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Erkundungen in der logischen Familie

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Umrisse einer homosexuellen Geschichte des Ruhrgebiets

Armistead Maupin, der Autor der Stadtgeschichten, die er seit 1974 als junger Journalist für den San Francisco Chronicle schrieb, unterscheidet zwischen seiner biologischen, der Herkunftsfamilie, und seiner logischen Familie, der Gay Community. Maupin lässt keinen Zweifel daran, wo er seine Prioritäten setzt: „Seine logische Familie sucht man sich selbst aus. Das sind die Leute, die man nachts anruft, wenn es einem schlechtgeht. Von denen man weiß, dass sie im Notfall für einen da sind. Vor denen man sich nicht verstellen muss und so sein kann, wie man ist. Viele Schwule wissen sehr genau, wie es ist, wenn man einen großen Teil seiner Persönlichkeit vor der biologischen Familie verbergen muss. Aber das betrifft nicht nur Schwule. Ich glaube niemandem, der behauptet, er könne seiner biologischen Familie wirklich alles so anvertrauen wie der logischen Familie.”3

Vielen Lesben und Schwulen ist ebenso wie Bi-, Trans- und Intersexuellen ein Gefühl der Vertrautheit untereinander, bei gleichzeitiger Entfremdung von ihrer Herkunftsfamilie und der sozialen Umgebung ihrer Kindheit und Jugend wohlbekannt. Ursächlich dafür dürfte die gemeinsame Erfahrung sowohl der Ausgrenzung als auch des Coming-outs sein.4 Dennoch, das zeigt die Erfahrung, bei aller Empathie gegenüber den verfolgten und ermordeten Homosexuellen, gegenüber den Vorreiter_innen5 der Selbstbehauptung, ist die Kenntnis der Geschichte der Homosexuellen und der Homosexualität selbst unter Homosexuellen gering. Dieser Band will dem, bezogen auf das Ruhrgebiet, entgegenwirken. Vor allem aber will er einer breiteren Öffentlichkeit Einblicke in ein einst als „schmutzig” denunziertes Thema6 verschaffen.

Und er will dazu anregen, die ohne Zweifel in jedem Archiv der Region vorhandenen Quellen bekannt und der Forschung zugänglich zu machen. Allen, die in Archiven forschen, werden Zufallsfunde bestens vertraut sein, so wie jener aus dem Wittener Stadtarchiv: Ein Vollziehungsbeamter und Flurschütz der Amtsgemeinde Annen fiel 1895 auf, weil er seinen Dienst betrunken in nichtvorschriftsmäßiger Kleidung versah. Im Rahmen ihrer Erkundigungen stellte die Polizei fest, dass der einfache Beamte während seines Militärdienstes 1879 als Vize-Feldwebel wegen widernatürlicher Unzucht zum Gemeinen degradiert und zu sechs Monaten Gefängnis im Festungsgefängnis Wesel verurteilt wurde. Das war auch der Grund dafür, dass er keinen Zivilversorgungsschein erhielt, der einem ehemaligen Berufssoldaten die bevorzugte Einstellung in den Öffentlichen Dienst ermöglicht hätte.7 Wie oft werden solche Funde schamhaft beiseite gelegt? Wie oft werden sie vielleicht sogar dann unter den Tisch fallen gelassen, wenn sie für das bearbeitete Thema ebenso relevant wie interessant wären? Von wie vielen wegen sogenannter Unzucht angestrengten Hexenprozessen der Frühen Neuzeit erfahren wir nicht, weil selbst in Quelleneditionen die Berichte gekürzt wiedergegeben werden, wenn sie nicht gar gänzlich herausfallen? Wie oft wird in Biografien über Männer und Frauen des Ruhrgebietes noch immer schamhaft verschwiegen, dass sie schwul, dass sie lesbisch waren, weil es Privatsache sei und niemanden etwas anginge? Wie oft heißt es in Darstellungen über die Nazizeit, dass zwar Homosexuelle verfolgt wurden, man aber aufgrund der schlechten Quellenlage dazu nichts sagen könne? Das war bis vor wenigen Jahren auch in Dortmund der Fall und ist es nach unserem Kenntnisstand heute noch in den anderen 52 Städten und Gemeinden des Ruhrgebiets.8

So viel ist sicher: Die Geschichte der Homosexuellen und der Homosexualität im Ruhrgebiet stellt noch immer eines der drängendsten Desiderate in der lokalen wie der regionalen historischen Forschung dar. Damit fällt das Ruhrgebiet auch deutlich ab gegenüber anderen deutschen Ballungsregionen wie Berlin, Hamburg oder auch Köln.9 Noch immer fehlen sowohl ein umfassender Überblick zur Entwicklung in der Region als auch lokale Fallstudien in ausreichender Anzahl und Tiefe. Vereinzelte Initiativen und engagierte Einzelpersonen, die sich des Themas bisher annahmen, konnten der Nichtbeachtung in Archiven und Universitäten der Region, aber auch in den historischen Vereinen nur wenig entgegensetzen. In der etablierten Geschichtswissenschaft, in den kommunalen Archiven und Geschichtsvereinen der Region, ihren Gedenkstätten, in der allgemeinen Erinnerung an das Vergangene ist das Thema offenkundig noch längst nicht angekommen, auch wenn, anders als noch vor wenigen Jahrzehnten, den zum Thema Forschenden in den Institutionen kaum mehr Gegenwind entgegenschlägt.10

Ziel der am 14. November 2015 in der Dortmunder Mahn- und Gedenkstätte Steinwache stattgefundenen Tagung war es denn auch, geltend zu machen, dass Homosexuelle einen Platz in der Erinnerungs- und Geschichtskultur des Ruhrgebiets einnehmen. Zu diesem Zweck galt es, in einem ersten Schritt all diejenigen zusammenzuführen, die zu diesem Themenfeld gearbeitet haben oder aktuell arbeiten. Denn die bisherigen Forschungen zur Geschichte der Homosexuellen und der Homosexualität im Ruhrgebiet blieben unkoordiniert und unverbunden. Zur Besonderheit des Ruhrgebietes gehört es, dass die Region, obwohl als homogener Raum empfunden, vielfach zersplittert und in sich differenziert ist. Trotz der Nähe der Städte zueinander fehlt es oft an Zusammenarbeit und Zusammengehörigkeitsgefühl.

Als Initiator der Tagung hat sich der 2003 von Historiker_innen und Laien gegründete Arbeitskreis Schwule Geschichte Dortmunds das Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher gesucht, ein seit 1992 bestehendes offenes Netzwerk zwecks Erfahrungs- und Informationsaustausch innerhalb der Geschichtsszene des Ruhrgebiets, zum Teil zu wenig bearbeiteten Themenfeldern.11 Gemeinsam wollen sie die Zusammenarbeit lokaler Initiativen zur schwulen und lesbischen Geschichte verbessern und fördern und zugleich den Kontakt zu den Institutionen der Geschichts- und Sozialwissenschaften stärken. Zudem möchten sie Interessierte aus Wissenschaft und Laienschaft anregen, sich mit den umrissenen Themen zu befassen und zu ihnen zu forschen, um die sogenannten weißen Flecken in der Geschichte zu füllen.


Der Tagungsband lässt eine breite Erinnerungskultur um die schwul-lesbischen Lebenswelten an Ruhr und Emscher erkennen, die jedoch der systematischen Erfassung harrt.12 Die Beiträge verdeutlichen, dass die verschiedenen Aspekte der Verfolgung und die Erinnerung daran breiten Raum einnehmen, was zweifellos ein notwendiges Unterfangen ist, wofür auch der Tagungsort stand, die Mahn- und Gedenkstätte Steinwache.13 Sie erhellen aber zugleich, dass Schwule und Lesben an der Ruhr ihre Lebenswelten, die ihnen die notwendigen Entfaltungsmöglichkeiten zwischen Subkultur und Integration boten, suchten und fanden. Auch wenn der Band nicht alle Themen ausreichend ausloten kann, so zeigt er doch, dass sich selbst bei der oftmals schlechten Quellenlage ein spannendes Bild der Schwulen und Lesben an Ruhr und Emscher zeichnen lässt.

Zu Beginn des ersten Teils über Entrechtung und Verfolgung der Homosexuellen zwischen Nationalsozialismus und Adenauer-Ära erinnert der Essener Historiker Wolfgang D. Berude an den Essener Theaterskandal. Als Otto Zedler, ein beliebter Schauspieler der Essener Bühnen, 1936 als Karnevalsprinz gefeiert wurde, nahm die Gestapo den schon seit längerem der Homosexualität Verdächtigen ins Visier. Mithilfe von Denunzianten gelang es, Zedler mit weiteren am Theater beschäftigten Männern vor Gericht zu stellen. Dennoch musste die Gestapo eine Niederlage hinnehmen, als ein Angeklagter freigesprochen wurde, nachdem ein Belastungszeuge sein zuvor gegenüber der Gestapo gemachtes Geständnis zurückgezogen und ausgesagt hatte, er sei mit Gewalt dazu gepresst worden. Berude gibt eine detaillierte Schilderung der Abläufe aufgrund aufgefundener Akten der Gestapo.

Der Dortmunder Historiker Frank Ahland widmet sich der Schwulenverfolgung in Dortmund im Nationalsozialismus. Anhand der Haftbücher des Dortmunder Polizeigefängnisses Steinwache hat er rund 650 aufgrund homosexueller Handlungen eingelieferte Männer ermittelt. Seine Auswertungen lassen eine intensive nächtliche Verfolgung Homosexueller in öffentlichen Toiletten- und Parkanlagen seitens der Polizei, aber auch einen hohen Anteil denunzierter Männer erkennen. Sie zeigen zudem einen engen, bisher wenig beachteten Zusammenhang des massiven Anstiegs der Verfolgung nach einer Rede Heinrich Himmlers am „Tag der deutschen Polizei” im Januar 1937, in der er in der Homosexualität eine Bedrohung des nationalsozialistischen Männlichkeitskultes erkannt zu haben glaubte. Eine umgehend gestartete Pressekampagne diente der ideologischen Rechtfertigung einer verstärkten Verfolgung durch Polizei, Gestapo und SS. Ahland verweist damit die Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts, das 1957 darauf verwies, dass die Verschärfung des § 175 im Jahr 1935 rechtsstaatlich zustande gekommen und daher kein NS-Unrecht sei, ins Reich der Legende.

Einen Seitenwechsel vollzieht der Weetzener Historiker Alexander Wäldner. Anhand von Dortmunder Beispielen begibt er sich auf die Täterseite, die noch immer zu selten in den Fokus genommen wird. Während die meisten wegen homosexueller Handlungen verfolgten Männer ihre Rehabilitierung nicht mehr erlebten und die sehr wenigen noch lebenden Betroffenen bis heute aus Scham dazu schwiegen, konnten die Verfolger in den Reihen der Polizei nach 1945 ihren Dienst weiter versehen und waren teils weiterhin an der Verfolgung homosexueller Männer beteiligt. Wäldner hat die NSDAP-Mitglieder unter den Polizisten, die Männer aufgrund homosexueller Handlungen in das Dortmunder Polizeigefängnis Steinwache einlieferten, ermittelt und einzelne Täterbiografien recherchiert. Nicht ein Richter, Staatsanwalt, Justizbeamter oder KZ-Aufseher wurde bisher für seine Mittäterschaft an der Homosexuellenverfolgung zur Rechenschaft gezogen. Wäldner erkennt darin weiterhin aktives staatliches Unrecht gegenüber den homosexuellen weiblichen und männlichen NS-Opfern.

Der Kölner Sozialpädagoge Michael Jähme berichtet von seiner Arbeit im Facharbeitskreis Zeitzeug_innen der ARCUS-Stiftung, der es sich zur Aufgabe gesetzt hat, Biografien von Schwulen, Lesben, Trans- und Intersexuellen in der frühen Bundesrepublik zu sichern und zu dokumentieren. Gerade weil von Verfolgung bedrohte Männer häufig Fotos, Briefe und andere Erinnerungen an Partner und Freunde vernichten mussten, um sich nicht selbst zu belasten, fehlen der Geschichtswissenschaft Quellen. Mit den Interviews werden daher Quellen geschaffen, um diese Lücken aufzufüllen. Das Projekt soll die Lebenserfahrungen von Menschen dokumentieren, denen eine freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit aufgrund einer heteronormativen Moral und der gesellschaftlichen Situation kaum möglich war. Erstmals berichtet Jähme öffentlich von den im Rahmen des Projekts gewonnenen Erfahrungen und Eindrücken und davon, wie die Kontakte zu den Zeitzeugen zustande kamen und die Interviews verliefen. Nach seiner Erfahrung sind alte schwule Männer sehr wohl bereit, aus ihrem Leben zu berichten, wenn sie auf echtes Interesse an ihren Erfahrungen stoßen.

Den zweiten, mit Erinnern und Gedenken überschriebenen Teil eröffnet Jürgen Wenke. Der Bochumer Psychotherapeut und langjährige Leiter der Rosa Strippe, einer psychosozialen Beratungsstelle für Lesben und Schwule, gibt einen kursorischen Überblick seines Engagements für die Erinnerung an die von der NS-Diktatur verfolgten und ermordeten schwulen Männer aus dem Ruhrgebiet. Es reicht von der Initiierung von Stolpersteinen in zahlreichen Ruhrgebietsstädten und Gedenktafeln in mehreren KZ-Gedenkstätten bis hin zu Publikationen. Dem ersten Stolperstein in Bochum folgten, stets verbunden mit Archivrecherchen, bisher weitere 19 Stolpersteine. Ruhrgebietsweit hat der Künstler Günter Demnig inzwischen 22, an ermordete Homosexuelle erinnernde Stolpersteine verlegt. Wenke nennt Stolpersteine gewachsene Kunstwerke, die es ermöglichen, die Öffentlichkeit vielfältig einzubeziehen.

Einen kritischen Blick auf die andronormative Gedenkkultur wirft die Mannheimer Historikerin Ilona Scheidle, die den Gedenkort Hilde Radusch vorstellt. Dieser erste Gedenkort für eine im Nationalsozialismus verfolgte, lesbisch lebende Frau wurde im Juni 2012 in Berlin-Schöneberg eingeweiht. 1903 geboren, war Hilde Radusch Kommunistin, später Sozialdemokratin, Politikerin, Frauenrechtlerin und lesbische Aktivistin. Scheidle kritisiert neben neben der androzentrischen auch die heteronormative Gedenk- und Erinnerungskultur, die es immer wieder zu hinterfragen gilt. Im Berliner Gedenk-ort sieht sie exemplarische und signifikante Möglichkeiten für das Gedenken anderenorts, in diesem Sinne regt sie feministische Stadtrundgänge an und diskutiert einen Gedenkort für die in Gelsenkirchen geborene Chansonnière Claire Waldoff.

Der Direktor des Dortmunder Stadtarchivs und Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache Stefan Mühlhofer erläutert das Konzept der anstehenden Überarbeitung der Dauerausstellung in der Steinwache, in dessen Leitlinien sich die Homosexuellenverfolgung einbinden lasse. Seit 2004 erinnert zwar ein Raum der Steinwache an dieses Thema, bietet aber aufgrund des damaligen Forschungsstands kaum lokalspezifische Informationen. Der Forschungsstand des Stadtarchivs hat sich seither nicht wesentlich verändert. Mühlhofer sieht nun aber die Chance, im Zuge der Neugestaltung auch das Thema Homosexuellenverfolgung im Mikrokosmos Dortmund sowohl auf Seiten der Opfer als auch auf Täterseite angemessen darstellen zu können. In das neue Konzept wird die Zusammenarbeit von Kriminalpolizei, Gestapo und Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von Homosexuellen in den Blick genommen. Die Verfolgung seitens der Polizeibehörden stellt ohnehin ein Desiderat dar. Mit der Neugestaltung der Dauerausstellung wird man hoffentlich, so Mühlhofer, bei der Darstellung der Homosexuellenverfolgung ein großes Stück weiterkommen. Er regt weitere Forschungsprojekte an, die er für lohnenswert hält.

Die Bonner Historikerin Ingeborg Boxhammer stellt zu Beginn des dritten Teils über Stationen der Selbstbehauptung ein feministisches Netzwerk an der Ruhr vor und fragt nach der Verknüpfung von Berufs- und Privatleben von vier Frauen, die um die Jahrhundertwende um 1900 im Ruhrgebiet lebten und als Dentistinnen, als sogenannte Zahnkünstlerinnen ohne akademische Ausbildung, tätig waren. Ob sie homosexuell waren, muss aufgrund fehlender Zeugnisse offen bleiben, Boxhammer weist ihnen jedoch überzeugend das Attribut lesbian-like zu. Trotz schwieriger Quellenlage und zahlreicher Fehlstellen gelingt es ihr, einen lebendigen Ausschnitt aus diesen selbstbestimmten, der Frauenbewegung nahestehenden Frauenleben aus den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts nachzuzeichnen, zu einer Zeit, in denen Frauen weder Wahlrecht noch Universität offen standen.


Der paradoxen Situation von Lesben in den Neuen Sozialen Bewegungen in Westdeutschland im Spannungsfeld zwischen Homosexellen- und Frauenbewegung widmet sich die Essener Soziologin Lisa Mense. Aufgrund der Diskriminierung ihrer Lebensweise schlossen sich zu Beginn der 1970er Jahre homosexuell lebende Frauen zunächst den entstehenden homosexuellen Gruppen und Bewegungen an. Um sich sowohl hier als auch in der Öffentlichkeit Sichtbarkeit zu verschaffen und ihre spezifischen Diskriminierungen als lesbische Frauen wahrnehmbar werden zu lassen, gründeten sie zunächst innerhalb der Bewegung eigene Lesbengruppen und -zentren, so auch im Ruhrgebiet. Mense erinnert an die diffamierende Berichterstattung über einen Mordprozess gegen zwei Frauen im Herbst 1973. Während die lesbische Beziehung den Prozessverlauf und die Berichterstattung dominierte, blieb die Gewalttätigkeit des getöteten Ehemannes beinahe unberücksichtigt. Gewalt gegen Frauen bildete seither einen gemeinsamen Bezugspunkt mit den Frauenbewegungen, die sich in diesen Protesten mit lesbischen Frauen solidarisierten, wie sich auch lesbische Frauen zunehmend den feministischen Ideen und Bewegungen zuwandten. In der Folge differenzierten sich die Frauenbewegungen Mitte der 1970er Jahre weiter aus und es entstand eine sich als radikal verstehende lesbisch-feministische Teilbewegung, die eine eigene lesbisch-feministische Gegenkultur aufbaute. Damit wechselte ein Teil der Bewegung das politische Konzept, an die Stelle der gesellschaftlichen Befreiung trat ein Modell der kollektiven lesbisch-feministischen Identität.

Die Dortmunder Psychologin Ulrike Janz widmet sich der Lesbenbewegung im Ruhrgebiet seit Anfang der 1970er Jahre. Erstmals listet sie Gruppen und Treffpunkte systematisch auf, verweist jedoch darauf, dass zahlreiche Lücken noch gefüllt werden müssen. In den 1970er Jahren entstand nach und nach eine Lesbenwegung, die sich politisch als Teil der autonomen feministischen Frauenbewegung verstand. Lesben bewegten sich politisch und privat gemeinsam mit heterosexuellen Frauen, aber auch in eigenständigen Gruppen, Organisationen und an eigenen Orten. Die Lesbenbewegung umfasste die lesbische Selbsthilfe in Fragen des Coming-outs, in Beziehungs- und sonstigen Lebenskrisen, bot aber auch schlicht Lebenshilfe durch umfassende Information. Wenig später begannen Lesben, in ihren neu entstandenen frauenbezogenen Zusammenhängen auch miteinander zu feiern und zu tanzen. An den Universitäten im Ruhrgebiet entstanden ab Ende der 1970er Jahre Autonome Frauenreferate. Die Lesbenwegung an der Ruhr vernetzte sich zudem regional und überregional.

Einer der Gründerväter der Aidshilfe-Bewegung im Ruhrgebiet, der heute in Düsseldorf lebende Frank Laubenburg, berichtet über die mit HIV und Aids im Ruhrgebiet in den 1980er Jahren einhergehenden Veränderungen in der Gesellschaft, aber auch in der Schwulenbewegung. Er beleuchtet einige Schlaglichter der Schwulenbewegung seit Ende der 1970er Jahre, als die Gründung eines Dachverbandes desaströs scheiterte. Anlässlich der ersten Berichte über Aids 1983/84 machte sich das Fehlen einer gesellschaftlich wahrnehmbaren schwulen Gegenwehr schmerzhaft bemerkbar. Mit der Berichterstattung über Aids als Schwulen- oder Lustseuche wurde die Risikogruppe der Schwulen konstruiert. Zudem führte Aids zur Verunsicherung schwuler Männer, aber auch zu hysterischen Reaktionen der Öffentlichkeit und zu repressiven Absichten von Teilen der Politik. In dieser Situation wurden die Aidshilfen an der Ruhr 1985/86 gegründet. Die Schwulenbewegung nahm zunächst ein ambivalentes Verhältnis ein, da man sich der Stigmatisierung nicht unterordnen wollte, Schwulenbewegung und Aidshilfen verfolgten unterschiedliche Ansätze. Für schwule Männer war es nach Laubenburg eine neue Erfahrung, von staatlichen Stellen wahr- und ernst genommen zu werden. Die Institutionalisierung der Aidshilfen-Bewegung ließ die erlahmte Schwulenbewegung erstarken und zunehmend Einfluss auf die Präventionskonzepte nehmen. Erst seit dem Beginn der 1990er Jahre können die Aidshilfen als Selbstorganisation der Schwulen gelten.

Abschließend untersucht der Siegener Historiker und Germanist Tim Veith die Männlichkeits- und Körperdiskurse in Zeitschriften für nicht-heterosexuelle Männer anhand der Rosa Zone. Dazu stellt er normierende, sich am hetero- und homonormativen Ideal orientierende Körper queeren Körpern gegenüber, die sich durch performative Akte von Homo- und Heteronormativität abgrenzen, und analysiert sie auf dem Hintergrund soziologischer und queertheoretischer Ansätze. Besonders Zeitschriften für nicht-heterosexuelle Männer spielten bei der Konstruktion von Körper- und Männlichkeitsidealen eine wichtige Rolle für ihre Identifikation und ihre Identität. In jeder Ausgabe der seit 1991 in Dortmund erscheinenden Rosa Zone finden sich Körper- und Männlichkeitsbilder, die von normierenden zu queeren Körpern reichen und ein heterogenes Bild vom Macho über den Bären- und Ledertyp hin zum Twink zeichnen. Auf dem Hintergrund ihres Erscheinens im Ruhrgebiet stellt Veith die Frage, ob die aufgezeigten Männlichkeits- und Körperideale an lokale Kontexte angebunden oder sie von diesen losgelöst genutzt werden.

Wie zu erwarten war, ließ die Tagung eine Reihe wichtiger Fragen unbeantwortet.14 Das konnte gar nicht anders sein, bietet aber zugleich für die kommenden Jahre zahlreiche Forschungsmöglichkeiten. Die Ausgrenzung und Verfolgung gilt es in all ihren Erscheinungsformen zwischen Polizei und Justiz, Religion und Gesellschaft, Psychiatrie und Schule, Arbeitswelt und Erinnerungskultur sichtbar zu machen. Gerade in einer schwerindustriell geprägten Region wie dem Ruhrgebiet lässt sich fragen, inwiefern sich schwul-lesbische Lebenswelten im Bürgertum von jenen der Arbeiterschaft unterschieden. Waren Arbeiter häufiger von Verfolgung betroffen, konnten Bürgerliche der Verfolgung aufgrund ihrer Lebensumstände leichter entgehen oder war die Fokussierung auf Arbeiter Teil der allgemeinen Repression in einer Region, in der der Nationalsozialismus anfänglich auf keinen großen Zuspruch, wohl aber auf umfangreiches widerständiges Verhalten gestoßen war? Gab es Unterschiede zwischen den ländlichen Rändern des Ruhrgebiets und seinen urbanen Zentren? Unterschied sich die Verfolgung schwuler Männer zwischen der Rheinprovinz und Westfalen, zwischen den drei das Ruhrgebiet tangierenden Bezirksregierungen? Welche Rolle spielte die Gestapo, welche die Sittendezernate der Kriminalpolizei, wer machte sich die Verfolgung mit besonderem Eifer zu eigen? Welche Spielräume verblieben der Justiz bei der Verfolgung der Homosexuellen? Welche Rolle nahmen die Kirchen bei der Verfolgung schwuler Männer und lesbischer Frauen vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik ein? Und welche Rolle spielten Vorwürfe wegen Homosexualität bei den so genannten Klosterprozessen 1936/37 tatsächlich?

Ein zweifelsohne dringendes Desiderat stellt die Verfolgung lesbischer Frauen dar. Die systematische Aufarbeitung der Schwulenverfolgung im Ruhrgebiet zwischen 1933 und 1969 lässt ebenfalls auf sich warten, aber auch die Rolle staatlicher und städtischer Instanzen von der Medizin über die Jugendämter bis zu den psychiatrischen Anstalten bei der Verfolgung bis in die 1960er und 1970er Jahre.

Wie gestaltet sich die Erinnerungskultur in Bezug auf schwule Männer und lesbische Frauen? Welche Erfahrungen wurden in den Mahn- und Gedenkstätten, den historischen Vereinen und den Archiven der Region gemacht? Wie lässt sich der Unterdrückung lesbischer Frauen angemessen gedenken? Welche Formen nahm die Selbstbehauptung zwischen Subkultur und Integration ein? Welche Rolle spielten die Städte der Region nach der Liberalisierung des Strafrechts bei der Zulassung schwuler und lesbischer Etablissements und Vereine, bei der Genehmigung von Demonstrationen, bei der allmählichen Zurückdrängung von Repressionen? Welche Erkenntnisse bietet die Untersuchung der schwulen und lesbischen Hochschulgruppen in Bezug auf das Entstehen einer homosexuellen Bewegung, auch des Kommunikationscentrums Ruhr (KCR), des ältesten noch bestehenden Lesben- und Schwulenzentrums in Deutschland? Dessen über 40-jährige Geschichte harrt noch immer einer wissenschaftlich fundierten Aufarbeitung: Noch sind Quellen vorhanden, noch leben die Zeitzeug_innen. Und es lässt sich der Frage nachgehen, welche Bedeutung die bürgerliche Homophilenbewegung im Ruhrgebiet einnahm. Welche Auseinandersetzungen gab es zwischen ihr und der neuen Schwulen- und Lesbenbewegung der 1970er Jahre? Ein noch völlig unbeackertes Feld schließlich ist die Geschichte bisexueller, transsexueller und intersexueller Menschen an der Ruhr, wobei zu erwarten steht, dass die Quellenlage noch sehr viel schlechter als bei der Situation der Homosexuellen sein dürfte. Aber auch hier lohnen die Anstrengungen. Auch fehlt es an vergleichenden Studien sowohl innerhalb des Ruhrgebiets als auch zwischen verschiedenen Regionen der Bundesrepublik.

Wenn der von der Dortmunder Tagung ausgehende starke Impuls nicht wirkungslos verpuffen soll, bedarf es der weiteren Vernetzung aller zu diesen Themen Forschenden. Es muss nicht immer eine ganztägige Veranstaltung werden, eine Diskussionsrunde ein- oder zweimal im Jahr, bei der aktuelle Projekte vorgestellt, aber auch Probleme besprochen werden, wäre bereits weiterführend. Wenn es der Tagung und diesem Tagungsband gelingen sollte, Initialzündung für eine kontinuierliche Zusammenarbeit zu sein, versprechen die kommenden Jahre einen reichen Forschungsertrag. Dazu können auch die Archive und Museen der Region ihren Beitrag leisten und sich verstärkt diesem Thema widmen. Die Archive könnten beispielsweise entsprechende Archivalien erschließen, Museen gezielte Sammlung anlegen, aber auch die Schwulen- und Lesbenbewegung selbst könnte ein dem Centrum Schwule Geschichte Kölns (CSG) oder dem Schwulen Museum* Berlins vergleichbares Archiv auf die Beine stellen.

Zum Schluss heißt es, Dank zu sagen für die Unterstützung bei der Vorbereitung und der Durchführung der Tagung und für das Zustandekommen des Tagungsbandes. Der Dank gilt der Stadt Dortmund als dem Schirmherrn, der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, dem Schwulen Netzwerk NRW und der Landesarbeitsgemeinschaft Lesben in NRW als den Geldgebern, dem Lesben- und Schwulenzentrum KCR und der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache als Veranstaltungsorte, dem Medienprojekt Queerblick und Stefan Nies für ihre technische Unterstützung, den Moderatorinnen und Moderatoren Manuel Izdebski und Frank Siekmann, den Referentinnen und Referenten, den Autorinnen und Autoren der Beiträge dieses Bandes, den vielen helfenden Händen, besonders denen der Teams des KCR und der Steinwache, und last, but not least Hans-Jürgen Vorbeck, Daniel Thäsler und Francesco Menga.

Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung

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