeschichte identifiziert: SCHNEIDER, Frühe Neuzeit, S. 759.

13 Zur Alphabetisierung und zum Schulwesen vom 16. bis ins 19. Jahrhundert vom Hochstift Trient über das Aostatal bis ins Tessin vgl. insbesondere Maurizio PISERI (Hg.), L’alfabeto in montagna. Scuola e alfabetismo nell’area alpina tra età moderna e XIX secolo, Milano 2012.

14 Vgl. CHARTIER, Lesewelten, S. 18 f.

15 Vgl. SCHNEIDER, Frühe Neuzeit, S. 749 f.

16 CHARTIER, Order, S. VIII.

17 Genau diesem Thema war eine Tagung 2014 in Pisa gewidmet; der alpine Raum fand hierin keine Berücksichtigung: Ludovica BRAIDA/Siliva TATTI (Hg.), Il Libro. Editoria e pratiche di lettura nel Settecento (Biblioteca del XVIII secolo 29), Rom 2016.

18 Der Begriff stammt von Rolf ENGELSING, Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit. Das statistische Ausmaß und die soziokulturelle Bedeutung der Lektüre. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 10 (1970), Sp. 945–1002. Aufgegriffen haben ihn u. a. Reinhard WITTMANN, Gibt es eine Leserevolution am Ende des 18. Jahrhunderts? In: CHARTIER/CAVALLO (Hg.), Die Welt des Lesens, S. 419–454; Reinhard SIEGERT, Theologie und Religion als Hintergrund für die „Leserevolution“ des 18. Jahrhunderts. In: Hans Edwin FRIEDRICH/Wilhelm HAEFS/Christian SOBOTH (Hg.), Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkurrenzen (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung), Berlin/New York 2011, S. 14–31 und auch TSCHOPP, Umrisse, S. 155. Auch Hans-Martin Gauger lässt mit dem 18. Jahrhundert die „moderne Lesekultur“ beginnen, zumal nun „ein wirkliches Lesepublikum“ entstand, vgl. GAUGER, Kulturen, S. 38. SCHNEIDER, Frühe Neuzeit, S. 760, weist auf die Schwierigkeit der eindeutigen Festlegung auf derartige Zäsuren hin (die allerdings wohl in der Geschichtswissenschaft ganz allgemein für Fragen der Periodisierung zutrifft).

19 Vgl. CHARTIER, Lesewelten, S. 9 und 18 f.

20 Vgl. Peter ANDORFER, Die Weltbeschreibung des Leonhard Millinger. Ein Schlüssel zum Weltbild eines Bauern um 1800, ungedr. Diss. Universität Innsbruck 2015 sowie die Edition der Weltbeschreibung: DERS. (Hg.), Die Weltbeschreibung des Leonhard Millinger (Editiones Electronicae Guelferbytanae 12) Wolfenbüttel 2013, URL: http://diglib.hab.de/edoc/ed000223/start.htm [10.06.2020].

21 Alfred Messerli weist darauf hin, dass Quellen, die entsprechende Einblicke in die „individuelle Aneignung von Lektüre“ erlauben, zwar sehr aufschlussreich, zugleich jedoch überaus selten sind. Vgl. Alfred MESSERLI Leser, Leserschichten und -gruppen, Lesestoffe in der Neuzeit (1450–1850). Konsum, Rezeptionsgeschichte, Materialität. In: RAUTENBERG (Hg.), Buchwissenschaft in Deutschland, Bd. 1: Theorie und Forschung, Berlin/ New York 2010, S. 443–502, hier S. 449. Als Beispiel für die Freiheit der Leser*in zieht er die von Carlo Ginzburg verfasste mikrogeschichtliche Pionierstudie zum friaulischen Müller Domenico Scarletta, genannt Menocchio, heran, in der Ginzburg eine „angriffslustige Originalität“ („aggressiva originalità“) konstatiert, mit der sein Protagonist Bücher las bzw. rezipierte. Vgl. MESSERLI, Leser, S. 447 f. sowie Carlo GINZBURG, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, aus dem Italienischen von Karl Hauber, Berlin 62007, S. 61 [orig.: Il formaggio e i vermi. Il cosmo di un mugnaio del ‘500, Turin 1976, S. 40].

22 Vgl. z. B. WITTMANN, Geschichte.

Geschichte und Region/Storia e regione 29/1 (2020)

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