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8 »Ein guter Mensch …«

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von Constance Buffalo

Es gab eine Zeit, da hatten die Menschen vergessen, wie man sich gegenüber der Erde, ihren Geschöpfen und zueinander liebenswürdig verhält. Der Große Rat in der Geisterwelt hatte schließlich alle seine Hoffnungen in die Menschen fahren lassen. Die Menschheit hatte so viele Geschenke und Chancen erhalten, um ein Teil der Familie des Lebens zu werden, und doch dachten sie weiterhin nur an ihr eigenes Wohlbefinden und missachteten die Welt um sie herum. Sie nahmen sich mehr, als sie brauchten, und verschwendeten keinen Gedanken an die Älteren und Bedürftigen unter ihnen. Sie hatten ihre heilige Verwandtschaft und die wechselseitige Abhängigkeit von der Welt, in der sie lebten, vergessen.

Da beschloss der Rat, dass diese junge Spezies noch am folgenden Tage ausgelöscht werden sollte. Das große Adlerweibchen hörte ihre Worte im Nachtwind. Sie war über die Siedlungen hinweggeflogen und liebte die Verheißungen, die sie in so vielen Herzen erkannte. Ihr war klar, sie musste in das Dämmerlicht zwischen Nacht und Tag hineinfliegen und mit dem Großen Rat Zwiesprache halten.

Sie sagte: »Ich habe die Gebete gehört und in die Herzen jener geschaut, die in Gleichgewicht und Respekt zu leben versuchen. Ich habe den Rauch des brennenden Salbeis gerochen, während sie jeden Tag mit diesen Gebeten in ihren Herzen beginnen. Ich weiß, dass sie Liebe für ihre Welt in sich tragen und dass sie um Gnade und Hilfe bitten, damit ihre Beziehung mit der Schöpfung wachsen kann.«

Und an diesem Tage wurde beschlossen, dass, solange »ein guter Mensch« übrig sei, die Menschheit einen Platz im Kreislauf des Lebens haben sollte.

TRADITIONELLE CHIPPEWA-LEGENDE

Viele Jahre bestand meine berufliche Tätigkeit darin, herauszufinden, auf welche Weise die Erde und deren Bewohner zerstört werden können. Damals war ich Geschäftsführerin eines Unternehmens, das sich auf chemische und biologische Entgiftung spezialisiert hatte. Indem wir die Gefahrenstoffe erforschten, konnten wir die entsprechenden Gegenmittel herstellen. Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, dass ich eine Angehörige des Stammes der Chippewa bin, hat vorstehende Legende eine besondere Bedeutung für mich. Vielleicht ist Ihnen mein Stamm ja auch unter dem Namen Ojibwa bekannt. Ich stamme von einem Chippewa-Stamm der nördlichen Wälder, der am großen Lake Superior, dem Oberen See, im Bundesstaat Wisconsin beheimatet ist. Unser Volk ist das viertgrößte unter den First Nations in den Vereinigten Staaten und das zweitgrößte Kanadas.

Ich überlebte jene Jahre unternehmerischer Spekulation in Sachen Zerstörung der Welt, indem ich zu meinen indianischen Anishinaabe-Lehren und Weisheitstraditionen zurückkehrte, die uns den Wert des Lebens als heiliges Geschenk lehren.

Damals lebte ich in Denver/Colorado. Eines Tages machte ich eine tiefe Erfahrung, die mich 156 Jahre in der Zeit zurückführte.

Ich fuhr durch die Berge Colorados und stoppte in der kleinen Ortschaft Kremmling, um dort zu übernachten. An der Rezeption von Bobs Western Motel überkam mich ein heftiges Gefühl des Unbehagens. Ich erwähnte es gegenüber der Rezeptionistin, und diese vermutete, dass es womöglich von den Tiertrophäen herrühren könnte, die an der Wand des kleinen Büros hingen. Doch meine Gefühle waren wesentlich traurigerer Natur.

Schließlich entdeckte ich an der Wand einen alten indianischen Köcher und einen Bogen. Ein Gefühl des Schmerzes stieg in mir hoch, als die Rezeptionistin auf die Skalpe deutete, die über dem einen Ende des Bogens aufgehängt waren. »Die kommen irgendwo aus der Umgebung von Sand Creek«, erklärte mir die Frau. Ich verließ das Motel, vollkommen überwältigt von den Erinnerungen der Vergangenheit.

Sand Creek war der Name des Ortes, wo sich eines der grauenhaftesten Massaker an Indianern im Westen abgespielt hatte. Während der Stamm von Häuptling Black Kettle darauf wartete, ein neues Vertragspapier zu unterzeichnen, verließen die Männer das Zeltdorf, um nach Nahrung zu jagen, und ließen vor allem Frauen und Kinder zurück im Camp. Sie fühlten sich sicher, denn sie hatten in der Mitte des Camps eine amerikanische Flagge gehisst, und es gab zudem eine weiße Fahne, mit der sie ihre friedlichen Absichten signalisierten. Ohne ihr Wissen umzingelte Oberst John Chivington mit 675 Soldaten das Camp in der Nacht des 28. November 1864, und in den frühen Morgenstunden des darauffolgenden Tages eröffneten sie das Feuer. Sein Befehl lautete: »Tötet und skalpiert alle (Indianer), Erwachsene wie Kinder. Denn aus Nissen werden Läuse!«1

Sie töteten, skalpierten und verstümmelten sie in der Tat. Zwischen 130 und 150 Cheyenne und Arapaho fielen ihnen zum Opfer, ein Drittel davon waren Frauen und Kinder. Die geschändeten Körper wurden nach Denver gebracht, auf der Bühne des Apollo-Theaters aufgehängt und als Ware angeboten – einen Skalp konnte man für ein Paar Stiefel haben.

Diese Barbarei gegen ein friedvolles Indianercamp befeuerte die Vergeltung der Stämme im ganzen Westen und zerstörte die Aussicht auf Frieden und Versöhnung, die viele sich gewünscht hatten. Sowohl Gouverneur Evans, der den Angriff befohlen hatte, als auch Oberst Chivington brachte der Überfall Ruhm und Ehre ein – zumindest für eine gewisse Zeit. Später beschäftigte sich ein Untersuchungsausschuss des Kriegsministeriums und des Kongresses mit der Angelegenheit. Hier ein Auszug aus seinem Bericht:

»Was Oberst Chivington betrifft … Er plante und vollzog absichtlich ein widerliches und heimtückisches Massaker, das selbst für den Schlimmsten unter den Wilden, welche zu Opfern seiner Grausamkeit wurden, eine Schande gewesen wäre. Obwohl er ihre friedlichen Absichten genau kannte und bis zu einem gewissen Grad auch selbst dafür verantwortlich war, dass sie sich in Sicherheit wähnten, nutzte er ihre Sorglosigkeit und wehrlose Situation aus, um die schrecklichsten Neigungen zu befriedigen, die je das Herz eines Menschen zerfressen haben.«2

Oberst Chivingtons Dienstzeit beim Militär endete, bevor man ihn zur Verantwortung ziehen konnte. John Evans verlor seinen Staatsposten als Gouverneur von Colorado.3

Der Verkehr auf dem Highway brachte mich wieder zurück zu dem, was ich im Büroraum der Rezeption gesehen hatte. Weil es die Nacht meiner jedes Jahr stattfindenden »Neuweihe meines Lebens und meines Geistes« war, hatte ich mich ins Auto gesetzt und war nun unterwegs, ich wusste selbst nicht so genau, wohin. Da tauchte neben mir, in eine Decke gehüllt, ein älterer indianischer Mann auf. Er war eine Geisterscheinung, so viel wusste ich – doch der Mann sprach ganz sanft und erklärte mir, wohin ich fahren musste, um zur Zeremonie zu gelangen. Wir fuhren den Berg hinauf, zweigten von der Straße ab, und dann ging es steil hoch ins Dunkel des Waldes. Er wies mich an, wo ich abbiegen musste, denn ich konnte lediglich den schmalen Pfad erkennen, den die Lichter meiner Scheinwerfer aufblitzen ließen. Plötzlich sagte er, ich solle anhalten. Ich fand mich am Rand einer Felszunge wieder, mit Blick über einen ausgedehnten See.

Ich zog meine Pfeife hervor, weil ich beten wollte, doch ich erhielt die Anweisung, sie nicht zu rauchen. Der schwarze See vor mir war spiegelglatt und reflektierte das Licht von Millionen von Sternen. Tatsächlich konnte ich nicht erkennen, wo der See endete und der Himmel begann. Überwältigt von seiner Pracht, hörte ich einmal mehr, wie die Stimme in meinem Geist sagte: »Du und andere, ihr seid noch viel gewaltiger als all die Sterne, die du heute Nacht siehst. Ihr habt es nur vergessen, doch nun ist es an der Zeit, euch wieder daran zu erinnern. Bringe die Skalpe zurück nach Sand Creek und lasse ihnen eine ehrenhafte Bestattung zukommen. Bete für jene, die sie umgebracht haben, genauso wie für die Ermordeten. Wenn du all das erledigt hast, kannst du deine Pfeife rauchen!«

In dieser Nacht saß ich noch lange und blickte in das Sternenfeld vor und über mir und dachte über die Worte nach. Mein Geist-Gefährte war verschwunden, trotzdem fand ich irgendwie meinen Weg zurück hinunter über den Bergpfad.

Am Morgen ging ich in das Motel, an der Empfangstheke stieß ich auf Bob, den Besitzer. Er war ein Hüne im Holzfällerhemd, trug rote Hosenträger, schob eine riesige Wampe vor sich her und hatte ziemlich abgewetzte Jeans. Ich fragte ihn nach den Skalpen, und er erzählte mir, dass sein Urgroßvater in der Schlacht gekämpft hatte.

Mit ruhiger Stimme sagte ich ihm: »Das war keine Schlacht, mein Freund, das war ein Massaker.«

Dann erzählte er mir, dass man ihm für die Skalpe ein Wohnmobil geboten habe, er habe es jedoch ausgeschlagen. Als er am Saum des alten Köchers herumfummelte, sprach er beinahe wie zu sich selbst, dass er ihn irgendwann mal reparieren müsse.

Ich hörte ihm zu, berührte sanft seinen Arm und meinte: »Bob, die Zeit ist jetzt gekommen, dass sie nach Hause zurückkehren!«

Er wandte sich langsam mit tränenfeuchten Augen zu mir um. »Ich habe niemals an dieses Töten geglaubt. Wenn ich noch mal wiederkommen könnte, wäre ich ein Indianer und wild und frei, lange bevor der weiße Mann auf der Bildfläche erschiene.« Er legt die Skalpe in meine Hände und ging weg.

Es waren zwei Stück, jeder ungefähr 30 Zentimeter lang, sie waren mit dünnen rosa Fäden zusammengenäht. Ich stand mit den Skalpen da und fühlte sie mit meiner Seele. Mir strömten die Tränen nur so über die Wangen.

Ich wickelte sie in ein rotes Tuch und verknotete das Bündel mit Schleifen in den Farben der Vier Heiligen Richtungen. Sobald ich nach Denver zurückgekehrt war, rief ich das Oberhaupt meiner Native American Church an, und er seinerseits kontaktierte eine Lakota-Älteste, die mir bei meinem Unterfangen helfen sollte. Wir fragten auch bei Angehörigen vom Stamm der Cheyenne und Arapaho nach, ob sie gerne teilnehmen würden, bekamen aber keine Antwort.

In einer Schwitzhütte hielten wir eine Reinigungszeremonie ab, erwarben die Genehmigung für die Begräbnisfeier in Sand Creek und luden auch Angehörige anderer Stämme ein, uns bei dieser zu begleiten. Die Geschenke (Opfergaben für die Teilnehmer) wurden ausgewählt und Tobacco-Ties – kleine, mit Tabak gefüllte Gebetsbeutelchen – vorbereitet. In jeder Nacht, mit dem heiligen Bündel von Skalpen auf meinem Altar, sang ich für sie meine Lieder. Ich kannte keine Cheyenne- oder Arapaho-Weisen, aber ich sang alle Lieder, die mir in den Kopf kamen, und hoffte, sie würden meine Absichten spüren.

Als wir in Sand Creek unser Camp für die Begräbnisfeier aufschlugen, gingen einige der Männer in der Umgebung spazieren, doch sie waren schnell wieder zurück und erzählten, sie hätten die Geräusche eines Indianercamps vernommen, fast so, als würde das Zeltdorf noch immer existieren. In der Dämmerung, als wir mit der Feier begannen, flogen zwei Vögel über unsere Gruppe hinweg. Zwar drehten sie keine Kreise, aber sie schwebten während der gesamten Zeremonie einfach in der Luft. Als die Lieder zu Ende gesungen, die Gebete gesprochen und die traditionellen Speisen geopfert worden waren, flogen sie davon. Wir hatten alles so gut erledigt, wie wir es eben konnten.

Ich erzähle diese Geschichte, weil wir wieder einmal an einem Punkt angelangt sind, wo so viele die Liebenswürdigkeit, die Würde und den Respekt vergessen haben, die alle unsere Beziehungen verdienen.

Einer der höchsten Werte meines Stammes ist die Tapferkeit, welche man als Integrität im Angesicht des Feindes bezeichnet. Hat sich der Kreis nun wieder geschlossen? Heutzutage kann »ein guter Mensch« sich ganz leicht mit anderen über das Internet und andere Medien verbinden, um Ideen miteinander zu teilen, Veränderungsvorschläge einzubringen, Menschen mit konträren Ansichten zuzuhören und Lösungen zu finden, die so neu sind wie die herausfordernden Situationen, denen wir gegenüberstehen.

Meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass die Geisterwelt und die physische Welt nicht bloß Konzepte sind, sondern Realität. Die Geisterwelt existiert, um uns beizustehen und uns zu helfen, wenn wir mit reinem Herzen unsere Gebete sprechen. Alle Geister – die der Opfer und die der Täter – können sich unserer Gebete bedienen. Gebete machen schlechte Taten nicht ungeschehen; die Täter sind nach wie vor für ihre Taten verantwortlich. Aber wir beten in Liebe und Vertrauen für alle, die in diesem Leben unterwegs sind.

Aus unseren frühesten Lehren wissen wir, dass wir Menschen der vierten Welt angehören. Die erste Welt war die Schöpfung der Elemente (Wind, Wasser, Luft und Feuer) und der Sternennationen. Die zweite Welt umfasste das Land und die Ozeane, die Gebirge, und alles, was die Erde bedeckte. Die dritte Welt brachte alle Tiere hervor – ob sie sich zu Lande, im Wasser oder in der Luft bewegen – sowie alle übermenschlichen Geschöpfe dieser Welt. Und schließlich, in der vierten Welt, kamen die »Neuen« dazu – wir Menschen.

All jene aus den Welten vor uns sind unsere Vorfahren und Familie. Wir sehen einen Baum oder einen Fluss nicht als ein Objekt an, sondern als einen Verwandten. Die Sonne nennen wir Großvater und den Mond Großmutter. Auf diese Weise sind wir nicht getrennt voneinander, sondern gehören zueinander, und in dieser Zusammengehörigkeit lieben und sorgen wir für unsere Familie. Wir versuchen nicht, die Erde zu schützen, als wäre sie etwas von uns Getrenntes, denn wir sind selbst Teil der Erde.

Was Häuptling Seattle (1786–1866) vor über 160 Jahren gesagt hat, trifft auch heute noch zu: »Alle Dinge sind miteinander verbunden. Was die Erde befällt, befällt auch die Söhne der Erde. Dies wissen wir: Die Erde gehört nicht den Menschen, der Mensch gehört zur Erde. Alles ist miteinander verbunden – wie das Blut, das uns alle vereint. Der Mensch knüpft nicht das Gewebe des Lebens. Er ist nur eine Faser darin. Was immer er dem Gewebe antut, das tut er sich selbst an.«4

Diese Verwandtschaftsbeziehung hilft uns, uns daran zu erinnern, dass jedes Lebewesen eine bedeutungsvolle »Faser« im »Gewebe des Lebens« ist – in der sichtbaren wie in der unsichtbaren Welt; und dass wir einer Realität angehören, die wesentlich größer ist als wir selbst. Eine Realität, die uns unsere Visionen schenkt, uns zu unseren Taten inspiriert und die Zeit, so wie wir sie kennen, überdauert.

Vielleicht ist es das, was dazu führte, dass der Große Rat in der Geisterwelt seine Entscheidung revidierte, als das Adlerweibchen ankam, um in unserem Namen um eine zweite Chance zu bitten. Wenn es ein paar »gute Menschen« gibt, kann es auch mehr davon geben. Und aus einigen können viele werden, und die vielen, die Ehrfurcht vor dem Leben haben, können zu einem mächtigen Stamm heranwachsen und – wie Millionen von Sternen, die sich in einem Bergsee spiegeln – Licht in die dunkelste Nacht bringen.

Eines noch: Bob, von Bobs Western Motel, ist, sechs Monate nachdem er die Skalpe der jungen Männer zur Bestattung zurückgegeben hatte, in Frieden von uns gegangen. Wir hoffen, Bob hat seinen Stamm gefunden.

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