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IN GEDANKEN AN MICHAEL RUDOLF – REMINISZENZEN AUS GREIZ

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Gotthard Brandler

Als die Nachricht von Michaels spurlosem Verschwinden durch die Presse ging und schließlich Gewißheit über seinen selbstgewählten Abschied aus dem Leben bestand, waren die letzten Wochen meiner Tätigkeit im Museum Sommerpalais Greiz angebrochen, und viele zu regelnde Angelegenheiten hatten mich gefangengenommen. Lange Zeit wollte ich auch nicht an sein tragisches Ende glauben. Erst später, zur Ruhe gekommen, ist mir die volle Tragweite des Schicksals von Michael bewußt geworden.

Wie hatten wir uns kennengelernt? Zeitpunkt und Anlaß kann ich nicht mehr nennen. Im Oktober 1990 war ich nach Greiz gekommen, und in der kleinen Stadt mußte man auch irgendwann mit Michael zusammentreffen, war und bleibt er doch hierorts eine Ausnahmeerscheinung. Er begegnete mir damals als ein agiler, geistig aufgeschlossener und kluger junger Mann von dreißig Jahren, ehrlich im Charakter und in seinem äußeren Wesen eher zurückhaltend, aber streitbar in der ständigen Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Vorgefundene Engstirnigkeit und Kompromißlertum waren nicht seine Sache, sondern boten ihm vielfach Anlaß zu deftigen Pamphleten, die mit den damals oft genug an Schilda und Krähwinkel gemahnenden Gepflogenheiten hart ins Gericht gingen. Das Wort vom »Nestbeschmutzer« war dann in der öffentlichen Meinung schnell bei der Hand. So war es auch nach seinem im Satiremagazin Titanic abgedruckten Bericht »Aus den Kolonien«, wobei es besonders um Greiz und die Greizer ging. Auch konnte man sich nur wundern, daß die eifrigen Leser des früheren Bezirksorgans Volkswacht auf recht seltsame Weise nun anscheinend zu ebenso eifrigen Titanic-Lesern geworden waren. Die Empörung schlug höchste Wellen, wobei sich die allgemeine Entrüstung sogar zu der ernsthaft vorgetragenen Aufforderung steigerte, seine Publikationen sofort aus den Buchhandlungen zu entfernen. Michael mußte zu dieser Zeit in Greiz geradezu Spießruten laufen.

Als ich die Greizer Bücher- und Kupferstichsammlung mit ihrer Karikaturenabteilung Satiricum übernahm, war hier gerade die VI. und letzte Karikaturenbiennale der DDR zu Ende gegangen, um anschließend in mehreren, nunmehr altbundesdeutschen Städten gezeigt zu werden. Noch zu Zeiten des realen Sozialismus langfristig geplant und schon recht aufmüpfig in den Karikaturen, wurde diese Schau durch die sich überstürzenden politischen Veränderungen kalt getroffen und bedurfte nun auf Reisen einer ständigen Aktualisierung. Gerade in Sachen der Karikatur doch ein einmaliges und denkwürdiges Ereignis! Und nicht wenige der Karikaturisten hieben nun um so kräftiger auf das ein, dem sie noch unlängst ein Gran Komik abzugewinnen versuchten.

Im Greizer Heimatboten erschien damals ein gehöriger Verriß dieser Ausstellung, und ich kann mich noch an die Formulierung »verschnarchte DDR-Karikatur« erinnern. Dies war wohl meine erste Bekanntschaft, zumindest auf dem Papier, mit dem jungen Greizer Autor namens Michael Rudolf.

Unsere sich über die Jahre entwickelnde Freundschaft hatte nichts Kumpelhaftes an sich, und wir saßen auch nicht ständig zusammen. Aber man begegnete sich öfters aus verschiedenen Anlässen, und jeder war mit der Arbeit und mit den Problemen des anderen vertraut. Engere Beziehungen ergaben sich dann insbesondere auf beruflicher Ebene, seien es Fragen zur Regionalgeschichte, zur Karikatur und Satire oder auch nur zur Bildbeschaffung – Fragen, die mit der Arbeit seines, in Partnerschaft mit Gerd Elmar König so hoffnungsvoll begonnenen kleinen Verlages Weisser Stein in Zusammenhang standen. Und unsere gemeinsame Liebe zum gutgemachten Buch ließ bald eine geistig-praktische Verwandtschaft entstehen.

Angefangen hatte Michael in seinem Verlag mit Veröffentlichungen zur Regionalgeschichte, die Ausdruck seiner vielfältigen historischen Interessen und Kenntnisse waren. Voran ging 1991 sein eigenes Buch über Burgen, Schlösser und Herrensitze im Vogtland, penibel recherchiert und bis heute ein unübertroffenes Glanzstück unter dem verbreiteten Wust der Heimat- und Tourismusliteratur. Dazu gesellte sich die verdienstvolle Neuveröffentlichung eines wissenschaftlichen Standardwerks zur Geschichte der Stadt Greiz von Alfred Thoss aus dem Jahr 1933.

Dann erschienen kontinuierlich die schlichten, aber schön aufgemachten und fein gedruckten Ta-schenbücher. Historische Interessen standen auch hier mit dem Büchlein Schloß Liebau und seine Besitzer am Anfang. Dabei handelt es sich um ein im Kreis Plauen gelegenes und heute nur noch als romantische Ruine vorhandenes Schloß. Akribisch und mit rühmlichem Fleiß hatte Michael in Archiven und Kirchenbüchern die wechselhafte Geschichte dieser Anlage und ihrer Besitzer zutage gebracht.

Auch diese Veröffentlichung war Ausdruck seiner schon in Kindheitstagen angelegten und tief verwurzelten heimatlichen Verbundenheit. Stets als passionierter Wanderer und Radfahrer unterwegs, war er mit den historischen Zeugnissen, den Wegen, Bergen und Wäldern seiner Region aufs engste vertraut. Ja, Michael hätte das Zeug und den Fleiß dazu gehabt, so etwas wie die »Wanderungen durch das Vogtland«, gewissermaßen einen »modernen Fontane« für seine Heimat zu schreiben. Erholung und seelischen Ausgleich fand Michael immer wieder auf seinen Fahrradtouren und Wanderungen in den nahegelegenen Wäldern. Und auf eine früher einmal an ihn gestellte Frage, wie er denn mit der provinziellen Enge des Städtchens zurechtkäme, antwortete er, daß man sich um den Ort und seine Bewohner nicht zu kümmern brauche, solange man die Möglichkeit habe, in die Natur zu entfliehen.


»Greizer Heimatbote« 10/1990.


Zeichnung: F. W. Bernstein.

Unter den folgenden Taschenbüchern befand sich auch eine echte, regionale Trouvaille: Der Reußische Robinson, 1781 in Greiz gedruckt. Neben wenigen anderen Werken ragt dieses Buch aus der im 18. Jahrhundert entstandenen Flut der »Robinsonaden«, angeregt durch Defoes Robinson Crusoe, hervor. Zumal es sich hier um die Schilderung tatsächlicher Erlebnisse des Autors Johann Christian Schmidt handelt.

Eine wahre Odyssee führte den aus Gera gebürtigen Verfasser nach 1700 im Nordischen Krieg zwischen Rußland und Schweden bis nach Sibirien, wo er zehn Jahre verbringt und an der ersten Sibirienexpedition des deutschen Forschers Messerschmidt teilnimmt. 1722 in die Heimat zurückgekehrt, tritt er in die Dienste des Grafen Heinrich VI. am reußischen Musenhof zu Köstritz und bringt dort seine Erlebnisse zu Papier. In der Neuausgabe des Verlages Weisser Stein werden Schmidts Sittenschilderungen von zeitgenössischen Radierungen des französischen Künstlers Le Prince zum russischen Volksleben begleitet, deren Originalvorlagen sich in den Sammlungen des Sommerpalais befinden.

In einem weiteren regionalen Zusammenhang ist hier auch auf den einst im thüringischen Sondershausen beheimateten Dichter Johann Karl Wezel zu verweisen, einen Satiriker von hohen Graden, von dem zwei 1777/1778 veröffentlichte Erzählungen in der Taschenbuchreihe erschienen. Wezel muß so recht nach Michaels Geschmack gewesen sein und erhält auch in dem später bei Fischer verlegten Taschenbuch Die Thüringer pauschal seinen verdienten Platz als »illusionsloser Optimist, mitunter boshafter Feuerkopf, für die damaligen Verhältnisse ein Starsatiriker«.

Auf Wezel hatte schon Arno Schmidt frühzeitig und eindringlich hingewiesen. Für ihn zählte Wezels Roman Belphegor neben Swifts Gulliver und Voltaires Candide zu den drei Büchern »des ehrwürdigsten Gott-, Welt- und Menschenhasses«. Und als Schmidt-Verehrer wußte Michael darüber auch schon in tiefster DDR-Vergangenheit Bescheid. Dies war auch später keinesfalls selbstverständlich. Denn als ich einmal davon sprach, im Sommerpalais eine Ausstellung zu Arno Schmidt zu veranstalten, fragte mich eine in höherer Institution tätige und promovierte Literaturwissenschaftlerin: »Wer ist Arno Schmidt?« Ja, es gab schon einige Defizite, denen man zu Leibe rücken konnte. Achtunggebietend war für mich auch die Mitteilung meines Freundes Dieter Steinmann aus Pirmasens, daß er Michael schon kurz nach der Wende kennengelernt hatte, und zwar in Schmidts Bargfelder Domizil.

Natürlich wäre weiterhin über Michaels umfangreiches Buchprogramm mit namhaften Autoren, Illustratoren und Zeichnern auf dem Gebiet der Satire zu berichten. Gerade Zeichner wie F. W. Bernstein, Eugen Egner, Achim Greser & Heribert Lenz, Kriki, Nel, Yvonne Kuschel oder Nerling sollten ja bald auch für die Greizer Karikaturensammlung Satiricum von großem Interesse werden.

Dankbar bin ich Michael, daß er von Anfang an tatkräftig mit dabei war, dem Satiricum neue Wege zu ebnen und vielfältige Kontakte herzustellen. So auch im Spätherbst 1992 auf einer Tagung im Sommerpalais mit Karikaturisten, Ausstellungsmachern und Galeristen aus der gesamten Bundesrepublik. Bei dieser »Ideenkonferenz« ging es darum, die Möglichkeiten zu erörtern, unter den gewandelten gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen in Greiz wieder zentrale Karikaturenausstellungen zu veranstalten.

Von den Teilnehmern wurde damals empfohlen, die Arbeit auf dem Gebiet der Karikatur neu aufzunehmen und für 1994 eine erste gesamtdeutsche Karikaturen-Triennale zu planen. Zuvor sollte jedoch erst einmal die Greizer Karikaturensammlung mit ihren historischen Schätzen möglichst bundesweit bekanntgemacht werden. Dieser Empfehlung folgend, wurde eine Ausstellung erarbeitet, die in zahlreichen Orten der alten Bundesländer gezeigt werden konnte. In enger Kooperation mit dem Verlag Weisser Stein erschien dann im Juni 1994 der repräsentative Ausstellungskatalog Drei Jahrhunderte Satire aus dem Sommerpalais Greiz.

Ende August 1994 konnte schließlich die erste Triennale Greiz eröffnet werden, die einen aktuellen Überblick über die Tendenzen und Entwicklungen auf dem Gebiet von Karikatur, Cartoon und Komischer Zeichenkunst vermittelte. Der großformatige und anspruchsvoll angelegte Ausstellungskatalog mit eigens angefertigten Einbandzeichnungen von F. W. Bernstein und einem Frontispiz von Eugen Egner erschien wiederum, von Michael engagiert betreut, im Verlag Weisser Stein.

Wie schon beim Katalog Drei Jahrhunderte Satire lagen die mustergültige Gestaltung und die Typographie in den bewährten Händen von Friedrich Forssman. Diese Publikation sollte der bisher schönste Triennale-Katalog bleiben. In den späteren Jahren war eine solche Zusammenarbeit aus vielerlei Gründen nicht mehr möglich. Insbesondere hatten Verlag und Museum sich mit einem stetig enger gesetzten finanziellen Rahmen auseinanderzusetzen.


Zeichnung: Steffen Haas/Gunter Hansen.

In der Folgezeit wurden unsere Begegnungen sporadischer, und Michael widmete sich zurückgezogen fast ganz seiner eigenen umfangreichen und anspruchsvollen Publikationstätigkeit. Dabei wußte ich aber von seiner zunehmenden psychischen Belastung, die ihn schließlich auch von Ausstellungseröffnungen fernhielt. Zuletzt trafen wir uns anläßlich der Gedenkausstellung für Manfred Bofinger am 14. Oktober 2006. Nach der Vernissage gab es abends noch ein geselliges Beisammensein, und Michael war später dazugekommen. Er wirkte gelöst und entspannt und sprach angeregt davon, nun im Keller seines Hauses mit dem Brauen eines eigenen Bieres zu beginnen. Der damals gewonnene Eindruck sollte sich jedoch als trügerisch erweisen. –

Und doch glaubt man zuweilen, daß dies gar nicht wirklich und Michael noch da ist. Vor dem geistigen Auge sieht man ihn immer noch in der Ferne auf seinem Fahrrad ums Häusereck biegen, stets in Eile und auf dem Kopfsteinpflaster kräftig in die Pedale tretend.


Zeichnung: Volker Kriegel.

Der Mann mit den 999 Gesichtern

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