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Erinnerungsorte als Bestandteile politischer Kultur

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Politische Gemeinwesen, auch Demokratien, kommen ohne Orte der Erinnerung als symbolische Kristallisationspunkte gemeinsamer Geschichte nicht aus. Dies gilt auch mit Blick auf die Akteure der Französischen Revolution und für die Mainzer Jakobiner. Bei Erinnerungsorten kann es sich bekanntlich um identitätsstiftende materielle Zeugnisse, geografische Orte und Institutionen, aber auch um Begriffe, Mythen, Kunstwerke und vieles mehr handeln.40 Sie erwachsen freilich nicht von allein aus historischen Ereignissen, sie werden von Menschen geschaffen und gestaltet, unterliegen aber ihrerseits historischem Wandel. In Demokratien werden sie nicht verordnet, sondern sind meist Ergebnisse von Diskussionen und kontroversen Debatten. Die Aneignung historischer Zeugnisse aus der Geschichte der europäischen Freiheiten fällt vielerorts leichter als in Mainz. Der Bürgerstolz von Hanseaten in Hamburg und Lübeck, von Bürgern in Bern, Zürich und Mailand gründet auch auf den weit in die Vergangenheit zurückreichenden Traditionen bürgerlicher Partizipation. Vielfach sind in solchen Städten noch Bauten, insbesondere Rathäuser, als Verkörperung und Kristallisationspunkt einer jahrhundertealten Geschichte von bürgerschaftlicher Gestaltung von Macht erhalten oder in historisierenden Formensprachen im 19. und 20. Jahrhundert neu geschaffen worden.

Ein Rathaus bestand in Mainz im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht mehr.41 Aber selbst die in neue Dimensionen stürmenden Mainzer Jakobiner erinnerten an die untergegangene städtische Freiheit. Am 23. Oktober 1792 schlossen sie sich in der „Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit“ zusammen. Der wie die Mainzer Republik lange Zeit umstrittene Georg Forster, nach dem in Mainz unterdessen u. a. eine Straße und ein Gebäude der Universität benannt wurden, war einer der herausragenden Protagonisten und der damals prominenteste Akteur unter den Jakobinern. In einem Zeitungsartikel vom 24./25. Februar 1793 bezeichnete Forster mit Blick auf den Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent die anstehende Wahl als ein Recht, „das ihren Vorvätern von Despoten entrissen wurde.“42 Einer der bekanntesten Jakobiner, Mitbegründer des Mainzer Jakobinerklubs und der Mainzer Republik, Georg Wedekind, hatte schon am 2. November 1792 dazu aufgerufen, den kurfürstlichen Gerichtsstein beim Gerichtshaus auf dem Erzbischofshof (dem heutigen Höfchen) zu zerstören. Am folgenden Tag zogen die Klubisten in einem Festzug von ihrem Versammlungsraum im kurfürstlichen Schloss zum Höfchen, wo der von Adolf von Nassau gesetzte Stein zerstört und an seine Stelle ein Freiheitsbaum gepflanzt wurde.43 Auf diese Weise wurde in einem symbolischen Akt die Unterwerfung der Stadt unter die erzbischöfliche Herrschaft aufgehoben. Die auf dem Markt sowie am Ort des Gerichtssteins gesetzten Freiheitsbäume zielten aber nicht auf Restauration von Vergangenem, sondern sollten die Entschlossenheit signalisieren, ganz neue Wege zu gehen.


Abb. 4: Das Kloster St. Agnes, ehemals gelegen an der Einmündung der Ludwigstraße in den Schillerplatz, rechts der Osteiner Hof.

Zugleich aber wurde die Erinnerung an den Untergang der Stadtfreiheit im 15. Jahrhundert wachgehalten. Im November 1792 war Johann Friedrich Franz Lehne Mitglied der Mainzer Jakobiner geworden. In einer Rede beschwor er den Zusammenhang von blutigen Kämpfen und Freiheitsstreben und erinnerte – an die Mainzer Bürger gewandt – an die Eroberung ihrer Stadt im Jahre 1462. „Eure Stadt gehörte einst zu den reichsten Städten Deutschlands. – Sagt! was ist sie itzt? – Durch eine schändliche Verräterei eroberte sie der Kurfürst Adolph von Nassau und machte ihrer Freiheit und dem Wohlstand ihrer Bürger ein Ende. Auf dem sogenannten Brande vor dem Kaufhause, dem letzten Denkmal jener blühenden Zeit des ausgebreiteten Handels von Mainz, wurden eure Rechte schimpflich verbrannt. In den Gewölben der Agnesenkirche findet ihr die Gräber von Dreihunderten eurer Väter, welche damal[s] auf der Gaugasse und dem Tiermarkte für ihre und für eure Freiheit kämpften und starben. – Das hat man euch sorgfältig verschwiegen. Man fürchtete, wenn ihr einsehen lerntet, was ihr gewesen, ihr möchtet auch einsehen lernen, wozu ihr herabgewürdigt worden seid.“44 Das heute nicht mehr existierende Kloster St. Agnes (Abb. 4) wurde so von Lehne, dem späteren Konservator der Mainzer Altertümersammlung, zum Gedenk- und Erinnerungsort an die beim Verlust der Stadtfreiheit gefallenen Mainzer Bürger stilisiert. Nicht nur der begeisterte Philhellene Lehne45 spielte mit der symbolischen Zahl von dreihundert getöteten Mainzer Freiheitskämpfern auf die entsprechende Zahl gefallener Spartiaten unter der Führung ihres Königs Leonidas am Engpass der Thermopylen in Mittelgriechenland während des Freiheitskampfes der Griechen gegen die weit überlegenen Truppen der Perser an.46 Seit dem 18. Jahrhundert wuchs unter den kulturellen Eliten Europas generell das Interesse an der griechischen Antike. Als Heldenexempel sowie Orientierungs- und Handlungsmodell für die Opferbereitschaft von Bürgern im Kampf für die Freiheit wurde die Schlacht an den Thermopylen insbesondere während der französischen Revolution zu einem wiederholt beschworenen exemplarischen Bezugspunkt und von der revolutionären sprachlichen und symbolischen Semantik vereinnahmt.47 In Mainz ließ die französische Munizipalverwaltung am 29. Mai 1798 ein „Fest der Dankbarkeit“ ausrichten, bei dem die Befreiung von der (kurfürstlichen) Despotie gefeiert werden sollte. An dem vom Erzbischof Lothar Franz von Schönborn 1726 errichteten Neubrunnen wurde die an die kurfürstliche Epoche erinnernde Symbolik getilgt.48 Eine der neu angebrachten Inschriften erinnerte auf der Ostseite an Arnold Walpod, den „Stifter des rheinischen Handelsbundes, welcher der Lehenherrschaft den ersten Schlag versetzte.“ Eine andere war zusammen mit dargestellten Waffen auf der Westseite den „300 Mainzern“ gewidmet, „welche in Vertheidigung der Freiheit gegen den ersten Usurpator gefallen sind im Jahre 1462.“ Auch hier stehen die 300 gefallenen Mainzer Bürger exemplarisch für jene, die ihr Leben im Kampf für die Freiheit opfern. Auf der mit einer komplexen Symbolik ausgestatteten Vorderseite wurde explizit auf den Verlust der Stadtfreiheit angespielt. Zugleich wurde mit der dort angebrachten Inschrift die Eroberung der Stadt Mainz durch die Truppen der französischen Republik als ein Akt der Befreiung stilisiert und gefeiert.49


Abb. 5: Ansicht von Mainz. Holzschnitt von Franz Behem 1565. Der Pfeil verweist auf das Rathaus.

Die Geschichte von Freiheiten, Formen der Repräsentation und Partizipation beginnt eben nicht erst um 1800, besonders dann, wenn diese auch als Wahrnehmungs- und Rezeptionsgeschichte von politischer Partizipation, Souveränität und zeitlich begrenzter Herrschaft verstanden wird. Vormoderne Formen der Repräsentation gründeten zwar in der Regel noch nicht auf Wahlen gleichberechtigter Bürger; doch waren auch sie von der Überzeugung geprägt, der durch Repräsentanten vermittelte Konsens sei für die Legitimität von Regierungshandeln unverzichtbar. In Mainz sind mit Blick auf entsprechende Erinnerungsorte erhebliche Verluste zu beklagen, zugleich aber immer noch markante Anknüpfungspunkte vorhanden. Zweckentfremdet und schließlich abgebrochen wurde das aus wenigen Bildquellen bekannte prächtige mittelalterliche Rathaus (Abb. 5), Ort politischer Partizipation sowie Ausdruck bürgerlicher Emanzipation und Selbstbehauptung.50 Ein Rathaus wurde in Mainz erst wieder in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts errichtet. Niedergelegt wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch das Mainzer Kaufhaus, eines der größten und bedeutendsten im nordalpinen Reichsgebiet. Es wurde wohl im Zusammenwirken zwischen Kommune und Stadtherrn geschaffen und erinnert somit auch daran, dass diese Akteure sich keineswegs nur als Gegner gegenüberstanden. Auch um an diesen Ort bürgerlichen Wirtschaftens und Handels zu erinnern, wurde das Kaufhaus vom Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz (IGL) und dem Institut für Mediengestaltung an der Hochschule Mainz als digitales Monument wieder ins Bewusstsein gerückt (Abb. 6).51 Das lange Zeit im Stadtarchiv verwahrte Original des Privilegs aus dem Jahre 1244 (Abb. 7), mit dem der damalige Mainzer Erzbischof Siegfried III. der Mainzer Stadtgemeinde Freiheitsrechte beurkundete, darunter insbesondere die Wahl eines städtischen Rates, ist verschollen und wohl verloren und nur noch in Fotografien überliefert. Freiheitsrechte waren schon zuvor von Erzbischof Adalbert I. verliehen worden. Der Text wurde in die berühmte Bronzetür am Marktportal des Domes eingegraben (Abb. 8), ein bemerkenswerter, aber vielen Mainzern eher unbekannter Ort der Erinnerungskultur. Neue Monumente sind entstanden, weitere werden entstehen. Mit der Stele zur Mainzer Republik und der Umbenennung des Platzes vor dem Landtagsgebäude wird seit 2013 auf den „Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent“ von 1793 und die Mainzer Republik verwiesen. Damit wird an eine Versammlung im Gebäude des Landtags von Rheinland-Pfalz erinnert, die Elemente moderner parlamentarischer Demokratien enthielt, diesen aber nicht zugerechnet werden kann.52


Abb. 6: Die 3D-Rekonstruktion des spätmittelalterlichen Mainzer Kaufhauses.


Abb. 7: Die Urkunde Erzbischof Siegfrieds III. für Mainz von 1244.

Erinnerungsorte scheitern freilich dann, wenn sie von keinem ausreichenden Konsens getragen werden. Der von einer großen Mehrheit der Mainzer 2018 abgelehnte, für das Gutenberg-Museum geplante Bibelturm hätte als markantes Zeichen nicht nur auf die folgenreiche Innovation des Buchdrucks verweisen, sondern auch daran erinnern können, dass der Mainzer Johannes Gutenberg die ersten gedruckten Bibeln der Welt schuf, als in der Stadt noch ein Stadtrat und Bürgermeister kommunale Belange gestalteten. Die Bibel ihrerseits hätte als Hinweis auf den verschlungenen, komplexen und lang andauernden Weg verstanden werden können, der von der jüdisch-christlichen Auffassung von der Gleichheit aller Menschen vor Gott bis zur naturrechtlich begründeten Vorstellung von für alle geltenden Freiheits- und Menschenrechten zurückzulegen war.


Abb. 8: Zweiflügeliges Marktportal aus Bronze des Mainzer Doms.

Die Mainzer Republik und ihre Bedeutung für die parlamentarische Demokratie in Deutschland

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