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Letztlich ist doch nur sozial, was ‚Arbeit schafft‘!

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Mit dem bloßen Anspruch müssen deutsche Gewerkschaften sich auch dort nicht begnügen, wo sie über keine wirksamen Ansatzpunkte verfügen. In der deutschen sozialen Marktwirtschaft kennen sie den Staat als Ansprechpartner, der sich der Leiden der Lohnabhängigen auf seine Weise längst umfassend angenommen hat – als die ‚soziale Frage‘, die er stets im Griff haben will. Er hat dem lohnabhängigen Teil seiner Bevölkerung nicht nur die allgemeinen Bürgerrechte spendiert, sondern lauter soziale Extravorkehrungen, die die ‚sozial Schwachen‘ zum Leben unbedingt brauchen. Auf dessen Macht zur Korrektur auch der modernsten prekären Verhältnisse setzt der DGB und erteilt sich den Auftrag, die Inhaber der Staatsmacht von den vielen Korrekturnotwendigkeiten zu überzeugen. Dass die angesprochene Korrekturinstanz selbst maßgeblich an der Herbeiführung der beklagten Zustände beteiligt ist, beweist den gewerkschaftlichen Liebhabern des Sozialstaats nur umso deutlicher, wie unentbehrlich sie dafür sind, die Politiker auf den rechten Weg zurückzuführen. Und sie beweisen, wie robust diese Liebe ist, wenn sie die mit den verhassten Hartz-Gesetzen begonnenen Reformen des Sozialstaats unter den irreführenden Begriff der ‚Deregulierung‘ fassen: In den neuen Regeln des Arbeitsmarkts, die gewiss nicht weniger geworden sind darüber, dass sie so eindeutig unternehmerfreundlich ausfallen, sehen sie die Abwesenheit von Regeln; der staatliche Angriff auf die Interessen der Lohnabhängigen – das berühmte ‚Besitzstandsdenken‘ – wird als Unterlassung dessen gedeutet, was doch die eigentliche, schützende Aufgabe des Staates wäre, deren entschlossene Inangriffnahme die lohnabhängige Mehrheit so dringend braucht. Deswegen ist eine „Neuordnung des Arbeitsmarktes durch“ – eben – „den Gesetzgeber unerlässlich“ – und wofür? – „um unsichere Beschäftigungsverhältnisse zu begrenzen“. Das Leitmotiv: „Sozial ist, was Arbeit schafft“ macht sich der DGB zwar nicht zu eigen, hinter seine brutale Wahrheit will aber auch er nicht zurück: Der Missbrauch von Zeitarbeit, Werkverträgen, Befristung und Minijobs gehört bekämpft, ihr Gebrauch geht nämlich in Ordnung, solange deutsche Unternehmen sie für ihr Wachstum brauchen und so ‚Beschäftigung sichern‘. In der Festlegung der richtigen Grenzen durch die Politik liegt das Ziel gewerkschaftlicher Lobbyarbeit, die damit genau an der richtigen Adresse ist. Denn Arbeitnehmerfreunde mögen es dem deutschen Staat zwar vorwerfen, aber so kurzsichtig, das Soziale aus dem Blick zu verlieren, gerade wenn er die Lohnzahlung auf seinem Standort ausdrücklich davon befreit, einen Lebensunterhalt gewährleisten zu sollen, ist er wirklich nicht. Es sind in der Tat seine sozialen Gesichtspunkte, auf die sich die Vertreter der Lohnarbeiterbelange berufen, um von der Politik Verbesserungen einzufordern, die oft genug nur darin bestehen, weitere Verschlechterungen zu bremsen.

So verweisen Gewerkschafter gerne auf die nachteilige Wirkung der ‚atypischen‘ Beschäftigungsformen nicht nur auf die Konten der Arbeiter, sondern auch auf die staatlichen Sozialkassen, die mit der klassischen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung von Stammbelegschaften doch viel verlässlicher aufgefüllt werden. Wenn aber die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts bei realistischer Betrachtung nur mit einem gehörigen Anteil von ‚working poor‘ zu sichern ist, dann wirbt der DGB für eine Regulierung, die drohenden Folgeproblemen wie Alters- und Kinderarmut Rechnung trägt. Und wenn trotz aller guten Argumente für die Berücksichtigung der sozialen Interessen ihrer Klientel die Neuregelung der Zeitarbeit auch wieder zu wünschen übrig lässt, der Missbrauch von Werkverträgen partout nicht eingedämmt wird und Flüchtlinge integrationsförderlich zum Sonderangebot im Billiglohnbereich hergerichtet werden, dann kennen Gewerkschafter immer noch einen unschlagbaren Einwand gegen solch unsoziale Fehlgriffe: „Wir dürfen keine Standards aufgeben, weder bei den Arbeitsbedingungen noch beim Mindestlohn. Wir brauchen sie weiterhin als untere Haltelinie, um die Spaltung nicht nur des Arbeitsmarkts, sondern der Gesellschaft zu verhindern.“ Das von ihnen betreute Arbeitnehmerinteresse behandeln deutsche Gewerkschafter ziemlich schamlos als von „Haltelinien“ einzuzäunende Restgröße, für die sie als soziale Rechtsanwälte und Wortführer eines gesamtgesellschaftlichen ‚Wir‘ gegenüber dem Staat eintreten: Die Begünstigten müssen sich in ihren Umständen aufgehoben sehen und nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen fühlen! Das ist das elementare demokratisch-marktwirtschaftliche Versprechen der ‚gesellschaftlichen Teilhabe‘ – so viel sozial muss sein. Dass der von der ansonsten drohenden ‚sozialen Spaltung‘ betroffene Staat dann nach seinem Kalkül verbindlich festlegt, wie viel das ist, ist im Preis einer solchen gewerkschaftlichen Interessenvertretung inbegriffen.

Nirgends zeigt sich der gewerkschaftliche Sinn für die Kalkulationen, von denen die ihrer Mitglieder abhängen, deutlicher als beim gesetzlichen Mindestlohn. Schon in der langjährigen Werbung für das Gesetz zur ‚Verhinderung von Lohnarmut‘ führt der DGB die Vorteile an für die Konjunktur, für den fairen Wettbewerb der Unternehmerschaft, für die Entlastung des Staatshaushalts etc. – so selbstverständlich gehen die gewerkschaftlichen Anwälte staatlicher Schranken der Lohndrückerei davon aus, dass das von ihnen vertretene Interesse eine abhängige Variable der maßgeblichen Interessen von Unternehmerschaft und Staat ist; und genauso selbstverständlich ist ihnen, dass die Gewerkschaft als Organisation der Arbeiterschaft den Verschlechterungen der Lebenslage der Lohnabhängigen nichts entgegenzusetzen hat, die sich in ihrem alternativlosen Bemühen um ihr individuelles Einkommen für Löhne verdingen, die keinem mehr ein Auskommen bieten. Das wird absehbar auch so bleiben, das steht für die Arbeitervertretung felsenfest, so dass eben nur der Staat da einen Boden einziehen kann. Was den arbeitnehmerfreundlichen Gehalt der gesetzlichen Regelung ausmacht, den die heutige Gewerkschaft da feiert, so hat Marx den bereits im vorletzten Jahrhundert kritisch auf den Punkt gebracht: „Zum Schutz gegen die ‚Schlange ihrer Qualen‘ müssen die Arbeiter ihre Köpfe zusammenrotten und als Klasse ein Staatsgesetz erzwingen, ein übermächtiges gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert, durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen.“ Im Vergleich zum damaligen Streit für eine gesetzliche Beschränkung des Arbeitstages ist allerdings ein entscheidender gesellschaftlicher Fortschritt unverkennbar: Der moderne Sozialstaat erspart den Arbeitern und ihrer Gewerkschaft die Probe aufs Exempel, ob sie sich angesichts der ruinösen Konsequenzen ihrer eigenen Konkurrenz je wieder zusammengerottet hätten, um dem Staat ein Gesetz abzutrotzen, und spendiert ihnen nach nur zehn Jahren Überzeugungsarbeit den Mindestlohn glatt von sich aus. So viel sozialstaatliche Fürsorge gegen allen Widerstand der Unternehmerschaft bestätigt der Gewerkschaft ihr prinzipiell gutes Bild von der Republik: „Mindestlöhne schaffen würdigere Arbeitsbedingungen. Existenz sichernde Einkommen sind ein Zeichen des Respekts für getane Arbeit.“ Das ist sie also, die aktuell-zeitlose Elementarfassung des marktwirtschaftlichen Lohninteresses, für dessen Vertretung die Gewerkschaft zuständig ist und für dessen Erfüllung es der Staatsgewalt bedarf: Die materielle Wertschätzung der Arbeit muss dem Kriterium genügen, die moralische Wertschätzung zu belegen, die die Arbeit verdient.

Wie hoch der Lohn dafür sein muss, ist natürlich nicht eindeutig zu beantworten, mit dem Kriterium des gesetzlichen Existenzminimums, an dem sich der Mindestlohn, hochgerechnet auf eine Vollzeitstelle, bemisst, aber ziemlich treffend auf den Begriff gebracht. Dass er – im wohlverstandenen Interesse derjenigen, für die der Verlust eines nicht mehr rentablen Arbeitsplatzes allemal ein größeres Übel darstellt als ein Hungerlohn – nicht zu hoch sein darf, weiß auch die Gewerkschaft, deren Vertreter der Staat deswegen beruhigt in die zuständige Mindestlohnkommission berufen kann. Und die gute Nachricht lautet: Die 8,50 € haben keine Arbeitsplätze vernichtet und können getrost auf 8,84 € angehoben werden.

Dabei gilt für das Mindestlohngesetz natürlich wie für alle Beschränkungen der unternehmerischen Freiheit: Bloß weil sie Gesetz sind, gelten sie nicht einfach – da kennen sich deutsche Gewerkschaften, durch 125 Jahre Erfahrung geschult, aus. Jederzeit ist damit zu rechnen, dass findige Unternehmer den Mindestlohn nur auf dem Papier bezahlen und ihre Beschäftigten falsche Stundenzettel unterschreiben, weil sie um ihren Job fürchten. Das Interesse, mit dem es die Gewerkschaften zu tun haben, ist schließlich so sehr das gesellschaftlich herrschende, dass die von ihm benötigten ‚Grauzonen‘ bisweilen ziemlich flächendeckend ausfallen. Genau diese Praktiken des Unterlaufens von Mindestlohn, Entsendegesetz etc. beweisen der Gewerkschaft umgekehrt die Notwendigkeit und Nützlichkeit der staatlichen Gewalt, also des eigenen Kampfs um ‚soziale Sicherheit‘: Sie macht sich praktisch – ob ausdrücklich berufen oder nicht – zum Anwalt von Niedriglöhnern, ausländischen Billigarbeitern und wie auch immer sonst noch Benachteiligten, denen nur mit einem kollektiven Rückhalt überhaupt zu dem Recht zu verhelfen ist, das sie als Individuen nur auf dem Papier haben. In deren Namen übernimmt sie die Rolle des Wächters über die Einhaltung der staatlichen Reglementierungen des Billiglohnsektors.

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