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Grußwort des Bürgermeisters der Stadt Dortmund

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Am 5. November 2015 ist mit Hans Mommsen einer der wichtigsten Historiker der NS-Zeit gestorben. In einem Nachruf hat die Süddeutsche Zeitung seine „unbequemen Blicke auf die Vergangenheit” gewürdigt und an sein historisches Credo von 1964 erinnert: Zeitgeschichte, so Mommsen, dürfe „nicht dabei stehen bleiben, eine Kritik der Vergangenheit zugunsten der gelebten Gegenwart zu liefern”, sondern müsse „die Geschichte der jüngsten Vergangenheit von den Fragen her neu durchdenken, die von ihr her über Tage oder unterirdisch auf das gegenwärtige Handeln einwirken”.1 Diesem Ansatz wird auch die heutige Veranstaltung gerecht, denn sie gibt nicht nur Zeugnis über die „schwul-lesbischen Lebenswelten an Ruhr und Emscher im 20. Jahrhundert”, sondern setzt diese auch in Verbindung mit der „Jetztzeit”.

Diese Tagung nimmt sich zudem eines Themas an, das zeigt, dass sich Geschichte meist nicht zum Besseren verändert: Während die Antike keinen Unterscheid zwischen hetero- und homosexueller Veranlagung kannte, ist bereits im Alten Testament nachzulesen: „Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau, es ist ein Gräuel.” (3. Buch Mose) Im Spätmittelalter wurde gleichgeschlechtlicher Liebe auf dem Scheiterhaufen ein Ende gesetzt – und selbst im 19. und 20. Jahrhundert wurde eine homosexuelle Liaison noch mit Gefängnis bestraft. Nachdem das Reichsstrafgesetzbuch 1871 den sexuellen Akt zwischen Männern als „widernatürliche Unzucht” definierte und einflussreiche Psychiater Homosexuellen eine angeblich erbliche neuropsychologische Störung attestierten, war der Boden für eine erneute Radikalisierung strafrechtlicher Verfolgung bereitet. Heute sind wir in einer Gedenkstätte versammelt, die als eine der ersten in Deutschland die Verfolgung homosexueller Männer und Frauen zum Thema gemacht hat. Heute wissen wir, dass während der NS-Zeit an diesem Ort 650 homosexuelle Männer inhaftiert waren – weit mehr als bisher bekannt.

Hinter diesen erschreckenden Zahlen stehen die persönlichen Schicksale einer Häftlingsgruppe, die in der Wahrnehmung der Nationalsozialisten am unteren Ende der Hierarchie aller Inhaftierten rangierten. Es sind Geschichten wie die von Louis Schild, die uns nahegehen – einer von mehreren hundert Männern aus dem Ruhrgebiet, die das nationalsozialistische Terrorregime aufgrund ihrer Homosexualität ermordete. Am 18. November 2015 jährt sich zum 80. Mal der Todestag dieses Dortmunder Bürgers, der am Dortmunder Westenhellweg in eine deutsch-jüdische Kaufmannsfamilie hineingeboren wurde. Wir erinnern uns heute an Schicksale wie das von Otto Meinecke, der in Dortmund als Feilenfabrikant arbeitete, und der Ende der 1930er Jahre von der Kriminalpolizei in das Polizeigefängnis Steinwache eingeliefert wurde. Er wurde 1942 in das KZ Sachsenhausen verschleppt und bei einem angeblichen Fluchtversuch getötet. Tatsächlich war sein Tod Teil einer groß angelegten Mordaktion an homosexuellen Männern.

Als Erinnerung und Mahnung zugleich liegen für Louis Schild in Essen und für Otto Meinecke in Dortmund sogenannte Stolpersteine. In wenigen Monaten wird bei uns in Dortmund eine Straße zwischen den neuen Berufsschulen am U und dem Bahndamm den Namen von Otto Meinecke tragen: Dann wird zum ersten Mal in Deutschland ein Straßenname an einen wegen seiner Homosexualität ermordeten Mann erinnern.2 Das ist nur ein kleines Zeichen der Stadt für großes Unrecht – aber es ist ein Zeichen.

„Ohne Erinnerung gibt es weder Überwindung des Bösen noch Lehren für die Zukunft”, hat unser ehemaliger Bundespräsident Roman Herzog einmal gesagt. Daher ist es ausdrücklich zu loben, dass diese Tagung daran erinnert, was am Anfang der Verfolgung von homosexuellen Menschen in der NS-Zeit stand: Hass, Verachtung und die Ignoranz vieler Bürger, die einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollten, was mit gleichgeschlechtlich orientierten Menschen in ihrer Nachbarschaft geschah. Hass, Verachtung, Ignoranz, aber auch Angst waren der Boden, auf dem der Nationalsozialismus gedeihen konnte. Und leider kommt auch heute diese „unheilvolle Allianz” wieder gegenüber allem „Fremden” auf, die es zu überwinden gilt – auch, um den Auftrag zu erfüllen, der sich aus dem Erinnern ergibt: dem Schutz und der Bewahrung der Mitmenschlichkeit. Die Gemeinschaft, in der wir alle leben wollen, wird nur dort gedeihen, wo die Würde des Einzelnen geachtet und Solidarität gelebt wird.

Die heutige Veranstaltung ist ein guter und wichtiger Schritt, diesen Weg zu gehen, und ich hoffe, dass das Zeichen, das heute von der Steinwache ausgeht, in Dortmund – aber auch über unsere Stadtgrenzen hinaus – gehört wird.

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Markus Günnewig

Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung

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