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Mainzer Republik vor der Mainzer Republik?
ОглавлениеDie bewusst provozierend formulierte Frage sei umgehend beantwortet. Nein, eine Mainzer Republik im Sinne des ausgehenden 18. Jahrhunderts hat es in Mainz zuvor nicht gegeben. In Abwandlung eines Zitates von Franz Dumont (gest. 2012), dem wir ein unverzichtbares Referenzwerk zur Mainzer Republik verdanken, und der im Laufe seines Lebens bei der Beurteilung der damaligen Ereignisse durchaus unterschiedliche Akzente setzte, wurde 2013 in problematischer Zuspitzung formuliert: Man sollte sich bewusstmachen, „dass die Mainzer Jakobiner unserem Grundgesetz viel näherstehen, als alle Kaiser, Kurfürsten, Großherzöge und Generäle, die je über Mainz herrschten.“8 In seiner 2013 posthum erschienenen und von Stefan Dumont und Ferdinand Scherf bearbeiteten Publikation wurde die Mainzer Republik programmatisch als „französischer Revolutionsexport und deutscher Demokratieversuch“ bezeichnet.9
Wurde aber Mainz tatsächlich in den Jahrhunderten vor der Französischen Revolution nur von Kaisern, Kurfürsten, Großherzögen und Generälen beherrscht? Aus einer solchen Perspektive wird die Französische Revolution zum Bruch und zur undurchdringlichen Barriere historischen Geschehens stilisiert. Nicht nur in der Schweiz10 wurden die im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert geführten Demokratiediskurse von französischen, aber auch von nordamerikanischen, englischen, und nicht zuletzt von älteren lokalen und regionalen Traditionen der Freiheit und Partizipation sowie deren Wahrnehmungen und Rezeptionen beeinflusst. Die Akteure der in Bergzabern gegründeten „besondere[n] Republik“ bezeichneten die dort konstituierte Versammlung als „Schweitzerische[n] Landtag.“ Dies dürfte mit Migrationen zwischen der Schweiz und der südlichen Pfalz und mit ihnen in Zusammenhang stehenden Orientierungen an älteren kommunal-bündischen Formen der Selbstverwaltung zu erklären sein.11 Für die Instrumentalisierung von Freiheitskämpfen der lokalen und europäischen Geschichte bietet auch die Mainzer Republik – wie zu zeigen sein wird – aussagekräftige Beispiele. Mit dem Paradigma der Französischen Revolution als eines Bruchs wird bestritten bzw. übersehen, dass die durch die europäische Aufklärung und die Französische Revolution in Gang gesetzten Dynamiken vormoderne Formen überlagerten und transformierten, diese aber im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts weiterhin eine Rolle spielten. Daher erscheint es plausibel, ja gefordert, sowohl von Kontinuitäten als auch Brüchen auszugehen sowie Transformationen zwischen vormodernen und modernen Konzepten, Organisations- und Praxisformen auszuloten.12
Hier sei über die bereits angesprochene attische Polis auf weitere Kapitel der Geschichte von Freiheiten in Europa verwiesen und damit auf Versuche, Gemeinwesen durch Elemente der Wahl und der politischen Partizipation zu gestalten. Auf sie verweist der Begriff des Bürgers. Dieser entspricht dem früher belegten lateinischen civis, dem Einwohner einer civitas (Stadt) und steht im Kontext eines Prozesses, der seit dem 10. und 11. Jahrhundert große Teile des lateinischen Europa erfasste. Starke Impulse erhielt diese kommunale Bewegung aus den mediterranen Landschaften, vor allem aus Italien, jahrhundertelang Vorbild und Impulsgeber für Politik, Wirtschaft und Kultur in den Ländern nördlich von Alpen und Pyrenäen. Dabei kam es zu einer engen Symbiose zwischen jüdisch-christlichen Vorstellungen und Normen brüderlicher Gemeinschaft sowie den sich ausbildenden politischen genossenschaftlichen Strukturen. Vor allem dank königlicher, schließlich auch landesherrlicher Privilegierung von ländlichen und städtischen Siedlungen gelang es tausenden von Menschen, sich aus herrschaftlichen Bindungen zu lösen und persönliche Freiheit und Sicherheit zu erlangen. Im Rahmen des hochmittelalterlichen Urbanisierungsprozesses erhielten sie individuelle und kollektive Freiheitsrechte. Konservative Beobachter, vor allem Kleriker und Theologen, beurteilten diese genossenschaftlich organisierten Akteure mit Abscheu. Aus ihrer Perspektive handelte es sich um Bewegungen, welche die traditionelle hierarchisch-strukturierte und gottgewollte Ordnung revolutionierten. Positiv konnotierte Bewertungs- und Wahrnehmungsmuster begründete im 13. Jahrhundert der einflussreiche Theologe und Philosoph Thomas von Aquin unter Rückgriff auf das Werk des Aristoteles. Die Stadt produziere demnach die zum Leben unverzichtbaren materiellen Güter, und ihr rechtlicher Ordnungsrahmen ermögliche zugleich die Verwirklichung menschlicher Tugenden. Die von Natur aus auf Gemeinschaft bezogenen Bürger könnten durch gemeinschaftlich füreinander einstehendes Handeln zur societas perfecta gelangen, zur vollkommenen Form der Vergesellschaftung von Menschen.13
In der genannten, an Franz Dumont anknüpfenden und zugleich zuspitzenden Formulierung fehlen jene Mainzer, Speyrer und Wormser, Koblenzer und Trierer Stadtbürger, die seit dem hohen Mittelalter wichtige Teile der Geschicke Ihres jeweiligen Gemeinwesens gestalteten, jedenfalls soweit dies angesichts weiterbestehender stadtherrlicher Rechte möglich war. Es handelt sich um im lateinischen Europa weitverbreitete Laboratorien politischer Partizipation. Max Webers Idealtyp von der „okzidentalen Stadt“ verdanken wir die faszinierende, wenngleich nicht unumstrittene These: Wirtschaftlich und kulturell blühende Städte gab es in vielen Ländern und Kulturen. Ein in beachtlichem Maße autonom handelndes Bürgertum ist ein Spezifikum des lateinischen Europas.14 Mit gemeinschaftlich-genossenschaftlichen Organisationsformen, mit Schwureinigungen und Bruderschaften, entstanden jenseits der etablierten Stände von Klerikern, Kriegern und Bauern neue Akteure, die sich Handlungsspielräume und Freiheiten erkämpften und sich diese durch Privilegien sichern ließen.15 Mit der Genese des mittelalterlichen Bürgers wurden wie in der attischen Polis aristokratische Prinzipien einer auf Herkunft und Abstammung basierenden gesellschaftlichen Stellung durchbrochen oder jedenfalls erheblich relativiert. An die Stelle der Herrschaft, die durch von göttlichem Recht legitimierte Personen ausgeübt wurde, trat die Ausübung von Macht auf der Basis des städtischen Rechts. Diese Bindung von Herrschaft an vereinbartes, nicht autokratisch verordnetes Recht ist auch ein unverzichtbares Fundament moderner Demokratien. Dem von Konsens getragenen und den Frieden nach innen und außen zu sichernden städtischen Rechtskreis gehörten – wie in der attischen Polis – freilich nicht alle Stadtbewohner an. Die sich seit dem 11. und 12. Jahrhundert ausbreitenden Formen von Partizipation blieben andererseits keineswegs auf die immer zahlreicher und größer werdenden Städte begrenzt. Auch auf dem Lande bildeten sich in wirtschaftlich und kulturell entwickelten Regionen ländliche Gemeinden, die sich strukturell zwar meist erheblich von den städtischen Kommunen unterschieden, in denen aber auch Formen gemeinschaftlich-genossenschaftlichen Handelns neben herrschaftlichen Organisationsformen seit dem 11. und 12. Jahrhundert an Bedeutung gewannen und in vielfacher Weise miteinander verflochten waren.16 Allerdings beruhten die in ländlichen und städtischen Kontexten in Anspruch genommenen und beschworenen Freiheitsrechte in erster Linie auf Privilegien und Sonderrechten für bestimmte Gruppen. Sie wurden noch nicht im universalistischen Sinne als allen Menschen und jedem Individuum zustehende im Naturrecht gründende Rechte angesehen.
Formen stadtbürgerlicher Partizipation kamen auf, als im lateinischen Westen im Kontext langandauernder Auseinandersetzungen zwischen imperium und sacerdotium, zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt, während des sog. Investiturstreits, die traditionellen Ordnungen destabilisiert und tiefgreifenden Wandlungen unterzogen wurden. Im Verlauf dieser unter dem Schlagwort von der libertas ecclesiae (Freiheit der Kirche) geführten oftmals blutigen Kämpfe wurde die Vorstellung von einer Differenz zwischen geistlicher und weltlicher Macht schärfer herausgebildet. Dabei handelte es sich zwar noch nicht um die Trennung von Kirche und Welt im modernen Sinne; aber es war ein wichtiger Schritt hin zu einer Differenzierung und Trennung zwischen beiden Sphären.17 Diese Separierung wurde dank Reformation, Aufklärung und Französischer Revolution weiterentwickelt, und sie ist für liberale Demokratien westlichen Zuschnittes von fundamentaler Bedeutung, was auch im Vergleich mit orthodoxen, islamischen und asiatischen Kulturen deutlich wird. Es handelt sich um das Ergebnis eines Prozesses von langer Dauer.
In den sich formierenden Städten entstanden seit 1200 mit den Universitäten jene heute in der ganzen Welt verbreiteten Institutionen als eigenständige Gemeinschaften von Lehrenden und Lernenden. In ihnen wurden Wissensbestände nach rationalen Kriterien diskutiert und vermittelt sowie die Ausbildung von für die Gemeinwesen zentralen Berufen (wie die der Mediziner, Juristen und Theologen) professionalisiert. Die Geburt der Universität ist ohne ihre Verankerung in der Kommune nicht vorstellbar. Die in den Hohen Schulen verhandelten und bewahrten Kenntnisse wurden durch die Rezeption antiken Wissens geprägt, gleichfalls ein Vorgang von grundlegender und nachhaltig wirkender Bedeutung, nicht zuletzt mit Blick auf Verfahren und Inhalte politischer Partizipation. Auf der Grundlage von Rezeptionsvorgängen wurden die großen Sammlungen weltlichen und geistlichen Rechts zusammengetragen, bis heute unverzichtbare Grundlagen der europäischen Rechtskultur. In ihnen wurden Prinzipien fixiert, auf deren Beachtung auch moderne Demokratien nicht verzichten können. Innerhalb und außerhalb der Universitäten wuchs zugleich die Bandbreite von auf Wahlen basierenden Rekrutierungs- und Entscheidungsverfahren als Formen des sozialen Handelns im weltlichen und geistlichen Bereich. In geistlichen Institutionen (z. B. bei der Papstwahl), in Kommunen und bei der Königswahl wurden relativ autonome und ergebnisoffene Wahlverfahren (oftmals gekoppelt mit anderen Formen der Rekrutierung) jenseits bzw. anstelle von Ämterzuweisung sowie von Herrschaftsbestellung mittels Erbfolge und Ernennung entwickelt. Sie spielen teilweise bis heute bei der Auswahl von Einzelpersonen oder Personengruppen als beauftragte Entscheidungsträger eine Rolle.18
Mit Blick auf die SchUM-Städte Mainz, Speyer und Worms, jahrhundertelang weit ausstrahlende Zentren aschkenasischer Gelehrsamkeit, sei auf einen spezifischen Aspekt der Geschichte politischer Partizipation verwiesen. Lange Zeit dominierte insbesondere unter israelischen Historikern die Auffassung, die jüdische Gemeinde sei eine uralte, eine gleichsam präexistente Institution, welche schon vor dem Aufkommen des Christentums und der Zerstörung des Tempels in Jerusalem existiert habe. Sie wurde von vielen als Keimzelle des Staates Israel in Anspruch genommen. Allerdings hat die Forschung inzwischen weitgehend Konsens darüber erzielt, dass „die volle autonome lokale Gemeinde mit ihren Institutionen der Selbstverwaltung […] im Großen und Ganzen eine selbstständige Schöpfung des europäischen Mittelalters“ darstellt.19 Christliche und jüdische Gemeindebildung werden als parallele Entwicklungen interpretiert, die interessante, aber erst ansatzweise erkundete Analogien sowie Prozesse wechselseitiger Wahrnehmung und Beeinflussung aufweisen. Die jüdische Gemeindebildung mit Regelungshoheit in vielen inneren Angelegenheiten könnte sich an der Organisation geistlicher Gemeinschaften, allen voran der Domkapitel, orientiert haben und der Genese christlicher Kommunen vorausgegangen sein; noch handelt es sich bei dieser Deutung um eine Arbeitshypothese, die aber gerade mit Blick auf den bis 2020 zu erarbeitenden Weltkulturerbe-Antrag des Landes Rheinland-Pfalz auf ein faszinierendes Forschungsfeld verweist.20
Die im 12. und 13. Jahrhundert auch im heutigen Deutschland entstehenden Stadträte wurden vielerorts, so auch in Mainz, zunächst von einer Oligarchie patrizischer Familien dominiert. Damit fanden sich von der politischen Macht ausgeschlossene Gruppen nicht ab. Seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert wurde in den meisten größeren Kommunen des nordalpinen Reichsgebiets um politische Partizipation gerungen. Dabei spielte die Vorstellung eine zentrale Rolle, dass auch die Mächtigen an das städtische Recht gebunden und dem Gemeinwohl, dem „Gemeinen Nutzen“ verpflichtet seien, Herrschaft nur als konsensuale legitim sei.21 Die nicht selten von Gewalt begleiteten Auseinandersetzungen wurden in der älteren Forschung bisweilen als Zunftrevolutionen bezeichnet; die jüngere Forschung spricht eher von Verfassungs- und Bürgerkämpfen.22 Bestandteile dieser Auseinandersetzungen waren Widerstandsformen symbolischen Handelns wie Glockengeläut, (bewaffneter) Bannerlauf, Rathauserstürmung, Schlüsselübergabe, ferner die Herstellung oppositioneller Öffentlichkeiten, die Etablierung von Gremien und Aushandlungsprozessen über die bestehenden Institutionen hinaus. Vielfach kam es zwischen den sich bekämpfenden Parteiungen zu Kompromissen. Ausgehandelte neue Ratsverfassungen sowie die sie konstituierenden Verfahren wurden in einem den städtischen Frieden sichernden symbolischen Akt in Kraft gesetzt. Am Ende solcher Bürgerkämpfe stand vielerorts, so auch in Mainz, die Beteiligung von Gruppen und Familien an der politischen Macht über das Patriziat hinaus.23 Solche Konflikte waren für städtische Gesellschaften der Vormoderne ebenso konstitutiv wie die oftmals in Ehransprüchen wurzelnde Gewaltbereitschaft. Durch weitgehend wechselseitig akzeptierte ritualisierte, symbolische Formen des Handelns und der Kommunikation gelang es aber immer wieder, erstaunlich stabile Rahmenbedingungen zu schaffen. Prozesse des Aushandelns gelangen in der Regel auch deshalb, weil die Akteure sich auf einen Fundus kommunaler Wertvorstellungen beziehen konnten. Dieser wurde insbesondere an Orten politisch herausgehobener Topografie, wie dem Marktplatz und dem Platz vor dem Rathaus, in regelmäßig durchgeführten Verfahren zur Darstellung gebracht und in performativen Akten sinnlich erfahrbar. Die dabei ausgehandelten Verfassungen waren bisweilen, wie der Straßburger Schwörbrief von 1349 und der Kölner Verbundbrief von 1396 (Abb. 1) – von späteren Modifikationen abgesehen – für Jahrhunderte die Grundlage städtischer Herrschaftsordnungen. Diese erwiesen sich mithin als bemerkenswert stabil und flexibel, und bei ihnen stellte jenseits aller Aushandlungsprozesse und Verfassungsmodifikationen der städtische Rat das Gravitationszentrum dar. Formen gemeindlich-genossenschaftlicher Partizipation waren in vielen Städten des nordalpinen Reichsgebiets so robust und nachhaltig verankert, dass gelegentliche Versuche, diese durch „Stadttyrannen“ auszuhöhlen, durchweg scheiterten.24 Dagegen wurden die kommunalen Strukturen in vielen mittel- und norditalienischen großen Städten ab dem 12. und 13. Jahrhundert über das Amt des Podestà zu Signorien und erblichen Fürstentümern transformiert.25 Freilich entwickelten sich städtische Räte auch nördlich der Alpen seit dem 15. Jahrhundert vielerorts in neuer Qualität zur städtischen Obrigkeit. Nun verschoben sich in Theorie und Praxis tendenziell und langfristig die Gewichte zu obrigkeitlich-staatlichen Konzepten und Praktiken, doch spielten gemeindlich-genossenschaftliche Elemente lange Zeit weiterhin eine bisweilen beachtliche Rolle.26
Abb. 1: Ausschnitt-Köner-Verbundbrief.
Die Ausübung kommunaler Ratsherrschaft basierte auf eigenen städtischen Steuereinnahmen, also auf einem eigenen beanspruchten und realisierten Budgetrecht. Die wichtigsten Steuerformen waren jene, die wir als Vermögens- und Mehrwertsteuer bezeichnen.27 In den damaligen Steuerverfassungen waren noch heute geltende Prinzipien verankert. Trotz der in vielen Städten grundsätzlich geltenden formalen Gleichheit aller Bürger wurden Ungleichheiten akzeptiert: So waren Arme von der Vermögenssteuerzahlung befreit und wurde ein steuerfreies Existenzminimum garantiert.
Während die Ratsmänner der attischen Polis bereits Diäten bezogen und damit auch ärmere Bürger politische Ämter bekleiden konnten, war die Entlohnung der mittelalterlichen Ratsherren allerdings in der Regel gering. Dies hatte zur Folge, dass – auch in Mainz – weitgehend nur wohlhabende und reiche Bürger für die Übernahme dieser Ämter abkömmlich waren.
In Mainz beendete die Eroberung der Stadt durch Truppen Erzbischof Adolfs von Nassau (Abb. 2) im Jahre 1462 die Geschichte kommunaler Partizipation in der Vormoderne. Ihren Anspruch auf die Stadtherrschaft hatten die Mainzer Erzbischöfe und Kurfürsten zuvor nie aufgegeben und im vom städtischen Rat beanspruchten Einflussbereich auch im Vergleich zu anderen Bischofsstädten in beachtlichem Umfang Rechte behaupten können. Diese wurden keineswegs von allen Mainzer Bürgern abgelehnt und bestritten. Von ihnen profitierten immer wieder Einzelpersonen und Gruppen, was ein komplexes, auch mentale Strukturen prägendes, wechselseitiges Verhältnis zwischen bürgerlicher Gemeinde und Stadtherrschaft zur Folge hatte. Dem Typus der „Autonomiestadt“28 entsprachen die Mainzer Verhältnisse insofern nur eingeschränkt.
Trotz dieser Ambivalenzen stellte die Eroberung des Jahres 1462 aber einen tiefen Einschnitt in der städtischen Freiheitsgeschichte dar. Mehrere hundert Mainzer Bürger wurden getötet, andere mussten ihre Stadt verlassen. Mainz verlor die über Jahrhunderte hinweg immer aufs Neue beanspruchten, erkämpften und verteidigten kommunalen Selbstverwaltungsrechte und wurde – nach länger anhaltender Weigerung auch vom Kaiser akzeptiert – zur kurfürstlichen Territorial- und Residenzstadt.29
Abb. 2: Porträt Adolf II. von Nassau (1461–1475).
Die Geschichte von Freiheiten und politischer Partizipation aus der hier angedeuteten epochenübergreifenden und europäischen Perspektive in den Blick zu nehmen, bleibt für die Deutung der Mainzer Republik nicht folgenlos. Der Versuch, einem von den Werten der Französischen Revolution inspirierten neuen Verständnis für die Menschen- und Bürgerrechte unter dem Schutz der französischen Eroberer Raum zu schaffen, ist bis heute mit dem Odium der Gewalt behaftet. Und tatsächlich ist ihre Geschichte vor allem in ihren späteren Phasen auch eine Geschichte der Repression und Einschüchterung. Die abschreckenden Erfahrungen mit der Guillotine, dem Terror und der Vernichtung während der Französischen Revolution prägten in Deutschland in besonderer Weise das kollektive Gedächtnis. Darüber sollte aber nicht in Vergessenheit geraten, dass auch in den Jahrhunderten zuvor Menschen bereit waren, zur Erlangung und Verteidigung von Freiheitsrechten zu den Waffen zu greifen. Die Kämpfe um stadtbürgerliche Emanzipation waren alles andere als gewaltfreie Prozesse. Im Jahre 1160 sahen viele Mainzer ihre errungenen und verbrieften Rechte bedroht; einige ihrer Rädelsführer ermordeten ihren Stadtherrn und Erzbischof Arnold von Selenhofen.30 Das war zwar kein Königsmord wie im revolutionären Frankreich, aber immerhin die Ermordung des Reichserzkanzlers im römisch-deutschen Reich. Dieser nahm für sich in Anspruch, in Mainz den römisch-deutschen König und späteren Kaiser zu küren und verstand sich in der römischen Kirche nördlich der Alpen als der zweite Mann nach dem Papst. Dieser Anspruch wurde auch in der sakralen Architektur der Bischofsstadt zum Ausdruck gebracht.31
Den Mainzer Bürgern gelang es dennoch, den prominenten Kirchenfürsten auf dem Erzbischofsstuhl des Bonifatius Bereiche kommunaler Autonomie abzutrotzen. Auf solche Traditionen stadtbürgerlicher Emanzipation gegenüber bischöflicher Stadtherrschaft verwies explizit Georg Forster, u. a. in seinen „Ansichten vom Niederrhein“ und zugleich auf ein Beispiel aus seiner Zeit. Er beschrieb Ereignisse in Lüttich, wo empörte Bürger das Rathaus gestürmt, einen neuen Magistrat gewählt und den Fürstbischof zur Flucht in die Abtei St. Maximin bei Trier gezwungen hatten. Forster deutete diese in der Tradition der mittelalterlichen bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen stehenden Ereignisse als revolutionäre Vorgänge.32
Aufstände und Revolten waren der vormodernen Gesellschaft mental und strukturell gleichsam eingeschrieben.33 Erinnert sei über innerstädtische Bürgerkämpfe hinaus an die zahlreichen Bauernrevolten der Vormoderne. Noch in der Tradition solcher Aufstände stehen wohl, trotz einiger neuer Akzente, die kurz vor der Ausrufung der Mainzer Republik ausbrechenden gewaltsamen Ausschreitungen zwischen Handwerksgesellen und Studenten, die als „Mainzer Knotenaufstand“ bezeichnet werden. Auch die Besetzung des Rathauses in Bergzabern im Jahre 1789 und die Publikation von Gravamina bewegten sich in der Tradition vormoderner Aufstandsbewegungen.34 Kurzum: der Einsatz von Gewalt im Rahmen von Aufständen und Revolten war auch in jenen Landschaften keine Seltenheit, die später zum modernen Staat der Deutschen zählten.
Im 19. Jahrhundert wurde die Geschichte des mittelalterlichen Bürgertums im Unterschied zur lange Zeit vergessenen Mainzer Republik auf vielfältige Weise instrumentalisiert und idealisiert. Wortführern der Romantik galten die mittelalterlichen Kommunen und ihre Kathedralen als Orte, die im Kontrast zu den expandierenden und von Modernisierungskonflikten geprägten urbanen Zentren und den Turbulenzen revolutionärer Entwicklungen ihrer Gegenwart religiös-politische Stabilität zu verkörpern schienen. Vertreter des sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert neuformierenden Bürgertums meinten, in der urbanen Kultur des Mittelalters ihre Vorgänger und Vorbilder entdecken zu können. Die mittelalterliche Kommune galt gegenüber Adel und Königtum nicht nur als Ort bürgerschaftlicher Partizipation, sondern als eine auf Friedenssicherung zielende dritte Kraft, die dank der ihr eigenen Rationalität, eines spezifischen Wirtschafts- und Arbeitsethos, sowie aufgrund ihres differenzierten Bildungswesens als ein in die Zukunft weisender Kulturfaktor verstanden wurde. Die in der rechtsgeschichtlich ausgerichteten Stadtgeschichtsforschung geprägte Bilderformel „Stadtluft macht frei“ zog eine markante Linie gegenüber Formen von Hörigkeit auf dem Lande.35 Die neuere Forschung hat etliche dieser Interpretationsmuster in Frage gestellt, relativiert und revidiert, etwa mit Blick auf die krassen Unterschiede zwischen Arm und Reich, die bestehenden engen Wechselwirkungen zwschen Stadt und Land, das von konkurrierenden Eliten und Parteiungen dominierte städtische Regiment, sowie die vielfach engen Verschränkungen zwischen kommunalen und stadtherrlichen Kompetenzen.
Allerdings blieben die angedeuteten Prozesse der Rezeption und Wahrnehmung nicht wirkungslos. Geschichtskonstruktionen von den mittelalterlichen Gemeinden und ihren Bürgern wirkten fruchtbar und folgenreich weiter. Für die Städteordnung des Freiherrn von Stein (1808)36 stellten Erfahrungen mit den im Mittelalter entstandenen kommunalen und vor allem mit den (hier nicht näher zu erörternden) ständischen Formen lokaler und regionaler Selbstverwaltung wichtige Orientierungen dar;37 diese waren bis um 1800 vom frühmodernen Territorialstaat vor allem seit dem 17. Jahrhundert weitgehend eingeebnet und domestiziert worden. Trotzdem wirkten ältere Formen der Repräsentation und Partizipation über die Französische Revolution und den Zusammenbruch des napoleonischen Systems hinaus vielerorts weiter und beeinflussten Verfassungsdiskussionen des 19. Jahrhunderts. Ferner wurden trotz erheblicher Widerstände die preußischen Städtereformen im Rückblick zu einer über Preußen hinauswirkenden Erfolgsgeschichte.
Die damals zugestandenen kommunalen Selbstbestimmungsrechte und Selbstverwaltungsaufgaben wurden freilich zugunsten einer kontrollierenden Funktion des Staates eingeschränkt. Ihnen wurde lediglich eine Ergänzungsfunktion obrigkeitsstaatlicher Strukturen zugeschrieben. Privilegiert wurde ferner das in den Städten als Honoratioren agierende Besitzbürgertum; die ländlichen Siedlungen sowie die dort ehemals praktizierten Formen der Partizipation kamen nicht in den Blick. Im Unterschied zu den Mainzer Bürgermeistern der Moderne waren ihre Vorgänger im Mittelalter, als noch nicht anstaltsstaatliche Konzepte und Praktiken dominierten und sich das staatliche Gewaltmonopol noch nicht durchgesetzt hatte, bei der zentralen Aufgabe der Friedenssicherung sowohl für die inneren als auch für die äußeren Angelegenheiten zuständig. Sie schlossen Verträge und führten Kriege. Die Gründung des ersten Rheinischen Städtebundes ist maßgeblich dem Mainzer Bürger Arnold Walpod zu verdanken. Zahlreiche Städte, später auch Adelige und Territorialherren, versuchten als Mitglieder des Bundes die in der „königs- und kaiserlosen“ Zeit des sog. Interregnums gefährdete Ordnung zu stabilisieren, Frieden und Recht wiederherzustellen und zu wahren.38 An diese bis heute beeindruckende Leistung erinnert in Mainz der Name der Walpodenstraße (Abb. 3).
Abb. 3: Straßenschild der Walpodenstraße in Mainz.
Aber nicht nur auf der kommunalen Ebene wirkte die Erinnerung an vormoderne Formen der Partizipation weiter. Hugo Preuß, der im Auftrag von Friedrich Ebert die Weimarer Reichsverfassung entwarf, meinte in der mittelalterlichen Stadt „die Keimzelle des modernen Staates“ entdecken zu können.39 Aus dieser Perspektive wurden dem Schüler Otto von Gierkes vormoderne Formen von Genossenschaft und Selbstverwaltung zu Vorbildern für die Gestaltung moderner Demokratien.
Auch mit Blick auf solche Rezeptionsvorgänge zählt die in Mainz über ein Vierteljahrtausend existierende bürgerliche Kommune des Mittelalters ebenso zu den Mosaiksteinen der Geschichte von Freiheiten, Repräsentation und Partizipation wie die neun Monate bestehende Mainzer Republik. Beide lassen sich als lokale und regionale Ereignisse darstellen, aber nur in ihrer gesamteuropäischen Fundierung verstehen. Mit Blick auf die historischen Dimensionen aktueller Grundsatzfragen spricht vieles dafür, die eingangs genannte Formel zu ergänzen und zu erweitern: Die Mainzer Republik – französischer Revolutionsexport, deutscher Demokratieversuch, Mosaikstein einer europäischen Freiheitsgeschichte und gleichzeitig Zeichen der Ambivalenz der Moderne.