Читать книгу 3. Statistisches Jahrbuch zur gesundheitsfachberuflichen Lage in Deutschland 2021 - Группа авторов - Страница 15
4 Digitale Versorgung: Die Bedeutung der „Sonstigen Leistungserbringer“
ОглавлениеThomas Möller
Referent Politik beim Bundesverband Gesundheits-IT (bvitg)
Im Gesundheitswesen tummelt sich eine Vielzahl von Akteuren, besonders was die Leistungserbringung angeht. In Debatten dominieren meist jedoch nur wenige Player. Das ist mit Blick auf das Ziel einer ganzheitlichen digitalen Gesundheitsversorgung fatal.
So vielfältig das Gesundheitswesen auch ist: in den politischen und gesellschaftlichen Debatten zur Digitalisierung des Gesundheitswesens könnte der Eindruck entstehen, es bestehe nur aus Kliniken, Praxen niedergelassener Ärztinnen und Ärzten, Psychotherapeutinnen und -therapeuten und Apotheken. Andere Einrichtungen und nicht-approbierte Berufsgruppen werden höchstens am Rande berücksichtigt. Eine solch einseitige Denkweise kann der Komplexität unseres Gesundheitssystems nicht gerecht werden.
Dabei spielt das äußerst vielfältige Feld der „Sonstigen Leistungserbringer“ gemäß SGB V (z. B. Heil-und Hilfsmittelerbringer, Hebammen, Pflege, Rettungsdienste, Krankentransportdienste) sowohl in medizinisch-pflegerischer als auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht eine ganz zentrale Rolle. Folglich kann die Digitalisierung der Versorgung nicht ohne diese Berufsgruppen und Akteure gedacht und realisiert werden. Dafür müssen sie aber deutlich mehr Aufmerksamkeit bekommen als bisher: in der öffentlichen Wahrnehmung, der Gesetzgebung aber auch bei der Entwicklung technischer Vorgaben und Lösungen.
Der Weg zur digitalen Versorgung
Übergeordnetes Ziel dieser Bemühungen muss dabei stets die Verbesserung der Versorgungs- und Verwaltungsprozesse sein. Dies kann erreicht werden, indem diese etwa effizienter gestaltet werden, Bürokratie abgebaut oder die Versorgungsqualität sichergestellt oder sogar erhöht wird. Die Frage, wie eine nutzenstiftende Digitalisierung genau aussehen soll, kann aber nicht von einer Institution allein beantwortet werden. Stattdessen müssen alle beteiligten Organisationen und Gruppen gemeinsam nach tragfähigen Lösungen suchen, die den Bedürfnissen von Patientinnen und Patienten bzw. der Kundschaft, Leistungserbringern, Kostenträgern und Software-Herstellern in möglichst großem Maße gerecht werden.
Dass dies nicht immer einfach ist, haben zuletzt die kontroversen Diskussionen um eine Vereinfachung und Vereinheitlichung der Prozesse in der Hilfsmittelversorgung gezeigt. Die beteiligten Akteure vertraten solch gegensätzliche Positionen, dass am Ende erst ein Schiedsspruch zu einer (vorläufigen) Klärung führen konnte. In solchen Gesprächsformaten bleibt die Industrie häufig außen vor – und muss dann im Anschluss mitunter Beschlüsse und Vorgaben umsetzen, die wenig praxistauglich sind und nicht selten an der eigentlichen Versorgungsrealität vorbeigehen. Dabei haben viele Softwarehersteller und -anbieter durchaus Anwendungen im Portfolio, die konkrete Mehrwerte versprechen und sind darüber hinaus bereit, ihre Expertise bei der (Weiter-)Entwicklung sinnvoller Prozesse einzubringen. Voraussetzung dafür ist ein regelmäßiger und lösungsorientierter Austausch zwischen allen Beteiligten.
Um eben diesen mit anzustoßen hat der bvitg im Oktober einen interdisziplinären Workshop zur Digitalisierung der Hilfsmittelversorgung veranstaltet, an dem über 50 Praktikerinnen und Praktiker aus verschiedenen Bereichen teilnahmen: vom IT-Hersteller über Leistungserbringer und Kostenträger bis hin zu Patientenvertreterinnen und -vertretern. Die intensive Debatte zeigte, dass in diesem Bereich noch dringender Gesprächs- und Handlungsbedarf besteht. Ein entscheidender Punkt ist demnach vor allem das Fehlen einer schlüssigen Digitalisierungsstrategie für den Bereich der „Sonstigen Leistungserbringer“ im Allgemeinen und die Hilfsmittelversorgung im Besonderen. Weitere wichtige Themen sind darüber hinaus die Weiterentwicklung und digitale Unterstützung bestehender Prozesse sowie einheitliche Interoperabilitätsvorgaben, um so genannte Insellösungen zu vermeiden, die einer nutzenstiftenden Vernetzung im Wege stehen. Besonders beim Blick auf den letztgenannten Punkt wurde der Bedarf nach Koordinierung sowie einer strategischen Herangehensweise deutlich.
Der Staat als Softwareentwickler
Als maßgeblicher Akteur der Legislative und Exekutive kommt dem Staat in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle zu. Zunehmend versucht er sich jedoch über diese Kernaufgaben hinaus als Software-Anbieter. Ein aus marktwirtschaftlicher Sicht fragwürdiges Vorgehen – schließlich gibt es bereits eine ganze Reihe innovativer Unternehmen am Markt, deren Produkte und Systeme sich schon über viele Jahre in der Praxis bewährt haben.
Nichtsdestotrotz lässt sich seit einiger Zeit eine Übertragung entsprechender Kompetenzen und Zuständigkeiten auf (halb)staatliche Institutionen beobachten. Ein Beispiel ist die gesetzliche Beauftragung der gematik mit der Entwicklung einer sogenannten e-Rezept-App, mit der Versicherte Verschreibungen von Arzneimitteln einlösen können. Wenn dieses Beispiel Schule macht und ähnliches etwa bei der e-Verordnung und weiteren Anwendungsgebieten geschieht, wäre das ein schwerer Schlag für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Die industrielle Gesundheitswirtschaft ist ein bedeutender, über Jahrzehnte gewachsener Zweig der deutschen Volkswirtschaft, der einen nicht unerheblichen Teil zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt und einer Vielzahl von Menschen Arbeit gibt. Die Unternehmen sind bereit und fähig, ihre gewachsene Expertise für eine zielführende und zeitgemäße Weiterentwicklung der Versorgung einzubringen und haben immer wieder gezeigt, dass sie in der Lage sind, innovative und nutzenstiftende Lösungen zu entwickeln.
Die offenbar vorherrschende Auffassung, der Staat bzw. die Selbstverwaltung sei der bessere Softwareentwickler, darf mit Blick auf die bisherigen Erfahrungen bei Spezifikations- und Entwicklungsprozessen mehr als angezweifelt werden. Beispielhaft ist die kürzlich erfolgte Verschiebung des ursprünglich für Oktober 2020 geplanten Inkrafttretens der neuen Heilmittelrichtlinie. Entgegen anderslautender Behauptungen liegt diese nicht in der mangelnden Fähigkeit der IT-Hersteller begründet, fristgerecht die passende Software bereitzustellen, sondern ist Ergebnis einer monatelangen Hängepartie, in deren Verlauf von der zuständigen Körperschaft bis kurz vor Fristablauf keine endgültige und umsetzbare Spezifikation vorgelegt werden konnte. Wenn die Digitalisierung des Gesundheitswesens und insbesondere des von einer enormen Heterogenität an Akteuren und Versorgungskontexten geprägten Bereichs der „Sonstigen Leistungserbringer“ gelingen soll, braucht es dringend einen Paradigmenwechsel. Entscheidend ist die gemeinsame Suche nach tragfähigen Lösungen und ein konstruktiver Dialog auf Augenhöhe, der die Perspektiven aller Betroffenen zusammenführt.