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„Alle sind nach meiner Meinung typische Homosexuelle”
ОглавлениеDer Essener Theaterskandal 1936
Jene Lokale, in denen ausschließlich oder überwiegend Personen verkehrten, die „der widernatürlichen Unzucht huldigen”, seien zu schließen, ordnete der kommissarische preußische Ministerpräsident Hermann Göring am 23. Februar 1933 an. Damit begann die sich zunehmend verschärfende Verfolgung der Homosexuellen unter dem Nationalsozialismus. Auf Grundlage dieser Verordnung verfügte der Essener Polizeipräsident Anfang April die Schließung eines Trefflokals, das in den 1920er Jahren über die Stadtgrenzen hinaus bekannt gewesen war: das Eldorado am Gerlingplatz 4. Zur Begründung führte er an, es handele sich um eine Schankwirtschaft, „die überwiegend von Homosexuellen besucht wurde”. Am 2. Mai wurde das Lokal geschlossen, am 10. Mai organisierten die Nazis vor dem Lokal auf dem Gerlingplatz die Bücherverbrennung. Der Aktion zur Vernichtung sogenannter Schmutz- und Schundliteratur fielen auch die Arbeiten des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld zum Opfer, eines Vorkämpfers für die Abschaffung des § 175 StGB.15
Damit begannen die Repressalien gegen gleichgeschlechtlich orientierte Männer und Frauen. Im Juni 1934 wurden der SA-Stabschef Ernst Röhm und ca. 200 weitere SA-Führer im Deutschen Reich umgebracht, um die SA als Konkurrent um die Macht im Reich auszuschalten. Die NS-Propaganda beschuldigte viele einer homosexuellen Veranlagung. Adolf Hitler selbst gab den Befehl zur „rücksichtslosen Ausrottung dieser Pestbeule”.16 Im September 1935 wurde der Strafrechtsparagraf 175, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, deutlich verschärft. 1936 wurde in Berlin die Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung gegründet, um die Verfolgung von Homosexuellen systematisch angehen zu können.
Auch in Essen nahm die Verfolgung zu. Bei einer Razzia in der Wirtschaft Schmitz, Ecke Steeler- und Söllingstraße, nahm die Polizei etwa 60 bis 80 Personen fest – unter ihnen auch ein Staatsanwalt. Bis Ende April 1936 wurden erneut mehr als 50 Männer festgenommen. Am 25. September 1936 verurteilte die Erste Große Strafkammer des Landgerichtes 14 Angeklagte, sie stammten aus unterschiedlichen Schichten und Berufsgruppen. Einer der Verurteilten war ein 18-jähriger Autoschlosser, der nach der Verbüßung seiner Gefängnisstrafe ins KZ Sachsenhausen überführt wurde. Von dort aus folgten Jahre in den Konzentrationslagern Flossenbürg und Dachau. Dokumentiert sind die vergeblichen Bemühungen seiner Eltern und Geschwister um Begnadigung. Der Bedarf an wehrfähigen Männern für den Krieg rettete den jungen Mann schließlich vor weiterer Lagerhaft: Am 11. Juni 1943 entließ man ihn aus dem Lager mit der Auflage, unverzüglich dem Einberufungsbefehl zur Wehrmacht zu folgen.
Zu den NS-Maßnahmen zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung, die alle sogenannten Volksschädlinge erfassen sollten, gehörte auch die Verhängung der sogenannten Vorbeuge- oder Schutzhaft und die willkürliche Einweisung in Konzentrationslager. Das belegen zahlreiche Gestapo-Akten, die die Verfolgung Essener homosexueller Männer belegen. „Da die Ermittlungen einen derartigen Umfang angenommen haben, daß eine sachgemäße Bearbeitung in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich ist […], halte ich Schutzhaft bis auf weiteres für dringend erforderlich”, heißt es etwa in einem Brief vom 7. April 1936.17 Auch sind Suizide in der Gefängniszelle aus Angst vor Misshandlung und aus Scham in den Akten der Essener Gestapo dokumentiert. Ein ehemaliger Kellner, der vor Gericht sein gegenüber der Gestapo abgelegtes Geständnis widerrief, wird in indirekter Rede mit den Worten wiedergegeben, „unter Druck erreichte man meine Geständnisse – der vernehmende SS-Oberscharführer habe eine Peitsche in der Hand gehabt und […] Kastration und Konzentrationslager angedroht. Er habe das Geständnis nur zu dem Zwecke abgelegt, um nicht öfter vernommen zu werden”.
„Homosexuell veranlagte Angestellte der Essener Bühnen”
Im Frühjahr 1936 folgte mit dem Essener Theaterskandal eine Gestapo-Aktion gegen Homosexuelle. Wie weit seine Wellen schlugen, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass Reichspropagandaminister Joseph Goebbels ihn in seinem Tagebuch vermerkte. Drei Jahre zuvor war das Essener Theaterensemble von rund 20 jüdischen Künstlern und sogenannten Salonbolschewisten „gesäubert” und mit Alfred Noller ein linientreuer Intendant eingesetzt worden. Damit standen die Essener Bühnen ganz „im Dienste der nationalsozialistischen Kulturpolitik”.18 Im Zusammenwirken mit Oberbürgermeister Dr. Theodor Reismann-Grone propagierte Alfred Noller nun das Ziel, „mit dem Volkstheater zur Volksgemeinschaft” beizutragen.
Auch der Oberbürgermeister beabsichtigte, die „Kultur der Stadt zu heben” und „die Mitbürger durch die Taten zu überzeugen vom Wert des Nationalsozialismus”.19 Obwohl die Stadt, die durch die Weltwirtschaftskrise in große finanzielle und ökonomische Probleme geraten war, jahrelang die Schließung der Städtischen Bühnen oder eine Fusion mit dem Duisburger Stadttheater nicht ausschließen konnte, zeigte sich Reismann-Grone überzeugt, „daß wir vor einer großen nationalen Kunst stehen”. Die Unsicherheit um den Fortbestand der Essener Bühnen prägte nicht nur die Auseinandersetzungen zwischen dem Stadtoberhaupt und seinem Intendanten Noller, sie dürften auch nicht ohne Folgen auf das Arbeitsklima unter den Ensemblemitgliedern geblieben sein. Hinter den Kulissen erreichte im Sommer 1935 das Gerangel zwischen den NSDAP-Parteigenossen auf der einen und den übrigen Ensemblemitgliedern auf der anderen Seite eine neue Dimension. Linientreue Parteigenossen suchten Unterstützung bei Reichsminister Joseph Goebbels, dem als Minister für Propaganda und Volksaufklärung der gesamte Kulturbereich unterstand. Der Minister forderte daraufhin, fünf Parteimitglieder einzustellen, die Noller zuvor als „ganz unbrauchbare Sänger” beschrieben hatte. Dies berichtete der Intendant dem Oberbürgermeister am 29. August 1935.20
Während dieser Auseinandersetzungen wurde im Reich die Verschärfung des §175 StGB öffentlich vorbereitet, die schließlich am 1. September 1935 in Kraft trat.21 Im Essener Ensemble gerieten nun jene, von denen angenommen wurde, sie gehörten zur „Clique” der „homosexuell veranlagten Angestellten der Städt. Bühnen”, in die Schusslinie.22 Bereits zwei Tage später sah sich Operettenspielleiter und Schauspieler Otto Zedler23 veranlasst, gegen die „gemeine Verächtlichmachung” seiner Person und die „durch nichts gerechtfertigten erotischen Klatschereien” vorzugehen. In Schreiben vom 3. und 4. September forderte er die Operettensängerin Klara K. auf, die „üblen Nachreden” sofort zu unterlassen, was jedoch unterblieb. Ob Bühnenmaler, Gewandmeisterin oder Opernsängerin – alle tuschelten, unterstellten, vermuteten und bestellten den Boden der Denunziation.
„Ein treuer und lustiger Herrscher”
Als Otto Zedler am 12. Februar 1936 von den Essener Bühnen im Rahmen eines „frohen Festes” der 14 Essener Karnevalsgesellschaften im großen Festsaal des Saalbaues zum Prinz Karneval Otto I. der Stadt Essen ernannt wurde, versprach er seinen ausgelassenen Untertanen, ein „treuer und lustiger Herrscher” zu sein. Von den neuen Gerüchten um seine Person, die im Umlauf waren, wird er zu diesem Zeitpunkt gehört haben. Bei den Gerüchten blieb es aber nicht. „Von absolut glaubwürdiger Seite” und „streng vertraulich” bekam Kriminalkommissar Peter Nohles von der Gestapo-Außenstelle Essen Informationen über Zedler selbst und die Verhältnisse am Stadttheater. In seinen Aufzeichnungen vom 20. Februar notierte er, die homosexuelle Veranlagung Zedlers sei in weiten Bevölkerungskreisen bekannt. Deshalb habe man an seiner Wahl zum Prinz Karneval nicht nur Anstoß genommen, sie habe vielmehr ausgesprochenes Befremden ausgelöst. Nohles resümierte: „So erscheint es doch schon jetzt angezeigt, sich mit seiner Person näher zu befassen und zu erwägen, ob man ihn trotz der Gerüchte als Prinz Karneval auftreten läßt, um ggf. einen etwaigen späteren für die Stadt Essen blamablen Skandal vorzubeugen”. Auch Intendant Noller wurde zur Zielscheibe der Kritik. Nohles nannte ihn in seinen Aufzeichnungen einen „ehemaligen Kommunisten”, der NS-Parteigenossen an den Städtischen Bühnen wirtschaftlich benachteilige. Einige der wenige Wochen später Verhafteten wurden bereits hier mit Namen genannt. Nohles schloss, daß „eine eingehende Prüfung all dieser Dinge dringend geboten erscheint, da zu besorgen ist, daß sie sich zu einem Skandal auswachsen”.24
Wer der Geheimen Staatspolizei als Quelle diente, muss Vermutung bleiben. Im Theaterskandal verwickelte Personen wie die Operettensängerin Glanka Z. bezogen sich in ihren Aussagen vor der Gestapo auf einen gewissen Heinrich oder Heinz M.,25 der nach eigenen Angaben Kreispropagandaleiter der NSDAP und maßgeblich an der Denunziation beteiligt war. Opernsänger Erwin R., zugleich NSDAP-Parteigenosse und Bühnenfachschaftsleiter, berichtete der Gestapo, Glanka Z. habe ihm vertraulich mitgeteilt, die Gestapo beabsichtige, Otto Zedler während der großen Karnevalsprunksitzung, der er als Prinz Karneval beiwohnen werde, zu verhaften und im Ornat abzuführen. Doch sahen die seit Wochen ermittelnden Beamten der Geheimen Staatspolizei von einem derart spektakulären Zugriff auf Otto Zedler ab.
Beim Rosenmontagszug schließlich jubelten dem Prinzen Karneval Otto I. und seiner Prinzessin Assindia, mit bürgerlichem Namen Hilde, „Zuschauer wie noch nie” zu, wie der Essener Anzeiger in großer Aufmachung titelte. Weiter heißt es: „Prinz Otto I. war in solcher angenehmen Hochzeitsstimmung, dass er warme Worte des Dankes für die Unterstützung des Essener Karnevals durch die Stadtverwaltung, Bevölkerung und Presse fand.”26 Die „warmen Worte des Dankes”27 und der Jubel von vielen tausend Narren in den Straßen der Essener Innenstadt dürften SS-Sturmführer Albert Schweim von der Gestapo-Außenstelle nicht beeindruckt haben. Er hatte schon am 15. Februar mit sofortiger Wirkung die Postkontrolle über Otto Zedler veranlasst, doch „noch hatten sich keine positiven Beweise für seine anormale Veranlagung und strafbare Beziehungen” erbringen lassen. Fünf Wochen später lagen die gesuchten Beweise jedoch vor und der umjubelte Prinz Karneval Otto I. wurde festgenommen.
„Alle sind nach meiner Meinung typische Homosexuelle”
Doch nicht die Überwachung der Post lieferte der Gestapo die notwendigen Beweise der Homosexualität Otto Zedlers, sie fielen ihr vielmehr als Folge einer weiteren Denunziation nebenbei in die Hände. Am 15. Februar 1936 erreichte die Essener Gestapo eine kurze Mitteilung des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS: „Betrifft: Lothar Sch., Essen, Rellinghauser Str., Abteilungsleiter beim Ruhrverband. Der Genannte ist homosexuell.”28 Diese Mitteilung veranlasste die Essener Gestapo, gegen die „homosexuellen Umtriebe” einzuschreiten, und löste damit den Theaterskandal und die Aktion gegen Homosexuelle in Essen aus.
Durch Denunziation eines Nachbarn geriet der gutsituierte 53-jährige Abteilungsleiter ins Blickfeld der Gestapo. Der Nachbar, ein NSDAP-Parteigenosse, gab an, seit fünf Jahren „das Treiben in der Wohnung des Sch.” beobachtet zu haben, und bot an, bei dem nächsten, Anfang des Monats stattfindenden Sonntagnachmittagstreffen mit „5-6 jungen Burschen” der Gestapo telefonisch Nachricht zu geben. Dass es sich dabei um ein geselliges Treffen zum Kartenspiel, einen Rommé-Kreis unter Gleichgesinnten handelte, spielte in den kommenden Monaten keine Rolle mehr. Die Festnahmen vom 4. März boten der Gestapo den Anlass für die große Aktion gegen homosexuelle Umtriebe in Essen. An den Verhören beteiligte sich neben Kriminalkommissar Nohles auch der junge Kriminalkommissar-Anwärter Erich Weiler, der später durch seine Erfolge gegen Homosexuelle in Essen, Duisburg und Düsseldorf schnell Karriere machen sollte. Im Organisations- und Geschäftsverteilungsplan der Gestapo-Leitstelle Düsseldorf wurde er 1938 als Referatsleiter für „Sonderaufträge”, „Homosexuelle und Abtreibungen” aufgeführt, später stand er im Rang eines SS-Oberscharführers.29
Gemeinsam mit Lothar Sch. wurde auch der junge Tänzer Walter B. in Polizeigewahrsam genommen und intensiven Verhören unterzogen. Gezielt wurden beide nach den Essener Bühnen und den „dortigen Umständen” befragt. Auf Fragen nach dem Opernsänger Otto Zedler oder dem Kapellmeister Puhlmann gab Lothar Sch. zur Antwort: „Von den Herren Zedler u. Puhlmann weiß ich aus eigener Kenntnis nichts. Es ist mir jedoch zu Ohren gekommen, das Zedler mit einem Freund namens Brand zusammen wohnt.”30 Tatsächlich wohnten und lebten beide seit 1927 zusammen, Brand bestritt aber im Gestapo-Verhör, mit Zedler sexuelle Handlungen begangen zu haben.31 Auch weitere Ensemblemitglieder wurden verhört. Der Opernsänger Kurt R. gab am 6. März der Gestapo zu Protokoll: „Ich kenne auch die Gerüchte, die über homosexuell veranlagte Personen an der Essener Oper im Umlauf sind. Nach dem Verhalten der Tänzertruppe zu urteilen – alle sind nach meiner Ansicht typische Homosexuelle […]. Auch über den Operettenspielleiter Zedler kursiert das Gerücht, daß er homosexuell veranlagt sei.”32
„Es ist ein schlimmer Skandal für Essen”
Mitte März 1936 bat Intendant Noller wegen des sich abzeichnenden Skandals Oberbürgermeister Reismann-Grone um Hilfe. Der Angesprochene äußerte sich in seinen Aufzeichnungen ebenso knapp wie dramatisch: „Ein böser Schlag: Am Freitag, den 13. 3., kommt Noller blaß.” Als der – so der OB – „lähmende Skandal am Theater ausbrach”, „angeblich auf Grund eines Klatsches eines entlassenen Parteigenossen”, wurden von der Gestapo nach §175 StGB verhaftet: Bühnenbildner Paul Sträter, Schauspieler Otto Zedler, Kapellmeister Kurt Puhlmann und Opernspielleiter H. Intendant Noller bat den OB „um Hilfe”.33
Am nächsten Tag suchte der Oberbürgermeister Kriminalpolizeirat Braschwitz auf, den Leiter der „Politischen Inspektion Essen” der Gestapo.34 Den „nationalgesinnten Verleger” Reismann-Grone, dessen Herz „an Kunst und Kultur im weitesten Sinne” hing und der 1933 als 72-Jähriger mit der Absicht angetreten war, „Essen zu einem Weimar zu machen”, dürften die Nachrichten aus der Gestapo-Außenstelle schockiert haben. In seiner Chronik hielt er fest: „Es ist ein schlimmer Skandal für Essen.”35 In den Märztagen kam es zu immer neuen Verhaftungen. Intendant Noller „brach darüber ganz zusammen”, als Bühnenbildner Sträter und Operettenspielleiter und Faschingsprinz Otto Zedler, wenige Tage zuvor noch „von den Massen bejubelt”, verhaftet wurden. Auf Anraten des Oberbürgermeisters musste der „schwer zerrüttete” Noller für „wenige Tage” in den Erholungsurlaub geschickt werden. Noller ließ den Oberbürgermeister wissen, die Sängerin Glanka Z. habe ihm über eine „gewisse Affäre” berichtet. Im Zusammenhang mit der Verhaftung Otto Zedlers gab sie in „aller Bescheidenheit” an, „dass doch die auf Grund der Sonderaktion engagierte Klara K., die wegen künstlerischer Unzulänglichkeit in der nächsten Spielzeit nicht wiederverpflichtet wird, eine Hauptperson in dieser Affäre abgibt”. Mit Brief vom 17. März fragte Noller weiter, „ob nicht in diesem Fall die allseitig unbeliebte und künstlerisch vollkommen unzulängliche Klara K., die mich und unser Theater bereits bei der Reichstheaterkammer denunziert hatte, fristlos zu entlassen ist. Eine solche Maßnahme würde die ganze Atmosphäre um unser Theater säubern […].”
Er konnte nicht ahnen, dass die Verhaftung des Tänzers Peter Roleff am 23. März dem „Skandal” neue Brisanz verleihen und für die Beamten der Gestapo-Außenstelle Essen zu einer öffentlichen Blamage werden sollte. Denn nicht der Lebensgefährte von Otto Zedler erbrachte die gesuchten Beweise, die zur Verhaftung notwendig waren. Erst die Aussagen des Ballettmeisters Peter Roleff, der über seine intimen Kontakte zu Zedler und anderen Personen Auskunft gab, führten am 30. März zur Verhaftung des Operettenspielleiters. In seinen Aussagen, die mutmaßlich nicht ohne physischen und psychischen Druck zustande kamen, nannte er zahlreiche Personen, die homosexuell veranlagt seien. Unter ihnen der von Noller geschätzte Bühnenbildner Paul Sträter.36
Im März 1936 wurden fast täglich Männer unter dem Verdacht verhaftet, homosexuell zu sein. Die mehr als zwanzig Festnahmen zwischen dem 4. März und dem Monatsende sorgten in breiten Bevölkerungsteilen der Ruhrmetropole für Klatsch. Die National-Zeitung sah sich am 5. April 1936 genötigt, auf die Gerüchte zu reagieren. Bevor der anonyme Autor des Artikels auf die „Reihe der Verhaftungen” dieser Tage einging, legte er die generelle Position des Nationalsozialismus „gegen die Erscheinung des Verfalles” dar: „Mit einer verschärften Gesetzgebung hat der Nationalsozialismus die Grundlage für diesen Kampf um die Reinhaltung unseres Volkskörpers geschaffen.” Dann erst ging er auf die lokalen Verhaftungen ein, „die aus dieser unerbittlichen Kampfhaltung […] herrühren. In der Öffentlichkeit gehen darüber Gerüchte mit den üblichen Übertreibungen und Entstellungen um. […] Uns darf das Bewußtsein genügen, daß der neue Staat von der Waffe, die er sich in der verschärften Gesetzgebung geschaffen hat, rücksichtslos Gebrauch macht, wo immer er auf Eiterbeulen stößt, ohne Ansehung des Namens wie des Standes.”37
Einen Eindruck von der Atmosphäre in der Stadt in jenen Wochen vermitteln die Aussagen, die später Verhaftete gegenüber der Gestapo machten. „Als die Festnahmen von Homosexuellen-Mitgliedern des Essener Stadttheaters von der Polizei vorgenommen worden waren, erschien eines nachmittags ‚Natascha’ reisefertig mit einem Koffer in der Wohnung von K. und erklärte, er müsse flüchten […]. K. hatte ihm einen Paß besorgt.”38 Ein Ende 1936 verdächtigter Folkwang-Schüler sagte aus: „Während der Mahlzeit sagte mir Frau D., daß ich auf ihren Sohn recht aufpassen solle. Er wäre so leichtsinnig. Die Worte von Frau D. wurden deshalb zu mir gesprochen, da das Gespräch sich beim Essen auf die Vorkommnisse homosexueller Art im Stadttheater in Essen bezog.”39 Noch liefen die Ermittlungen und Razzien der Geheimen Staatspolizei gegen die „homosexuellen Umtriebe” auf Hochtouren, denn die Kripo-Beamten konnten nicht ahnen, dass mit der Eröffnung des ersten Prozesses gegen den Bühnenbildner Paul Sträter der Öffentlichkeit neuer Gesprächsstoff über die Gestapo geliefert werden sollte.
„Das Ende eines unerquicklichen Prozesses”
Bis Ende April 1936 hatte sich die Zahl der Verhafteten auf über 50 erhöht. Während die Verdächtigen anfänglich die Vorwürfe bestritten, gelang es der Gestapo durch tagelange Verhöre und Gegenüberstellungen, die Festgenommenen zu überführen. Welche Rolle Folter oder die Androhung von Folter dabei spielte, kann nur vermutet werden. Aus dem Blickfeld geriet dabei der zuvor umjubelte Prinz Karneval, der seine „Bisexualität” gestand.40 Die Staatsmacht plante, ihn mit weiteren geständigen Verhafteten, die sich der „widernatürlichen Unzucht” schuldig gemacht hatten, in einem groß angelegten Prozess in den Sommermonaten vor Gericht zu stellen. „In allernächster Zeit sollte nun gegen 23 Angeklagte, die des Verbrechens nach §§ 175, 175a StGB überführt sind, die Hauptverhandlung beim hiesigen Landgericht stattfinden”, hielt Kriminalkommissar Schweim in einem Bericht fest und fuhr fort: „Aus nicht durchsichtigen Gründen wurde das Verfahren gegen den Bühnenbildner Sträter abgetrennt und aus dem gesamten Komplex herausgenommen. Weil ein sichtbarer Grund hierfür nicht vorhanden war, erregte diese Maßnahme einiges Befremden.”41
Der seit Herbst 1935 verheiratete Bühnenbildner Sträter war durch die Aussagen mehrerer Beschäftigter der Essener Bühnen der widernatürlichen Unzucht bezichtigt worden. Der Bühnenmaler Willi D. sagte aus, dass Sträter sich selbst als „warm” bezeichnet hätte und dass „im ganzen Hause allgemein die homosexuelle Veranlagung Sträters bekannt gewesen sei und aus der er […] keinen Hehl machte”.42 Doch erst die Verhöre des Ballettmeisters Peter Roleff und sein Eingeständnis, es sei zu sexuellen Handlungen mit Sträter gekommen, genügten der Geheimen Staatspolizei, Sträter als überführt zu betrachten. Sträter selbst bestritt die Tat. In den kommenden Wochen bemühten sich sowohl Intendant Noller als auch Oberbürgermeister Grone-Reismann um Sträter – das Schicksal der anderen festgenommenen Ensemblemitglieder berührte sie jedoch wenig.
Zur Verwunderung der Geheimen Staatspolizei wurde zunächst gegen Sträter verhandelt, am 19. Juni 1936 begann der Prozess. „Sträter als erster Angeklagter” überschrieb die National-Zeitung vom 20. Juni ihren Artikel. Doch nach vier Verhandlungstagen konnten die Leserinnen und Leser der Essener Volkszeitung am 29. Juni Details über „Das Ende eines unerquicklichen Prozesses” erfahren. Der Hauptbelastungszeuge Peter Roleff, der drei Monate zuvor den Bühnenbildner Paul Sträter beschuldigt hatte, erschien am 23. Juni vor der III. Strafkammer des Landgerichts Essen und widerrief sein belastendes Geständnis.43 In Anwesenheit der Presse und der Gestapo-Beamten Nohles und Schweim behauptete der Ballettmeister, „daß ihm gerade dieses Geständnis, und zwar dieses allein, von dem vernehmenden Beamten der Staatspolizei durch Schläge pp. erpresst worden sei”.44
In einem internen Bericht der beiden Beamten, die sich bloßgestellt sahen, kam ihr Unmut über den gesamten Hergang des Verfahrens zum Ausdruck. Sie erhoben schwere Vorwürfe über die Zusammensetzung der Strafkammer, besonders über das Verhalten des Vorsitzenden Kammerpräsidenten Thiel und die „Art seiner schlappen Verhandlungsführung”. Den Anwürfen gegen die Staatspolizei sei Präsident Thiel nicht energisch entgegengetreten. In seinen Ausführungen über die Methoden der Verhöre des Kommissars Nohles erklärte der Zeuge Peter Roleff, „er sei von Nohles mehrmals über den Tisch hinweg auf den Kopf geschlagen worden. Hierbei sei der Schreibtisch umgefallen.”45 Zwar widersprach die Protokollantin der Staatspolizei, die das Verhör des Peter Roleff niedergeschrieben hatte, in ihrer Vernehmung den Aussagen des Ballettmeisters. Sie verneinte auch die Frage des Kammerpräsidenten Thiel, „ob Kommissar Nohles während der Vernehmung des Roleffs geboxt bzw. so geschlagen hätte, daß der Tisch umgefallen sei”.46 Die beiden Kriminalkommissare weiter: „Es sei bezeichnend für die Art der Verhandlungsführung des Präsidenten Thiel, daß […] man von dem Verfahren gegen Sträter in ein anderes gekommen wäre!” Jedem Außenstehenden war klar, daß mit diesem anderen Verfahren nur eines gegen die Staatspolizei und deren Vernehmungsmethoden gemeint sein konnte.
Den sich anbahnenden Freispruch Sträters aufgrund des „Umfalles” des Zeugen Roleff versuchte die Staatsanwaltschaft mit dem Antrag zu verhindern, das Verfahren zu vertagen. Der Staatsanwalt versuchte, die Verhandlung gegen Sträter, wie ursprünglich wohl auch vorgesehen, zusammen mit dem „demnächst kommenden großen Prozeß gegen Homosexuelle” führen zu lassen. Die Herausnahme, die sich als „Fehler erwiesen hätte”, sei aus „rein objektiven Gründen erfolgt”, so der Staatsanwalt in seinem Antrag zur Vertagung, „da man Sträter nicht für einen typischen Homosexuellen gehalten habe”. Angemerkt sei hier die Aussage des als weiterem Zeugen vernommenen Intendanten der Essener Bühnen. Noller erklärte vor Gericht, „daß Künstler in ihren Aussagen nicht immer mit den Maßstäben des reinen Verstandes zu messen seien, sondern dass sie von der künstlerischen Fantasie stark beeinflußt würden […], so daß sie zuletzt selber nicht mehr zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden wüßten”.47 Diese Aussage Nollers soll unter den Angestellten der Essener Bühnen große Empörung ausgelöst haben, vermerkte die Gestapo in ihrem Bericht. Auch der Hinweis der Staatsanwaltschaft, „daß derartige Verfehlungen nach der heutigen strengen Auffassung in unserem Staate aus gesundheitlichen und moralischen Erwägungen heraus empfindlich geahndet werden”, und die Beantragung einer Gefängnisstrafe von neun Monaten brachten Kammerpräsident Thiel nicht davon ab, den Angeklagten Paul Sträter freizusprechen.
„Unwahre Behauptungen über angebliche Geständniserpressungen”
Wie sehr sich die Essener Gestapo-Leitstelle blamiert hatte, dokumentierte die Berichterstattung der lokalen und überregionalen Presse. Die Schlagzeilen über „Das Ende eines unerquicklichen Prozesses” und die Umstände, die durch den „Umfall” des „unerklärlichen Zeugen Roleff” einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurden, sollten von der Geheimen Staatspolizei nicht einfach hingenommen werden.48 Am 26. Juni erging ein Schutzhaftbefehl gegen Paul Sträter. Seine Ehefrau wandte sich an den Oberbürgermeister, der ihr versicherte, er „verlange Freilassung von Sträter”. In seiner Chronik fuhr er fort: „Ich rufe die Gestapo an. Kommissar Nohles weicht aus, sagt, es lägen gegen Sträter noch andere Sachen vor.” Und den „erregten” Kommissar Schweim zitiert er mit den Worten: „Die Gestapo sei bloß gestellt und das lasse er sich nicht gefallen, er glaube nicht an Sträters Unschuld”. Schweim verwies darauf, dass der Polizeipräsident von Essen, SS-Brigadeführer Zech, „seine Auffassung teile”. Der Oberbürgermeister antwortete, „das Vorgebrachte gehe Roleff an, nicht Sträter. Ich warte bis zum Urteil, dann muß ich für meinen Angestellten eintreten.” Am selben Tag ließ der Oberbürgermeister sich von Stadtrechtsrat Russel berichten: „Sträters Freispruch sei ganz sicher”, aber er sei von der Gestapo nicht freigelassen worden. Im „Schutzhaftbefehl” heiße es, dass „durch die Beeinflussung der Öffentlichkeit das Ansehen der Staatspolizei durch unwahre Behauptungen über angebliche Geständniserpressungen” und somit „die Staatssicherheit erheblich gefährdet” sei. Trotz intensiver Bemühungen anderer Gestapo-Dienststellen, neue Erkenntnisse über Sträter zu erlangen, blieben die Ermittlungen ohne Erfolg.
Oberbürgermeister und Intendant versuchten in den Sommermonaten, durch Eingaben und Entlassungsgesuche an die Essener Gestapo die Freilassung Sträters zu erreichen. Nach einem Gespräch mit dessen Anwalt notierte der OB am 31. Juli in seiner Chronik: „In sechs Tagen werde ich Oberleitung der Gestapo [Himmler] bitten, sich zu entscheiden, da Sträter eventuell ersetzt werden muss, [und da er] auch in Antwerpen nötig ist.” Schließlich zeigte das Engagement um die Entlassung aus der Schutzhaft Wirkung. Einen Auftrag an Sträter, Entwürfe für die Königlich Flämische Oper in Antwerpen zu erstellen, nahm der Präsident der Reichstheaterkammer zum Anlass, sich in einem Schreiben an Kriminalkommissar Schweim für die Freilassung zu verwenden. Anfang September 1936 wurde Paul Sträter aus der Schutzhaft entlassen.
Die Geheime Staatspolizei hielt es in den folgenden Jahren in Schreiben an den Präsidenten der Reichstheaterkammer in Berlin „noch nicht für ratsam”, „Sträter an einem Theater der öffentlichen Hand zu beschäftigen”.49 Obwohl im August 1938 in der Gestapo-Außenstelle Braunschweig erneut der Verdacht der homosexuellen Betätigung aufkam, blieb Paul Sträter unbehelligt.50 Noller nahm Sträter später mit an die Staatsoper Hamburg.
„Verantwortungslose Volks- und Staatsfeinde”
Anders erging es den 14 Personen, deren Schicksal mit dem Essener Theaterskandal in Verbindung stand. Sie mussten am 25. September 1936 vor der I. Großen Strafkammer des Landgerichts Essen ihre Urteile entgegennehmen. Im Gegensatz zum ersten Prozess fand dieser unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Der Bericht des Deutschen Nachrichtenbüros wird sicher auch die Zustimmung der Essener Gestapo gefunden haben. Die Namen der 14 Angeklagten aus den „verschieden-sten Volksschichten und Berufskreisen” wurden nicht mehr genannt. Darunter befanden sich der ehemalige Operettenspielleiter und Regisseur Otto Zedler und der Tänzer Peter Roleff. Zedler wurde zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und Roleff, der in der Urteilsbegründung als „der typische Homosexuelle” bezeichnet wurde, zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren verurteilt. Laut Essener Anzeiger vom 26. September bezeichnete der Vorsitzende der Strafkammer „die Straftaten als dekadente, anormale Erscheinungsformen, die den gesunden Volkskörper schwer bedrohen […]. Wir alle wissen, zu welchen Zersetzungs- und Verfallserscheinungen die Zustände vergangener Zeiten führten, da ein Magnus Hirschfeld und andere ‚Wissenschaftler’ darauf drängten, den § 175 überhaupt aufzuheben […]. Im neuen Reich werden diese Kreise als das bezeichnet und behandelt, was sie sind, als verantwortungslose Volks- und Staatsfeinde, mit denen rücksichtslos aufgeräumt werden muss und wird.” In der folgenden Ausgabe wurde die National-Zeitung zitiert, die sich über die Urteile ausließ und bedauerte, „daß das Essener Gericht in seiner Urteilsfindung dem ausdrücklichen Willen des nationalsozialistischen Staates und des deutschen Volkes, in schärfster Form der Gefahr der Volksverseuchung entgegenzutreten, in offensichtlich ungenügender Form begegnet sei”. Das Blatt empörte sich: „Hier liegen doch Straftaten vor, die diejenige, welche sie begangen haben, einwandfrei als verantwortungslose Volks- und Staatsfeinde charakterisieren, so daß mit ihnen wirklich rücksichtslos aufgeräumt werden müßte.”51
Die Künstler der Städtischen Bühnen in Essen, die von der Geheimen Staatspolizei im Rahmen der „Aktion gegen Homosexuelle” überführt oder verdächtigt worden waren, wurden im Februar 1938 in einer „Künstlerliste” erfasst. Per Erlass forderte das Geheime Staatspolizeiamt Berlin sie an.52 Otto Zedler und sein Lebensgefährte wurden in den Jahren nach der Verbüßung der Gefängnisstrafe weiterhin überwacht. In einem Schreiben vom 28. September 1938 teilte das Geheime Staatspolizeiamt Berlin der Staatspolizei Düsseldorf mit: „Trotz der Bestrafung sind beide wieder zusammengezogen.” Sogleich wurde Zedler auferlegt, nicht nur die gemeinsame Wohnung mit seinem Lebensgefährten aufzugeben, sondern seinen Aufenthaltsort zu verlegen, „widrigenfalls er mit der Inschutzhaftnahme zu rechnen hat. Vollzugsmeldung ist erforderlich”.53 Erst im Januar 1938 wurde die „Aktion gegen Homosexuelle” in Essen von der Gestapo-Außenstelle Essen für beendet erklärt.54 Bis zum Kriegsende wurden den verfolgten Bühnenkünstlern Auftritte verboten und die Betätigung als Künstler verwehrt.
Eine Stunde Null gab es für die homosexuellen Opfer nicht. Auf den 1985 in Berlin und München angebrachten Gedenktafeln steht zu lesen: „Totgeschlagen – Totgeschwiegen. Den homosexuellen Opfern des Nationalsozialismus!” Totgeschwiegen wurde bis vor wenigen Jahren auch die Geschichte des Essener Karnevalsprinzen von 1936, Otto I. Noch heute sucht man in der Chronik des Essener Karnevalskomitees vergebens nach Otto Zedler, dem Karnevalsprinzen, der als Schauspieler und Regisseur in dem Lustspiel „Morgen geht´s uns gut!” von Ralph Benatzky an den Essener Bühnen Erfolge gefeiert und am Rosenmontag 1936 tausende Essener unterhalten hatte. Ignoriert wurde auch seine Nachkriegskarriere in der DDR. Zedler, der seit 1945 im Ostteil Berlins tätig war, starb 1978. Seit dem 8. Mai 2014 erinnern zwei Stolpersteine am Haupteingang des Essener Grillo-Theaters an die „Aktion gegen Homosexelle” an den Essener Bühnen und an die Opfer, die wegen ihrer sexuellen Orientierung denunziert, verhaftet und verurteilt wurden.