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Evolutionäre Weisheiten für eine Welt in großer Veränderung
von Duane Elgin
Die Menschheit war im Verlauf ihrer Geschichte stets mit Herausforderungen konfrontiert, aber die aktuelle ist in einer Hinsicht einmalig. Der entscheidende Unterschied zu früheren Krisen ist der: Der Kreis hat sich geschlossen. Keiner von uns kann sich den Folgen der Klimakatastrophe, dem unkontrollierten Wachstum der Erdbevölkerung, der zunehmenden Wasserknappheit oder dem Massenaussterben von Pflanzen- und Tierarten mehr entziehen. Die Menschheit hat eine noch nie da gewesene Systemkrise geschaffen, welche die gesamte menschliche Entwicklung in Gefahr bringt. Wo finden wir die evolutionären Weisheiten, die uns in eine nachhaltige und prosperierende Zukunft führen können? Im Folgenden möchte ich mit Ihnen einige wichtige Erkenntnisse aus den Weisheitstraditionen, den Pionierbereichen der Wissenschaft und den direkten Erfahrungen von Menschen teilen. Dies beinhaltet die Philosophien indigener Weisheitslehrer wie Luther Standing Bear; Orientierungshilfen von so unterschiedlichen spirituellen Lehrern wie Sri Nisargadatta und Meister Eckhart; die wissenschaftliche Untermauerung eines lebendigen Universums; sowie die Erfahrungen von Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, die über Einheit und Verbundenheit sprechen. Gemeinsam bieten sie uns einen Leitfaden an, mit dessen Hilfe wir eine hoffnungsvolle Zukunft imaginieren können.
Indianische Weisheit: Die lebendige Welt
Wie haben unsere Vorfahren das Leben und die Welt wahrgenommen? Hier sind einige Zitate aus verschiedenen indigenen Kulturen, die ein seit Jahrtausenden existierendes feinsinniges und ausgeklügeltes Verständnis von Realität aufzeigen.
Luther Standing Bear, Oglala-Lakota-Sioux-Ältester: »So etwas wie ›Leere‹ kannten wir in unserer Welt nicht, ja, selbst im Himmel gab es keine leeren Stellen. Überall war Leben – sichtbar oder unsichtbar –, und ein jedes Ding weckte unsere große Anteilnahme am Leben. Die Welt war erfüllt von Leben und Weisheit; völlige Einsamkeit gab es für die Lakota nicht.«1
Der Lebensraum des Stammes der Travianer Muwekma Ohlone erstreckte sich von der Bucht von San Francisco bis nach Monterey/Kalifornien: Für die Ohlone war Religion überall präsent – »wie die Luft«. Sie begriffen die Natur als etwas Lebendiges, das vor Energie nur so flirrte. Weil alles von Leben erfüllt war, steckte überall und in allem die Energie des Lebens. Jede Handlung war eine spirituelle Handlung, weil sie einen Eingriff in die energetische Welt bedeutete. Die Ohlone erledigten sämtliche Aufgaben mit einem Gefühl für die sie umgebende Welt des Lebens und der Energie.2
Die Koyukon aus Nord-Zentralalaska: Die Koyukon leben »in einer Welt, die beobachtet, in einem Wald von Augen«. Sie glauben, dass, egal wo wir uns befinden, wir nie wirklich allein sind; denn die Umgebung, wie abgeschieden diese auch sein mag, ist sich unserer Gegenwart bewusst und muss daher mit Respekt behandelt werden.3
Die Kichwa von Sarayaku im Amazonas-Regenwald Ecuadors: Sie sind überzeugt davon, dass »alles im Urwald lebendig ist und eine Seele besitzt«.
Die indianischen Weisheiten auf der ganzen Welt teilen eine gemeinsame Anschauung: die, dass unser Leben innerhalb einer größeren Lebendigkeit existiert. Eine lebendige Präsenz durchzieht die Welt und schließt auf natürliche Weise Bewusstsein ein – ebenjenen »Wald von Augen« der Koyukon –, sie ist sich unserer Gegenwart bewusst, unabhängig davon, wer wir sind oder wo wir uns befinden; eine Lebenskraft bzw. ein »heiliger Wind« bläst durch das Universum und ermöglicht die Fähigkeit zum Bewusstsein und zur Gemeinschaft mit allem Leben.
Geistliche Traditionen: Das sich erneuernde Jetzt
In Einklang mit den Anschauungen indigener Völker teilen viele geistliche Traditionen die Auffassung, dass das Universum in jedem Moment neu erschaffen wird. Ein sich stetig erneuernder Fluss durchdringt alle Vorstellungen von Festigkeit und Beständigkeit und offenbart das Universum als ein unteilbares Ganzes, das ständig in einem unsagbar gewaltigen Prozess von beeindruckender Präzision und Wucht entsteht:
Christentum: »Gott erschafft das gesamte Universum – vollkommen und allumfassend – in ebendiesem Augenblick. Alles, was Gott geschaffen hat …, erschafft er jetzt auf einen Schlag.«
Meister Eckhart, christlicher Mystiker4
Islam: »In jedem Moment – ein Sterben und eine Wiederkehr … Jeden Augenblick wird die Welt neu geschaffen, aber wir, die wir ihre Abfolge von Erscheinungen sehen, sind uns ihrer Neuerschaffung nicht bewusst.«
Rumi, persischer Sufi-Gelehrter und Dichter des 13. Jahrhunderts5
Buddhismus: »Hiermit verkünde ich feierlich, dass in jedem einzelnen Moment ein neues Universum erschaffen wird.«
D. T. Suzuki, japanischer Zen-Gelehrter6
Hinduismus: »Das gesamte Universum trägt unablässig zu deiner Existenz bei. Deswegen ist das gesamte Universum dein Körper.«
Sri Nisargadatta, indischer geistlicher Gelehrter7
Taoismus: »Das Tao ist die alles erhaltende Lebenskraft und die Mutter der zehntausend Dinge; die zehntausend Dinge entstehen und vergehen ohne Unterlass.«
Tao-Te-King 8
Sieht man einmal von den Unterschieden in der Formulierung ab, können wir eine gemeinsame Auffassung erkennen: Das Universum entsteht in jedem Moment ständig als eine neue Kreation. Und wir sind ein untrennbarer Bestandteil dieses Prozesses – paradoxe Geschöpfe, gleichzeitig vollkommen einzigartig und doch vollständig in das sich stetig neu erschaffende Universum eingebunden.
Wissenschaftliche Entdeckungen: Die Welt als Superorganismus
Bis vor Kurzem wäre die Annahme, das Universum könnte ein zusammenhängendes, lebendiges System sein, von der Mainstream-Wissenschaft als Fantasie abgetan worden. Inzwischen haben die Erkenntnisse der Quantenphysik und anderer wissenschaftlicher Fachgebiete zu einer neuerlichen Überprüfung der uralten Intuition vom lebendigen Universum geführt, indem die Wissenschaft den Aberglauben abtrennt und den Kosmos als einen Ort des unerwarteten Staunens, der Tiefe, der Dynamik und der Raffinesse enthüllt. In einer verblüffenden Herausforderung des materialistischen Denkens haben Forscher vor einigen Jahren entdeckt, dass der überwältigende Großteil des Universums unsichtbar und frei von Materie ist! Die Wissenschaftler schätzen, dass wir circa 96 Prozent des bekannten Universums mit unseren Sinnesorganen überhaupt nicht erfassen können.9
Ein neues Bild unseres Universums rückt jetzt in den Fokus: ein lebendiges, kosmisches Hologramm – ein einheitlicher »Super- organismus« –, welcher sich in jedem Moment ständig erneuert und dessen wesentliche Natur Bewusstsein bzw. eine Wissensfähigkeit beinhaltet, die Systeme auf allen Skalen der Existenz dazu befähigt, sich zu zentrieren und ein gewisses Maß an Freiheit zu beanspruchen. Und wir stecken mittendrin in diesem sich erneuernden, holografischen Universum.
Direkte Erfahrung: Die Präsenz der Lebendigkeit spüren
Wie weit verbreitet ist die Erfahrung einer alles durchdringenden Lebendigkeit und tiefen Einheit in unserem Alltag? Wie oft spüren Menschen eine Lebendigkeit, die sie mit der Welt als Ganzem verbindet? Hier die Ergebnisse wissenschaftlicher Umfragen dazu, durchgeführt vom Search Institute bis zum Pew-Forschungszentrum in Washington, die junge wie alte Menschen in aller Welt befragt haben:
Eine weltweite Umfrage aus dem Jahr 2008, die 7000 Jugendliche in 17 Ländern einschloss, ergab, dass 75 Prozent an eine »höhere Macht« glauben. Ein Großteil nahm für sich in Anspruch, eine transzendentale Erfahrung gehabt zu haben, glaubt an ein Leben nach dem Tod und denkt, dass es »wahrscheinlich zutrifft«, dass alle lebenden Dinge miteinander verbunden sind.10
1962 berichteten 22 Prozent der Teilnehmer einer Umfrage unter der erwachsenen Bevölkerung in den USA, dass sie schon einmal eine tiefe Erfahrung der Verbundenheit mit dem Universum gemacht hatten. Im Jahr 2009 war der Prozentsatz der Bevölkerung, der von einer »mystischen Erfahrung« berichtete, mit 49 Prozent auf mehr als das Doppelte angestiegen.11
In einer landesweiten Umfrage in den USA im Jahr 2014 berichteten fast 60 Prozent der Erwachsenen, regelmäßig ein starkes Gefühl »spirituellen Friedens und Wohlbefindens« zu empfinden, und 46 Prozent erklärten, sie erlebten mindestens einmal in der Woche ein heftiges Gefühl »des Staunens über das Universum«.12
Aus diesen Umfragen lässt sich eine bedeutende Schlussfolgerung ziehen: Die menschliche Spezies erwacht – nachweislich und messbar! Über die Hälfte der Menschheit scheint regelmäßige Erfahrungen der Verbundenheit mit der Lebendigkeit des Universums und unseres starken Eingebundenseins in dieses zu haben.
Eine neuerliche Sichtweise des evolutionären Weges
Realistisch gesehen, ist es eher unwahrscheinlich, dass die menschliche Gemeinschaft von ihrem derzeitigen Weg der übermäßigen Verschwendung und ernsthaften Beschädigung unseres Planeten abrückt – es sei denn, wir fühlten uns von einem Weg in die Zukunft eingeladen, der so beeindruckend, transformierend und begrüßenswert ist, dass sein großartiges Versprechen uns alle zusammenführt. Die Kombination aus Erkenntnissen aus direkter menschlicher Erfahrung, den Entdeckungen der Wissenschaft und den gemeinsamen Einsichten weltweiter Weisheitstraditionen zeigen uns den Weg auf. Wir entdecken, dass wir, statt krampfhaft nach Sinn und nach einem Wunder für unser Überleben in einem toten Universum zu suchen, eingeladen sind, für immer in der Tiefenökologie eines lebendigen Universums zu lernen und zu wachsen. Wir sind aufgerufen, die Weisheiten der Vergangenheit zusammenzutragen, um die Wunden der Geschichte zu transzendieren und einen Prozess der Versöhnung und der Heilung zu beginnen – und so die außergewöhnliche Zukunft zu verwirklichen, die wir nur gemeinsam schaffen können.
Indem wir die Einladung annehmen, zu lernen, bewusst in einem lebendigen Universum zu leben, schlagen wir ein neues Kapitel innerhalb der menschlichen Evolution auf.