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AUS DEN KOLONIEN (3) – LEBENSLAUF EINES UREINWOHNERS

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Michael Rudolf

Am Anfang steht die Niederkunft meiner Mutter. Da diese von dem krankhaften Wahn besessen ist, Lehrerin werden zu müssen (so was nimmt man schließlich nicht ernst), geht das Erziehungsrecht an den Vater. Der leitet selbiges an seine Eltern weiter, da ein Psychologiestudium in Aussicht ist.

Ich bin viel im Wald. Keine Kinderkrankheiten, dafür 5 x Loch im Kopf und 1 x Krätze über den ganzen Leib. Ich spiele mit Kindern, die Dialekt sprechen.

Aufzucht in streng katholischem Haushalt. Großvater hätte wohl die Zeit gelesen, in Ermangelung dieser eben nur Hans Küng und Fouqué. Großmutter mit Offiziersmentalität, laut, viele Schläge (vor allem ins Gesicht), aber in der Caritas engagiert wie nur was. Ich räche mich bisweilen, indem ich mir vom Munde abgesparte Hostien versteigere oder mich an Meßwein (Insel Samos) berausche.

Schule: marginale Rolle bei meiner Identitätsfindung. Suche zunächst Verbündete. Till Gutmann teilt meine politischen Auffassungen, die sehr stark in Richtung Anarchosyndikalismus tendieren. Nur noch wenige Theophanien. Der Rest der Schülerschaft neidet uns unseren Geist aufgrund früh keimender Dumpfheit. Die angezettelten Kolloquien mit dem Lehrkörper (zu unserem Weltbild) verlaufen unbefriedigend. 2 x Suizid angedroht (mit rostigem Messer). Zwischendurch im Alter von 6–7 Intermezzo bei o. g. Mutter. Das wirft mich in meiner politischen Arbeit enorm zurück. Ergebnis: erneutes Bettnässen, Weinkrämpfe, Phobie gegen Bergarbeiterstädte und deren Bevölkerung.

Es folgen gewalttätige Spiele auf dem Hainberg (Bandenterritorium, dessen Gebiet ständiger Neuverteilung unterliegt). Dazu Schlachten ohne letalen Ausgang. Ich lasse mir jetzt die Haare über die Ohren wachsen, da ich berühmt werden möchte, also das Abitur machen. Grausiges Gymnasium mit größtenteils noch grausigeren Lehrern. Trage dort meine berüchtigte breitmaschige rehbraune Cordhose (bis knapp unter die Knie), ohne Erfolg. Lerne das Bier kennen. Schließe Freundschaft mit Bernd Dittrich, da ich erkenne, daß auch er berühmt werden wird. Mein zu Zwecken der Indianerimitation getragenes fettiges Langhaar reizt Lehrkörper wie Schülerschaft zu unreinen Äußerungen und sogar Drohungen. Eine Schuppenflechte kuriere ich durch triefende Schwefelsalbe. Unsere Combo (voc, git, git, dr) darf nur zweimal proben.

Esse Würste und trinke viel Bier, bin daher kerngesund. Meine Termine mit dem Meinungsforschungsinstitut MfS enden unbefriedigend, schicke sie also fort. Auch die Flucht nach Polen zur Schwarzen Madonna in Czenstochau endet kurz nach dem Durchschwimmen der Neiße. 2 Tage Haft. Und: Beziehungen zu Polen gestört.

Ich gründe mit Gleichgesinnten die Partei der Radikalen Mitte (1977). Bei der Parteiarbeit lerne ich die Frau kennen. Wir leben im Konkubinat.

Dann kommt der Wehrdienst. Wenig schön und noch weniger lehrreich (Sprengstoffausbildung ungenügend). Hauptmann Schoknecht spricht: »Nehmen Sie das Handgranatenwurfkörper in der Hand, was Sie Wurfhand sind!« Meine weiteren Korrespondenzen mit den degenerierten Beutelschneidern, die sich als Offiziere ausgeben, enden zumeist in kleinen Zimmerchen, die ich allein bewohnen darf und deren Gitter das Eindringen von Fremden verhindern sollen, da sie meine Meditationen stören könnten. Nur Thomas Müller verhilft mir zu angemessener Geltung im Anwesen.

Ich beschließe, Jurist zu werden. Zu diesem Zweck Studium in Halle. Die Professoren stört, daß ich alles schon weiß. An den Unterseiten der Bänke befinden sich Minirasenmäher in hoher Zahl mit ohrenbetäubendem Lärm, der mich am Schlaf hindert. Die etwas zu hagere Ines Leuchte (verh. Gräbner) sagt mir ständig falsch vor. Ich boykottiere daraufhin den Studienbetrieb endgültig nach dem zweiten Semester. Die Öffentlichkeit ist darüber noch nicht zu einer einheitlichen Meinung gekommen. Manche meinten, die Straßenbahnen jagten mir Angst ein, und andere machten die Mißgunst der Dozenten gegen mein bahnbrechendes Gedankengebäude (enthalten in meiner ersten und letzten Jahresarbeit im Fach Philosophie) für den Entschluß verantwortlich.

Ich beschließe, Brauereidirektor zu werden. In der Firma probieren wir an einem Faßabfüllautomaten das Abtrennen von Gliedmaßen. Bei mir klappt es (Fingerkuppe rechter Ringfinger). Ich entdecke ein Hinweisschild: Amerika 3 km. Das stellt sich aber als Irrtum heraus. Nicht der einzige in meinem Leben.

Meine Mitgliedschaft in der Partei der Radikalen Mitte ruht. Unsere Wohnung hat jetzt einen Fußboden, an den wir uns schnell gewöhnen. (Es geht also auch mit.) Nebenbei entwerfe ich flammende Reden politischen Inhalts. Thomas M. inzwischen verstorben, Bernd D. berühmt und beim Fernsehen, Till G. irgendwo in der Weltgeschichte. Gebe Politik als Quelle von Ruhm und Reichtum wieder auf. Derweil revoltieren die hiesigen Eingeborenen.

Die Bierfabrik läßt mich nur unter dem Versprechen ziehen, daß ich auch allein reich und berühmt werde. Also gut. Mache wieder neue Bekanntschaften, darunter der Weltgeist, das kollektive Unbewußte und das Maggi-Kochstudio. Dirk Jurkschat wird mir durch sein profundes Verständnis jedweder Untergrundtätigkeit lieb. Daneben erfinde ich die Burgruine Liebau, um über sie ein Buch schreiben zu können (Auflage 1000 Expl.).

Ich beschließe, wieder Hosen zu tragen. Auf einer erholsamen Wanderung durch die Niederungen des Elbsandsteingebirges verschalle ich.

Schade eigentlich.

Titanic 1/1992

Der Mann mit den 999 Gesichtern

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