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Die „Reichskristallnacht“ im November 1938

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Es war am 8. November 1938, ein Tag, den ich in meinem Leben nie vergessen werde, mein vorletzter Arbeitstag, denn am 11. November sollte ich zum Arbeitsdienst einberufen werden. Schon Tage davor wurden von den nationalsozialistischen Parteiorganen Parolen gegen die Juden herausgegeben, die Schaufenster jüdischer Geschäfte verschmiert und zum Teil jüdische Bürger, die ja den Judenstern tragen mussten, öffentlich beschimpft. Doch was sich an diesem 8. November ereignet hat, das kann man mit Worten fast nicht beschreiben.

Im September hatte ich mir von einem jüdischen Schneider, der mir von meinem Geschäft aus, wo ich als Dekorateur arbeitete, besonders empfohlen wurde, einen Anzug machen lassen. Er war auch sehr preiswert und kostete nur 60 Reichsmark. Ich konnte ihn sogar in drei Monatsraten bezahlen. Darum machte ich mich am 8. November nach Geschäftsschluss auf den Weg zu meinem Schneider, um die letzte Rate zu bezahlen. Er wohnte in einem ausgesprochenen Judenviertel, nicht weit von meinem Geschäft entfernt. Doch in dieser Straße da war die Hölle los, denn so konnte man es nur nennen, was sich dort abspielte. So zogen Männer der SA, der uniformierten und bewaffneten paramilitärischen Sturmabteilung, wie die Kampf-, Schutz- und Propagandatruppe der Nationalsozialisten genannt wurde, Juden aus ihren Häusern, schnitten ihnen die Bärte und zum Teil auch die Haare ab und schlugen sie mit Schlagstöcken.

Ich konnte nur mühsam bis zum Haus meines Schneiders gelangen, und als ich schon im Treppenhaus war und gerade hinaufgehen wollte, kamen mir mehrere SA-Männer entgegen. Höhnisch lachend zerrten sie meinen Schneider die Treppe hinunter, der sich ja nicht wehren konnte, denn er war schon ein etwas gebrechlicher älterer Mann. Sie zerrten ihn an mir vorbei auf die Straße und auch mich brüllten sie an, was ich wohl in diesem Haus wolle. Ich konnte meine Tränen nicht verbergen und ein unsagbarer Hass stieg in mir auf. Ja, ich schämte mich, dass ich einfach nur dastand und zuschaute, ohne helfen zu können. Aber ich wusste, wenn ich auch nur ein einziges Wort gesagt hätte, hätten sie mich auch mitgenommen. So konnte ich nur sprachlos mit ansehen, wie sie meinen Schneider beschimpften, ihm den Bart abschnitten und ihn schlugen.

Dieser Mann, der niemandem etwas Böses getan hatte, schaute mich völlig hilflos an, als wenn er fragen wollte, ob ich ihm denn nicht helfen könnte. Er ließ alles geduldig über sich ergehen, ohne sich auch nur mit einem Wort zu rechtfertigen. Ich konnte diesen Anblick nicht mehr ertragen und lief fort, so schnell ich nur laufen konnte.

In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf, denn ich sah immer nur den Hilfe suchenden Blick meines Schneiders vor mir. Ich kam mir wie ein erbärmlicher Verleugner und Verräter vor und hatte danach nicht einmal mehr den Mut, ihm die restlichen 20 Mark zu bringen, die ich ihm ja noch schuldete. So sehr schämte ich mich, diesem Menschen noch einmal unter die Augen treten zu müssen, obwohl ich ihm so gerne gesagt hätte, wie abscheulich ich dies alles empfunden hatte. Ich zahlte ihm das restliche Geld per Zahlungsüberweisung mit der Post ein. Doch mein Gewissen ließ mich nicht zur Ruhe kommen und ich überlegte ständig, wie ich diesem armen Mann wohl helfen könnte. Aber ich sah einfach keine Möglichkeit und ich dachte eigentlich nie daran, dass ich diesem Mann je noch einmal begegnen würde.

Jener Abend, an dem ich all das Schreckliche miterlebt hatte, war allerdings nur der Anfang der Reichskristallnacht gewesen. In dieser schrecklichen Nacht wurden in Berlin die Synagogen angezündet und in einem großen Teil der jüdischen Geschäfte die Schaufenster eingeschlagen. Auch in meinem Geschäft sah es verheerend und trostlos aus. Wie konnte so etwas geschehen?

Ich musste mich schmerzlich daran erinnern, wie, zwei Tage nachdem mein Vater begraben worden war, am 30. Januar 1933 die Zeit des Nationalsozialismus unter der Führung von Adolf Hitler begonnen hatte. Bis spät in die Nacht hinein hatte es Fackelzüge der SA gegeben, die sich durch alle Straßen von Berlin bewegten. Damals hatte ein ganz neuer Zeitabschnitt gerade hier in Berlin begonnen. Doch die Mieter in unserem Haus und die meisten Bewohner unserer Straße hatten sich mit dieser neuen Regierung und mit Adolf Hitler als Reichskanzler nicht identifizieren können. Der Bezirk Mitte war der Bezirk in Berlin gewesen, wo die Nationalsozialisten am wenigsten Stimmen bekommen hatten. Unser Haus Köpenickerstraße 35 war sogar als die „Rote Burg“ bezeichnet worden. Ja, schon nach wenigen Tagen waren einige unserer Hausbewohner von der SA abgeholt worden und wir hatten sie nie wieder gesehen. Wie wir später erfahren hatten, waren sie in das Konzentrationslager Oranienburg im Norden von Berlin gebracht worden. Im Grunde war ich beinahe froh gewesen, dass mein Vater vorher gestorben war, denn auch er war wohl auf der Liste der SA gestanden, und eine Festnahme und den Abtransport in ein Konzentrationslager hätte meine Mutter damals sicherlich nicht überlebt.

Von da an hatten wir auf der Hut sein müssen, denn überall gab es jetzt Spitzel, die nur darauf warteten, Menschen den Nazis auszuliefern. Das hatte schon in der Schule begonnen, und ganz besonders schlimm war es in den staatlichen Organen sowie bei den Behörden. So sollten nach Möglichkeit die Erwachsenen in die Partei oder in die SA, die Jugendlichen in die Hitlerjugend und die Kinder dem sogenannten Jungvolk beitreten. Mein Bruder und ich hatten uns in der ganzen Zeit, auch in den kommenden Jahren, aus allem raushalten können und wir hatten es immer verstanden, zum Nazisystem Abstand zu halten. Wir hatten aber auch nur Freunde und Bekannte, die so wie wir gesinnt waren, und so ist es uns nicht allzu schwergefallen, unsere bisherige Gesinnung zu bewahren. Wenn wir uns jedes Jahr einmal, am 1. Mai, am Tag der Arbeit, im Lustgarten neben dem Berliner Dom zum Aufmarsch hatten versammeln müssen, so waren wir die Ersten, die unbemerkt wieder verschwunden waren. In den ganzen Jahren bis zum Kriegsausbruch 1939 hatte ich sonst an keiner politischen Veranstaltung teilgenommen und hatte auch den Führer, wie Adolf Hitler genannt wurde, nie in Berlin gesehen. Und jetzt war ich echt froh, Berlin für ein halbes Jahr verlassen und meinen Arbeitsdienst antreten zu können. Doch diese schreckliche Reichskristallnacht würde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen können.

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