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Wie Nebukadnezar zu seiner Flasche kam.
Der altorientalische und biblische Hintergrund übergroßer Wein- und Sektflaschen

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Sebastian Grätz, Doris Prechel

Hinführung

Altorientalische Herrscher spielen in der europäischen Kulturgeschichte gemeinhin keine besondere Rolle – zu fern ist deren Wirken sowohl in geographischer als auch in chronologisch-geschichtlicher Hinsicht. Umso bemerkenswerter ist es, dass einige von ihnen uns als Namenspatrone überdimensionierter Wein(hier v.a. Bordeaux) und Champagnerflaschen begegnen. Diese sind jedoch fast immer Raritäten. So schreibt beispielsweise die Weinjournalistin Valmai Hankel: »One of the highlights of any major wine auction is the sale of the big bottles. (…) They came at the end of the auction, 27 lots ranging in size from double magnums (also known as Jeroboams) to Imperials (also known as Methuselahs), and one giant Balthazar.« (Hankel 2003, S. 64). Es stellt sich für uns als Altorientalistin und als Bibelwissenschaftler nun natürlich die Frage, wie und warum diese längst verschollenen Personen der altorientalischen Geschichte bzw. deren Namen für die großen Flaschen in Gebrauch kamen. Uns hat in besonderer Weise die Figur des Nebukadnezar fasziniert, weil er zum Patron einer sehr großen Flasche mit 15 l Inhalt wurde und weil er als eine der schillernsten Figuren der altorientalischen und der biblischen Tradition gelten kann. Daher sei er im Folgenden anhand der Quellen des Zweistromlandes und den Zeugnissen der Bibel porträtiert. In einem dritten Schritt soll dann vor dem erarbeiteten Hintergrund nach der Herkunft der Namenstradition großer Flaschen gefragt werden.

Nabû-kudurrī-uṣur: Die keilschriftliche Überlieferung

Als Nabû-kudurrī-uṣur II., dessen Name mit »Nabû (der Gott der Schreibkunst und der Weisheit), meinen Sohn beschütze!« zu übersetzen ist, am 7. September 605 v. Chr. in Babylon gekrönt wurde, hatte Babylonien bereits das Erbe des assyrischen Imperiums angetreten.

Obwohl der babylonische Herrscher somit ein Weltreich regierte (Abb. 1), das aus Gründen, die noch aufzuzeigen sind, in die kollektive Erinnerung der abendländischen Kultur Eingang finden sollte, hinterließ er selbst der Nachwelt doch eine erstaunlich geringe Anzahl aussagekräftiger Quellen. Dies liegt zuvorderst daran, dass ein Staatsarchiv, das über Aufstieg und Fall des babylonischen Reiches hätte Auskunft geben können, allem Anschein nach nicht existierte oder bis zum heutigen Tage nicht gefunden wurde. Die während der Regierungszeit des Nabû-kudurrī-uṣur II. verfassten Königsinschriften, Briefe sowie (private) Rechts- und Verwaltungsurkunden, die auf Tontafeln in Keilschrift niedergeschrieben wurden und bei den Ausgrabungen in Babylon zu Tage kamen, spiegeln auf jeden Fall in keiner Weise außenpolitische Erfolge wider. Folgt man den historischen Primärquellen, so erhalten wir stattdessen das Bild von einem überaus frommen Regenten, dem v.a. der Ausbau seiner Metropole am Herzen lag.

Abb. 1: Geographische Ausdehnung des neubabylonischen Reiches.

Die Königsinschriften legen höchst beredtes Zeugnis davon ab. In ihnen wurde wiederkehrend der Auf-, Aus- und Umbau von Tempeltürmen, Tempeln, Palästen und Befestigungsmauern thematisiert, wobei der Verfasser der Inschriften nicht müde war, Angaben über Bau- und Schmuckmaterialien ebenso en detail zu schildern, wie deren exotische Herkunft aus fernen Regionen von Magan am Persischen Golf (wohl heutiges Oman) bis hinauf zum Libanon. Tatsächlich bestätigen die physischen Überreste in Babylon die immensen Anstrengungen, die Nabû-kudurrī-uṣur II. in dieser Hinsicht unternahm. Welch großer Stolz den Regenten erfüllte, mag man seinen Inschriften entnehmen, die ganz in einer Jahrhunderte alten babylonischen Tradition stehen.

»Als der große Herr Marduk mich rechtmäßig berief und mich anwies, das Land recht zu leiten, die Menschen zu hüten, die Kultstätten zu versorgen (und) die Heiligtümer zu erneuern, da war ich meinem Herrn Marduk ehrfürchtig gehorsam. Seine erhabene Kultstätte (und) ruhmreiche Stadt Babylon (und) ihre großen Mauern (mit den Namen) Imgur-Enlil und Nimitti-Enlila vollendete ich. An die Laibungen ihrer Stadttore stellte ich wilde Stiere und furchterregende Drachen. Was kein vormaliger König getan hatte: Mein väterlicher Erzeuger hatte die Stadt mit Mauer und Graben aus Asphalt und Backstein zweifach umgeben. Ich aber baute eine gewaltige Mauer, eine dritte, eine längs der beiden anderen, aus Asphalt und Backstein und ich verband sie mit den Mauern, die mein Vater angelegt hatte. Ihr Fundament gründete ich fest im Untergrund, und ihre Spitze machte ich berggleich hoch. Mit einer Mauer aus Backstein umzog ich gegen Westen die Stadtmauer von Babylon.«

(V R 34 I 12 – 34)

Eine unbeantwortete Frage bleibt indes, wie Nabû-kudurrī-uṣur II. seine fast ins Unermessliche gehenden Bauvorhaben organisatorisch bewältigte und finanzierte. In Anbetracht der spektakulären Anstrengungen, die der Herrscher der Gestaltung Babylons zukommen ließ – er dürfte allein drei Dutzend Millionen Lehmziegel für die Zikkurrat des Marduktempels, den berühmten Turm zu Babel, gebraucht haben –, darf doch nicht in Zweifel gezogen werden, dass es auch weniger friedvolle Unternehmungen gab. Schuf Nabû-kudurrī-uṣur II. als Bauherr quasi ein Zentrum der gesamten damaligen Welt, von dem überreichlich Königsinschriften Zeugnis ablegen, so erfahren wir über militär-politische Maßnahmen zum Erhalt seines Weltreiches nur ganz indirekt durch Chroniken der späteren Geschichtsschreibung. Dass damit auch zusätzlich zu dem vorhandenen Reichtum aus der Binnenwirtschaft eine finanzielle Unterfütterung der Bauprojekte durch Tributleistungen einherging, darf man wohl unterstellen. Der sogenannte Hofkalender, ein sechsseitiges Tonprisma aus Babylon, gibt trotz seines fragmentarischen Zustandes zu erkennen, dass sich u. a. die Könige der Mittelmeeranrainer Tyros, Gaza, Sidon, Arwad und Aschdod unterworfen haben dürften. Über dieses einzige Dokument seiner Art hinaus kann lediglich auf die bereits erwähnten Chroniken verwiesen werden. Neben der lapidaren Erwähnung fast jährlich stattfindender Feldzüge nach Syrien in den ersten sechs Jahren seiner Herrschaft liest sich dort:

»Das siebte Jahr: Im Monat Kislev bot der König von Akkad seine Truppen auf und zog zum Hethiterlande. Die Stadt Juda belagerte er. Am 2. Adar eroberte er die Stadt. Den König nahm er gefangen. Einen König nach seinem Herzen setzte er dort ein. Er nahm den schweren Tribut und brachte ihn nach Babel.«

(ABC 5 Rs. 11 – 13)

In diesen Zeilen findet sich die spärliche Referenz zu der lange vor der Entzifferung der Keilschrift bekannten babylonischen Gefangenschaft. Nabû-kudurrī-uṣur II. hat demnach im Jahre 598 v. Chr. seine Truppen von Babylonien nach Nordsyrien geführt und die Stadt Jerusalem angegriffen. Am 16. März desselben Jahres gelang ihm ihre Eroberung. Der regierende König Jojachin wurde gefangen genommen und an seiner Stelle Zedekia eingesetzt. Für die zweite Eroberung Jerusalems können wir uns schon nicht mehr auf keilschriftliche Quellen berufen, sondern nur auf die biblischen Berichte (siehe unten).

Fassen wir also zusammen: Nur zwölf der insgesamt 42 Jahre Regierungszeit des NabûkudurrI –-uṣur II. sind bisher durch zeitgenössische historische Primärquellen und keilschriftliche chronologische Texte belegt. Dennoch zählt Nabû-kudurrī-uṣur II. ohne Zweifel zu den großen Persönlichkeiten der Weltgeschichte. Die Wiederentdeckung der altorientalischen Kulturen in der ersten Hälfte des 19. Jhs. durch Ausgrabungen im alten Zweistromland und die mit den Inschriftenfunden einsetzende Entzifferung der babylonischen Keilschrift haben indes kaum etwas dazu beitragen können. Das hohe Maß an Erinnerungwürdigkeit ist zum einen vielmehr den (v.a. griechischen) Autoren der klassischen Antike mit ihren ins Fabulöse gehenden Geschichten über die erstaunlichen Bauten in Babylon geschuldet. Allerdings verband man schon recht bald die weltwunderwürdigen architektonischen Leistungen, derer sich der Herrscher in seinen eigenen Inschriften ausgiebig rühmt, mit sagenumwobenen Gestalten, wie etwa Semiramis als Schöpferin der Hängenden Gärten. Zum anderen sollte sich rezeptionsgeschichtlich jedoch die Zerstörung Jerusalems und die damit einhergehende Massendeportation der Einwohner Judas nach Babylonien, über die Nabû-kudurrI– -uṣur II. selbst der Nachwelt nicht ein einziges Wort hinterließ, als wesentlich wirksamer erweisen.


Abb. 2: Rekonstruktionsskizze des Tempelbezirks von Babylon.


Abb. 3: Drache aus glasierten Ziegeln am Ištar-Tor.

Nebukadnezar: Die biblische Darstellung

Die im Deutschen geläufige Aussprache »Nebukadnezar« geht auf den Sprachgebrauch im Alten Testament zurück, wo der Name des Herrschers zumeist Nebukadnaessar geschrieben wird. In den Büchern Jeremia und Ezechiel begegnet dem Leser auch die korrektere Form Nebukadrae‘ssar. Diese Schreibweisen gehen freilich auf die Arbeit der Masoreten zurück, die die Aussprache des ursprünglich ohne Vokalzeichen geschriebenen Textes verbindlich festlegten, so dass die einheitliche Namensform der griechischen Übersetzung Nabuchodonosor wohl die ältere hebräische Aussprache spiegelt. Es ist nicht ganz klar, ob die Festlegung der Aussprache durch die Masoreten einen abwertenden Zweck verfolgt. So ist u. a. erwogen worden, dass die masoretisch-hebräische Aussprache an ein Wortspiel »Nabû beschütze das Maultier« erinnern könne. Doch dies ist alles andere als sicher.

Nebukadnezar ist mit 119 Erwähnungen in der alttestamentlichen Literatur derjenige Fremdherrscher, der mit Abstand am häufigsten erwähnt wird. Der Grund liegt auf der Hand: Er ist dafür verantwortlich, dass dem Reich Juda sein einstweiliges Ende beschieden, dass die Stadt Jerusalem in Trümmer gelegt und dass der Tempel gebrandschatzt wurde. Er ist dafür verantwortlich, dass, sei es durch Flucht oder Deportation, eine namhafte judäische Diaspora nach Ägypten und Babylonien kam. Diese war jedoch literarisch sehr produktiv: Sie zeichnet sich für zahlreiche Schriften des Alten Testaments, die griechische Übersetzung der fünf Bücher Mose und der anderen alttestamentlichen Schriften sowie möglicherweise auch für die Entstehung des jüdischen Synagogengottesdienstes verantwortlich. Weiterhin prägten diese in Babylonien und Ägypten ansässigen Juden in unterschiedlichen Zentren der Gelehrsamkeit die jüdische Theologie und Kultur bis zumindest ins Mittelalter hinein. Die Figur des Nebukadnezar markiert damit einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte Israels: Erst seine Maßnahmen gegen Juda, Jerusalem und den Tempel haben direkt und indirekt Prozesse in Gang gebracht, die für die Entstehung des Judentums entscheidendes Gewicht besitzen. Im Alten Testament selbst wird dies zum Teil bereits so gesehen: Neben Notizen wie 2. Könige 25,8, wo die Zerstörung Jerusalems geschildert wird, liegen aus der früheren Zeit Worte von Propheten vor, die die Ereignisse um den babylonischen Herrscher theologisch reflektieren. So wird Nebukadnezar im Jeremiabuch zwar als Weltherrscher bezeichnet, dem sogar die Tiere dienstbar sind (Jeremia 27,6), doch diese Weltherrschaft verdankte er letztlich Gott, der den König gleichzeitig als seinen »Knecht« bezeichnet (Jeremia 25,9; 27,6). So führt Nebukadnezar nur das aus, was Gott sowieso zu tun im Sinn hatte. Auch der wesentlich später wirkende jüdische Historiker Flavius Josephus sieht Nebukadnezar als tatkräftigen Mann.

Gewissermaßen wird so aus der Not eine Tugend gemacht: Der Religion und Kultur Israels drohte nach der Zerstörung des Tempels der Untergang, und die einzige sinnvolle Strategie zum Überleben war es, Gott als denjenigen zu sehen, der nicht nur das eigene Schicksal, sondern auch das der Fremden und Feinde in den Händen hält. Hier wird der erste Schritt zum biblischen Monotheismus gegangen, der auch die islamische und die christliche Religion und Kultur bis heute prägt.

Diese Sichtweise ist auch im Buch Daniel zu beobachten, auf das nun etwas näher eingegangen werden soll. Das Danielbuch setzt ein mit der Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar und schildert in seinem Fortgang das Geschick des deportierten Judäers Daniel und seiner Freunde am Hof des Großkönigs. Hier entwickelt sich Daniel dank göttlicher Fügungen zum Günstling Nebukadnezars, denn das Wissen des Judäers übersteigt die Weisheit der babylonischen Experten bei weitem. Auf eine ernste Probe wird dieses Wissen in Daniel 2 gestellt. Nebukadnezar hat einen Traum, der ihn beunruhigt, der aber von keinem seiner Experten gedeutet werden kann. Der Clou daran ist, dass er niemandem diesen Traum erzählt. Allein Daniel ist nun im Stande, dem König dessen Traum und seine Deutung mitzuteilen und so eine drohende Todesstrafe sowohl von den babylonischen Experten als auch von sich und seinen judäischen Genossen abzuwenden. Er beschreibt dem König dessen Traum von dem Koloss, der auf tönernen Füßen steht, und liefert gleich die Deutung mit: Die unterschiedlichen Materialien, aus denen der Koloss besteht, bezeichnen eine Folge von Weltreichen, die schließlich von einem göttlichen Reich abgelöst werden. Nebukadnezar erkennt daraufhin, dass diese Deutung göttlichen Ursprungs ist und wirft sich nun selbst vor Daniel nieder. Impliziert ist dabei natürlich, dass dieser Ruhm dem Gott Israels zukommt.

Als wäre die Traumgeschichte nicht erzählt worden, fährt das dritte Kapitel des Buches fort: Nebukadnezar lässt ein großes goldenes Standbild anfertigen, dessen Maße zwar genannt werden, dessen Gestalt aber unklar bleibt. Jeder Bewohner des Reiches muss nun, wie ein Edikt verkündet, dieses Bild anbeten, und es ist von vornherein klar, dass dieser Erlass dem biblischen Bilderverbot zuwiderläuft. Drei Judäer werden nun bezichtigt, die Anbetung des Bildes zu verweigern. Es fällt auf, dass Daniel in diesem Kapitel gar nicht in den Blick genommen wird. Die drei Verweigerer werden in einen angeheizten überdimensionalen Ofen geworfen und überleben dies auf wundersame Weise. Wie in Daniel 2 endet der Vorgang damit, dass sich Nebukadnezar vor dem Gott Israels demütigt und nun sogar bei harter Strafe verbietet, über den Gott der Judäer verächtlich zu sprechen.

Daniel 4, teilweise als Ich-Bericht des Nebukadnezar stilisiert, zeigt Daniel wiederum als den obersten Zeichendeuter des babylonischen Reiches: Nebukadnezar träumt erneut und allein Daniel kann diesen Traum deuten. Hier bezeichnet ein abgeschlagener Baum den König selbst, der für eine Zeitlang dem Wahnsinn verfällt, bis er dann quasi als Konvertit Gott, den Höchsten, lobt. Auch diese Episode hat – außer der Annahme, dass der historische Nebukadnezar Experten zur Traumdeutung beschäftigte – keinen geschichtlichen Anhaltspunkt; eine Periode des Wahnsinns ist aus der Regentschaft Nebukadnezars nicht bekannt. Die griechische Überlieferung der Bibel datiert übrigens den Beginn des Wahnsinns Nebukadnezars in dessen 19. Regierungsjahr, dem Jahr der Zerstörung Jerusalems. In Daniel 4 geht es insgesamt nicht um historische Tatsachen, sondern vielmehr wiederum um das Themenfeld von Hybris, Fall und Läuterung, das so zum festen Bestandteil des durch die Bibel überlieferten Bildes des babylonischen Großkönigs wird.

Die drei skizzierten Kapitel zeichnen ein Bild des arroganten orientalischen Despoten, dessen Ideen und Einfälle jederzeit das Judentum in seiner Identität, ja seinem Fortbestand beschädigen könnten. Es ist längst erkannt worden, dass die Hofgeschichten des Danielbuches nicht in der erzählten Zeit entstanden sind, sondern sehr viel später. Doch Nebukadnezar markiert den Beginn der Diaspora und der Fremdherrschaft, eine Situation, die von den Judäern neue Strategien des religiösen und ethnischen Überlebens erforderte. Insofern kann der babylonische König als Prototyp des hybris-geleiteten Fremdherrschers dienen, an dessen Hof nun einerseits die möglichen Fallen für observante Juden, wie unreine Speisen oder Bilderverehrung, andererseits die Überlegenheit Gottes typisierend aufgearbeitet werden können.

Die vielfache Erwähnung seines Namens und die farbigen Hofgeschichten um seine Person haben dafür gesorgt, dass Nebukadnezar bzw. dessen biblisches Bild ein Fortleben führte, das auf sehr unterschiedliche Weise bis in die Gegenwart reicht.

Nabouchodonosor: Die Moderne

Ikonographisch erscheint Nebukadnezar in der bildenden Kunst, besonders der christlichen Malerei und dem Barock, als vom Wahnsinn geschlagenes Wesen, das verwahrlost, nackt und bärtig auf allen vieren durch die Wüste kriecht. Die bekannteste Ausformung dieses Motivs findet sich in einer Darstellung des 1757 geborenen englischen Poeten und Künstlers William Blake, die den Wahnsinn des Königs, wie er im Buch Daniel beschrieben wird, zeigt (Abb. 4).

Abb. 4: William Blake, Nebuchadnezzar.

Als Vorlage bediente sich Blake wahrscheinlich Albrecht Dürers um 1496 entstandenen Kupferstichs »Die Buße des heiligen Chrysostomos«. Dies ist vom Thema her insofern auch zutreffend, als dass sich der biblische Nebukadnezar nach seinem Wahnsinn, der ihn auch in die Einsiedelei treibt, nun bußfertig und geläutert zeigt.

Eine sicherlich noch populärere Rezeption Nebukadnezars findet sich in Giuseppe Verdis 1842 uraufgeführter Oper Nabucco. Auch hier kommt der König am Ende durch die Barmherzigkeit Gottes wieder zur Vernunft und entlässt die Judäer aus der babylonischen Gefangenschaft. Versucht man etwas über die Hintergründe der Entstehung von Nabucco herauszufinden, so stellt man fest: Giuseppe Verdi schwieg sich nicht nur aus. Wie Klaus Ley es formulierte, könnte es scheinen, der Komponist litt in dieser Hinsicht an kompletter Amnesie. Nur im sog. racconto autobiografico von 1789 nimmt er dazu mit der Attitüde eines Inspirierten Stellung: Sein Genie sei erwacht, so berichtet er, bei der Lektüre des Verses »Va pensiero sull‘ali dorate«, der ihm in Temistocle Soleras Libretto ins Auge gesprungen sei (Klaus Ley, Latentes Agitieren: »Nabucco« 1816 – 1842, Heidelberg 2010, S. 1). Davon ist freilich kein Wort zu glauben. Ebenfalls als ins Mythische ragend ist die Auslegung zu werten, nach der das Werk einer politischen Intention folge. Dieser Interpretation zufolge wurde und wird z. T. noch heute der Gefangenenchor zur Ikone des Risorgimento stilisiert: Die unterdrückten Hebräer stehen für das italienische Volk des 19. Jhs., welches die Einigung seines Reiches anstrebte. Hierbei handelt es sich jedoch nachweislich um eine Überhöhung der Verdi-Biographen, die den damals noch jungen Komponisten visionär die italiensche Einheit beschwören ließen.

Bis in die Mitte des 19. Jhs. hinein konnte sich die frühmoderne Rezeption des babylonischen Herrschers Nebukadnezar nur zeitlich weit entfernter Dokumente ohne Kenntnis von Primärquellen bedienen. Denn bis in diese Zeit hinein war noch nichts über das alte Mesopotamien bekannt. Erst als im Jahre 1848 der Brite Austen Henry Layard die ersten Exponate aus Mesopotamien in das British Museum brachte, bekam man in Europa eine Vorstellung von Assyrien und Babylonien. Von nun an standen nicht allein die legendären Geschichten anderer Kulturen als Material für die Rekonstruktion von Bildern babylonischer Könige zur Verfügung, sondern auch die keilschriftlichen Primärquellen und materiellen Hinterlassenschaften. Die mit diesen sensationellen Entdeckungen einhergehende Orientbegeisterung und -rezeption in Kunst und Literatur wirkte sich allerdings, und das ist erstaunlich genug, in keiner Weise auf die Gestalt Nebukadnezars aus, sodass sich die Referenzen bis heute weiterhin auf die griechischrömischen, jüdischen, christlichen und islamischen Traditionen beschränken.

Die Flasche

Wie eingangs bemerkt, lebt die Figur des Nebukadnezar nun auch in Form einer überdimensionalen Wein- bzw. Champagnerflasche bis in die Gegenwart hinein fort. Es handelt sich hierbei um ein ebenso interessantes wie rätselhaftes Wiedersehen mit dem babylonischen Herrscher.

Es ist in der Branche üblich, Flaschen ab der Größe »Doppelmagnum« mit in der Bibel überlieferten Königen zu benennen (Abb. 5): Jerobeam (3 l.); Rehabeam (4,5 l.); Methusalem (6 l.), Salmanassar (9 l.); Balthasar (12 l.); Nebukadnezar (15 l.).

Abb. 5: Flaschengrößen: eine Auswahl an Weinflaschen von 0,75 bis 15 l. Fassungsvermögen.

Eine sichere Auskunft über den Ursprung dieser Benennungen ist jedoch kaum zu erlangen. So findet man in der französischen Fachliteratur etwa Folgendes: Die Tradition, für übergroße Flaschen biblische Namen zu wählen, sei gegenwärtig nicht erklärbar. Für die Herkunft wird jedoch häufig auf den französischen Dichter Eustache Deschamps hingewiesen, der bereits um 1370 in einer Ballade die Namen Jerobeam, Rehabeam und Balthasar gemeinsam erwähnt. So heißt es über Balthasar:

Roy Balthazar qui fist les grans atrays

D’or et d’argent que sur subgiez pourchace,

Fut prins dedenz en Babiloine, mais

Daire et Cyrus, quant ils prindrent la place,

Destruierent tous.

(Eustache Deschamps, Œuvres complètes de Eustache Deschamps, publiées d’après le manuscrit de la Bibliothèque nationale, vol. 6, hg. v. Q. de Saint Hilaire/​G. Raynaud, Paris

(Firmin-Didot) 1889, 263 f.)

Die Übersetzung lautet etwa: »König Belsazar (Balthasar), der große Mengen an Gold und Silber angehäuft hatte, (die er von seinen Untertanen eingetrieben hatte,) war Herrscher in Babylon; aber Darius und Kyros, als sie die Stadt einnahmen, zerstörten alles« (für die Hilfe bei der Übersetzung bedanken wir uns herzlich beim Herrn Kollegen A. Gipper).

Dieser Verweis auf Eustache Deschamps ist jedoch nur teilweise sinnvoll; denn der entsprechende Zusammenhang, in dem die Könige erwähnt werden, handelt gar nicht vom Wein und dessen Genuss, sondern es liegt eine »Balade morale« vor, in der anhand von Beispielen fehlgeschlagener Regentschaften ein negativer Fürstenspiegel entworfen wird. Die fehlgehenden Könige stehen dabei in keinem Zusammenhang mit Weingenuss, wenngleich das untugendhafte Verhalten wie im Fall des »Balthazar« als Maßlosigkeit beschrieben wird. Insofern ist es dennoch bezeichnend, dass gerade die in der biblisch-christlichen Tradition als maßlos oder untugendhaft geltenden Herrscher wie Jerobeam, Balthasar oder auch Nebukadnezar Paten für die großen Flaschen wurden. Möglicherweise liegt in der Maßlosigkeit auch der entscheidende Vergleichspunkt, was den Verweis auf Eustache Deschamps doch rechtfertigt: Auch hier ist die Verbindung von Macht, Korruption und Niedergang am Beispiel dreier Könige aufgezeigt. Gleichwohl kann eine direkte Entlehnung ausgeschlossen werden. Denn in den Tagen des Eustache Deschamps wurde Wein noch gar nicht in Flaschen gefüllt (erst seit dem späten 16. Jh.), sondern in Schläuchen und Fässern aufbewahrt – von Flaschen mit einem übergroßen Fassungsvermögen ganz zu schweigen.

François Bonal, ein Kenner der Materie, vermutet die Herkunft übergroßer Flaschen im Bordelais:

»Les Bordelais utilisent le vocable jéroboam depuis 1725. Adopté en Champagne, il est probable que la désignation des autres bouteilles y a simplement été faite par analogie avec la première de la série. Jéroboam était le fondateur et premier souverain (…) du royaume d’Israël. Quant à l’explication de l’adoption du mot jéroboam par les Bordelais, peut-être faut-il la chercher dans la Bible, qui précise que Jéroboam était un homme de grand valeur; un jéroboam de Château Latour est incontestablement une bouteille de grand valeur!«. (Bonal, 1984, S. 197).

Für die Benennung der großen Flasche mit »Jerobeam« sei also die Bibel verantwortlich, die diesen ersten König des Reiches Israels als einen Mann von »großer Wertschätzung/​großem Wert«, bezeichne – was ebenso für die Flasche mit ihrem Inhalt gelte. Diese Deutung ist aber nicht unproblematisch, weil unklar bleibt, ob die Übersetzung ins Französische (»grand valeur« – »großer Wert«/​»große Wertschätzung«), zu der es in verschiedenen französischen Bibelausgaben durchaus Alternativen gibt (z. B. »fort et vaillant« – »stark und tapfer«), den damaligen Schöpfern der Bezeichnung »Jerobeam« überhaupt vorlag. Weiterhin ist die eingangs zitierte Valmai Hankel der abweichenden Auffassung, dass die Bezeichnung »Jerobeam« für die Doppelmagnumflasche erst viel später, nämlich im Jahre 1889, nachweisbar sei. Die Benennung wäre damit vor einem ganz anderen historischen Zusammenhang, dem ausgehenden 19. Jh., entstanden.

Frau Hankels Vermutung passt zu dem Eintrag »Jéroboam« im »Trésor de la langue française«, wo sich dieses Datum ebenfalls findet und wo weiterhin auf einen Eintrag im »New English Dictionary« von 1816 verwiesen wird, in dem sich unter dem Stichwort »Jeroboam« auch die Bezeichnung »großer Kelch«. (»large bowl/​goblet«) findet. Insofern wäre die Herkunft der Bezeichnung geographisch nach England zu verorten. Die größeren Flaschen seien dann v.a. erst im 20. Jh. mit dem Fortschritt der Glasherstellung in Mode gekommen. So deutet alles darauf hin, dass wir es mit einer relativ späten Idee zu tun haben, die wohl im England des 19. Jhs. aufkam und dann ein Fortleben entwickelte. Von Bonals oben wiedergegebenen Ausführungen bliebe damit nur noch die nachvollziehbare These bestehen, nach der die größeren Flaschen ihre biblischen Namen in Analogie zu der ersten, mit Jerobeam bezeichneten, erhalten hätten.

So bleibt, vor dem Hintergrund der altorientalischen und biblischen Überlieferung nochmals nach den einzelnen Paten zu fragen und nach dem, was zu ihrer Patenschaft inspiriert haben könnte.

Jerobeam (3 l.): Der keilschriftlich nicht bezeugte König Jerobeam (I.) steht neben seiner oben erwähnten Tüchtigkeit in der Bibel noch mehr für die Sünden, zu denen er Israel verführte: »Er wird Israel preisgeben wegen der Sünden, die Jerobeam begangen und zu denen er Israel verführt hat«. (1 Kön 14,16). So geht Jerobeam I. als derjenige König in die biblische Geschichte ein, der letztlich den späteren Untergang des Königreichs zu verantworten hatte.

Salmanassar (6 l.): Bei den assyrischen Königen mit dem Namen Šulmānu-ašarēd »([Gott] Šulmanu ist der vorderste«) lassen sich fünf unterschiedliche Herrscher anführen. Da, wie hinlänglich gezeigt werden konnte, die biblische Überlieferung der Benennung der übergroßen Flaschen zugrundelag, dürfte der Bezug bei dem letzten Träger des Namens, Salmanassar V., liegen. Denn eben dieser Herrscher bereitete dem (sündigen) Königreich Israel im Jahre 722 v. Chr. sein politisches Ende.

Balthasar (9 l.): Nach den babylonischen Quellen war Bēl-šarra-uṣur (»Herr, beschütze den König!«) nur ein kurzer Auftritt in der altorientalischen Geschichte vergönnt. Als Sohn des reichlich extravaganten Königs Nabû-nā’id (»[Gott] Nabû, der erhaben ist« = Nabonid) vertrat er während des zehnjährigen Aufenthaltes seines Vaters in der Wüste den Thron, allerdings ohne ihn jemals als König zu besteigen. Biblisch ist er als Sohn des Nebukadnezar für sein Gelage mit den heiligen Gefäßen des Tempels berüchtigt (Daniel 5). Die dabei an der Wand erscheinende Menetekel-Inschrift befindet ihn als zu »leicht« für die Ausübung der Herrschaft – was wiederum durchaus zu den historischen Gegebenheiten passt (Abb. 6).

Abb. 6: Rembrandt, Das Gastmahl des Belsazar.

Letztendlich bleiben alle Theorien über die Entstehung der Namenvergabe im Bereich des Spekulativen und es kann lediglich konstatiert werden, dass die Namenspatrone einzig auf die biblische Überlieferung und deren Deutung und nicht etwa die altorientalischen Primärquellen zurückzuführen sind. Es sei denn ob dieser Schleierhaftigkeit der Etikettierungen gestattet, einige hypothetische Überlegungen an den Schluss unseres Beitrages zu stellen.

Die v.a. von französischen Autoren favorisierte Datierung der Flaschengröße »Jerobeam« ins frühe 17. Jh. könnte auf christliche Klöster als Aspiranten für den Brauch der spezifischen Namensgebung hindeuten, gehören Klöster doch in Europa zu den ältesten und bedeutendsten Weinproduzenten. So verdankt ein bekannter Champagner seinen Namen dem Benediktiner Pierre (Dom) Perignon. In diesen Kreisen dürften die biblischen Könige geläufig gewesen sein.

Folgt man indes den Hinweisen auf die ältesten Belege der Lexeme (siehe oben), so dürfte hingegen in wohlhabenden britischen Kreisen des 19. Jhs. der Humor eine Triebfeder für die Verbindung von Wein und Gebinde mit der Bibel gewesen sein. Die Namensgebung wäre dann aus der Perspektive der Konsumenten in gewisser Weise selbstironisch und nicht, wie für den angelsächsischen Raum durchaus anzunehmen, im Sinne einer calvinistischen Frömmigkeit verwerflich.

Dass eine einzelne Sekt- oder Weinkellerei sich aus werbestrategischen Gründen die Herstellung und Benennung übergroßer Flaschen in der ersten Hälfte des 20. Jhs. zu eigen gemacht hat, kann man wohl ob eines definitiv nicht eingeforderten Urheberrechts getrost ausschließen.

Literatur

F. Bonal, Le livre d’or du Champagne, Lausanne 1984.

J.-F. Gauthier, Le vin, idées reçues, Paris 2001.

V. Hankel, From Magnum to Nebuchadnezzar, in: The Australian and New Zealand Wine Industry Journal 18/​5, 2003, S. 64f.

Wo aber der Wein fehlt, stirbt der Reiz des Lebens

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