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Lachen nach dem Luftschutzkeller Loriot in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft

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»… es muß in der Bundesrepublik bestürzen,

daß der deutsche Humor, als Qualitätserzeugnis

einst auf dem Weltmarkt führend, heute kaum

0,02 Prozent der Exportquote ausmacht …«

Loriot1

Das mehrbändige autobiografische Romanwerk des Schauspielers und Schriftstellers Joachim Meyerhoff ist nicht zuletzt ein bisweilen sehr komisches Sittengemälde der alten Bundesrepublik. Der zweite Teil handelt von der Kindheit und Jugend des Autors in den 1970er und 1980er Jahren. Hier findet sich die Episode vom Kanarienvogel der Familie, dem sein Bruder mühevoll mit Hilfe eines Kassettenrecorders den Satz »Ich heiße Erwin Lindemann« beigebracht hatte. Als der Vogel eines Tages entflog, war aus einem hohen Baum leise, aber unablässig zu vernehmen: »Ich heiße Erwin Lindemann, ich heiße Erwin Lindemann, ich heiße Erwin Lindemann …«.2 Diese Anekdote gleicht in ihrer Tragikomik jenem Fernsehsketch um den verwirrten Lottogewinner, den der Vogel zitiert. Vor allem aber zeugt sie von der Präsenz von Loriots Werk – und insbesondere seiner Fernseharbeiten – in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Nicht nur dieser Satz ist längst viel prominenter als der Film, auf dessen Titel er anspielt,3 viele Formulierungen und Namen aus Loriots Werken sind mittlerweile zu stehenden Redewendungen geworden: vom Nostalgie-spöttischen »Früher war mehr Lametta« bis zum Interesse heuchelnden »Ach was?!« – die Beispiele ließen sich fortsetzen.

Schon aus Gründen der Arbeitsersparnis könnte man daher geneigt sein, dem nonchalanten Diktum des Historikers Christoph Stölzl zuzustimmen: »Wenn man die Geschichte unseres Landes nach dem Zweiten Weltkrieg schreiben will, kann man getrost auf die Tonnen bedruckten Papiers der Sozialforscher verzichten und sich Loriots gesammelten Werken zuwenden: Das sind wir, in Glanz und Elend«.4 Allerdings kann man die Frage eben auch umdrehen: Wie konnte Loriots Humor zu einem Signum der bundesdeutschen Geschichte werden? Zumal Stölzl selbst treffend anmerkt: »Die junge Bundesrepublik, schwankend zwischen Katzenjammer und Verdrängung, war eigentlich kein idealer Ort für Ironie«.5 Und das ist noch ein Euphemismus für die selbstbezogene Larmoyanz und grassierende Verantwortungsabwehr der Zusammenbruchsgesellschaft.

Die Frage stellt sich umso mehr, als den Deutschen traditionell vieles nachgesagt wird, etwa der Hang zu »Sekundärtugenden«, mit denen man, Oskar Lafontaines bösem (gegen Helmut Schmidt gerichteten) Diktum zufolge, »auch ein KZ betreiben« könne,6 aber gewiss keine Tendenz zu anarchischem Humor und Selbstironie. Letztere werden bekanntlich eher auf der britischen Insel verortet, zum Beispiel bei der Komikergruppe Monty Python, die solche Nationalklischees in ihrer etwa zeitgleich mit Loriots Fernseharbeiten in der BBC ausgestrahlten Show »Flying Circus« zum Thema gemacht hat: In ihrem Sketch »The Funniest Joke in the World« entwickeln die Briten während des Zweiten Weltkriegs als Waffe einen Witz, über den sich jeder (buchstäblich) totlacht, während die Deutschen mit ihrem in Peenemünde entwickelten »V-Joke« in England nur Befremden auslösen und daher den Krieg verlieren.7

Nun geben Nationalklischees zwar ein dankbares Feld für Satire ab, als Grundlage von Wissenschaft sind sie allerdings zu Recht aus der Mode gekommen. Will man also der Frage nach Loriots anscheinend bis heute ungebrochener Popularität nachgehen, dann bieten sich kultur- und sozialhistorische Zugänge an, insbesondere solche, die nach der Transformation der westdeutschen Gesellschaft nach 1945 fragen. In welche Diskurse hat er sich eingeschrieben, in welche gerade nicht? Dafür genügt es dann doch nicht, textimmanent zu arbeiten, auch wenn die Loriot-Gesamtausgabe, laut Axel Hacke, 1152 Seiten umfasst und 4,1 Kilogramm wiegt.8 Den Ausgangspunkt bildet vielmehr die Historiografie der Bundesrepublik. Das »bedruckte Papier« der »Sozialforscher« wird dafür also zwar nicht tonnen-, aber doch auszugsweise herangezogen werden müssen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Gemeint ist dabei hier dezidiert die ›alte‹ Bundesrepublik, also Westdeutschland von 1949 bis 1990. Zwar hatte Loriot auch in der DDR eine große Fangemeinde, und er hat als geborener Brandenburger die Verbreitung seiner Werke im Osten stets gefördert: Neben der Publikation seiner Zeichnungen im Eulenspiegel-Verlag bereits in den 1970er Jahren gab es in den 1980ern auch zwei Ausstellungen seiner Zeichnungen in Brandenburg an der Havel und in Weimar sowie eine Lesung im Palast der Republik. Loriots Verhältnis zur DDR und zur Wiedervereinigung wäre ein eigenes, lohnendes Thema. Aber dies ändert nichts daran, dass sich sein Werk thematisch auf die bürgerliche, westdeutsche Gesellschaft bezieht. Die DDR kommt allenfalls ganz am Rande vor.

Aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Bundesrepublik hat der Hamburger Historiker Axel Schildt eine Typologie von Erzählungen ihrer Geschichte skizziert.9 Die eher zeitgenössischen Entwürfe als reine Erfolgs- oder Misserfolgsgeschichte hat er dabei mit guten Gründen verworfen, übrig geblieben sind bei ihm Erzählungen als Modernisierungs-, als Westernisierungs- und als Belastungsgeschichte. Während die erste vor allem die sich rasch verändernden sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen und Strukturen der entstehenden Konsumgesellschaft betont, steht die zweite für die politische und kulturelle Westbindung im Kalten Krieg, die daraus resultierenden kulturellen Einflüsse und Liberalisierungsprozesse. Die dritte schließlich rückt den Bruch und die Konsequenzen in den Vordergrund, die sich aus der moralischen und materiellen Katastrophe des Jahres 1945 ergaben. Dieses komplementäre Raster soll im Folgenden dazu dienen, der Beziehung zwischen Loriot und der deutschen Gesellschaft ein wenig näherzukommen.

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