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Hunger

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Schon im Januar 1915, als alle Illusionen eines kurzen siegreichen Feldzuges zerplatzt waren, hungerten die Menschen in Oberhausen. Die Stadtverordneten mussten eine ganze Sitzung nur dem Mangel an Nahrungsmitteln widmen. Die staatlichen Behörden hatten inzwischen bemerkt, dass Deutschland vor 1914 einen erheblichen Teil seiner Nahrungsmittel hatte einführen müssen. Jetzt stellte der amtierende Oberhausener Verwaltungschef Dr. Koernicke fest, „dass sich der Krieg durch die Blockade Englands anders entwickelt habe als früher. Das Aushungern werde und solle nicht geschehen.“ Die Vorräte reichten angeblich bis zur nächsten Ernte. Dafür müssten die Frauen aber „haushälterisch“ mit den Vorräten umgehen, „um nicht des Hungers wegen Frieden schließen zu müssen“.

„Die Mütter hätten auf ihre Kinder einzuwirken, nicht das Brot zu vergeuden. Jeder könne sparsam sein, ohne dass man Not leide. Man sei durch die langen Friedensjahre verwöhnt und könne viel einfacher leben. Man fände in den Schulklassen zuviel weggeworfenes Brot. Das Frühstück würde in der Pause nicht mehr aufgegessen, manchmal erst auf dem Nachhausewege.“

Der erstaunte Leser fragt sich, woher Dr. Koernicke so genau wusste, wann die Schulkinder ihr Frühstücksbrot aßen und wie oft sie es wegwarfen. Auch „mit dem übergroßen Angebot an Schweinefleisch sei haushälterisch zu verfahren“. Es müsse in „Schnellräuchereien“ zu „Dauerware“ verarbeitet werden – warum dann bei dem angeblich „übergroßen Angebot“ vor allem der Mangel an Fleisch und Fett bei den Schwerarbeiterin frühzeitig zu Unruhen führte, bleibt ein Rätsel. Der Stadtverordnete Funke-Kaiser, Besitzer einer Brotfabrik, ärgerte sich über die Stimmungsmache der Journalisten: „Das Publikum sei durch die Zeitungsschreiber ängstlich geworden. Diese Angst hätte die Hausfrauen zum Mehlaufspeichern gebracht.“ Weil die Hausfrauen Mehl horteten – so der Brotfabrikbesitzer –, stieg die Nachfrage und damit unweigerlich auch der Preis. Den Bäckern sei es verboten, Weißbrot zu backen; dann dürften aber auch „die Hausfrauen ihre Stuten nicht mehr im eigenen Herd backen“. Schwarzbrot sei viel gesünder.25

1916 war das Jahr nach dem ersten Hungerwinter, gefolgt von einer Ernährungskatastrophe im Frühjahr und Sommer. „Im Grunde war der Krieg im Frühjahr 1916 ernährungswirtschaftlich verloren.“26 Die landwirtschaftliche Produktion ging im Krieg, gemessen am Jahr 1913, um ein Drittel zurück. Die staatliche Bürokratie erwies sich bei der Verteilung der äußerst knappen Nahrungsmittel vielfach als überfordert. Gegen Kriegsende standen einem Schwerarbeiter nur 57 bis 70 Prozent des tatsächlichen Kalorienbedarfs zur Verfügung, dem durchschnittlichen Arbeiter lediglich noch 47 bis 54 Prozent.27 Bei der GHH betrug die Brotration für unter Tage Arbeitende 250 Gramm, also 1.750 Gramm pro Woche. Für Schwerarbeiter gab es pro Woche 1.000 Gramm zusätzlich, also insgesamt 2.750 Gramm Brot. Für je vier Überstunden erhielten die Bergarbeiter 250 Gramm hinzu.28 Diese kärglichen Brotrationen schienen jedoch weniger Anlass zu Klagen zu geben als der Mangel an Fett und Kartoffeln und generell die steigenden Preise. Hinzu kam die Kritik von den Gewerkschaften, dass nach der Einführung einer Kinderzulage prompt die Löhne gesenkt worden seien und dass in den Betrieben Lebensmittel bevorzugt an die Mitglieder der „gelben“, also wirtschaftsfriedlichen Gewerkschaften verkauft würden. Als diese Klagen über die Bevorzugung der Mitglieder der gelben Gewerkschaften nicht verstummen wollten, dementierte Reusch energisch.29

Die Not der städtischen Bevölkerung, vor allem der Arbeiter und ihrer Familien, nahm 1916 solche Ausmaße an, dass im Mai in Berlin das „Kriegsernährungsamt“ (KEA) geschaffen und mit besonderen Vollmachten ausgestattet wurde. Im Vorstand dieser neuen Institution waren alle maßgeblichen Interessenverbände des Reiches vertreten. Für die Arbeitgeber der Schwerindustrie wurde der Vorstandsvorsitzende der GHH Paul Reusch vom Reichskanzler in den Vorstand berufen.

Sofort nach seiner Berufung empfahl Reusch allen Industriebetrieben eine kurz zuvor bei der GHH durchgeführte Aktion als nachahmenswert: In der letzten Maiwoche wurden 120 Ferkel an Arbeiter verteilt; wenn diese vor dem 1. Oktober geschlachtet wurden, waren 30 Mark zu bezahlen; wenn die Schweine an diesem Stichtag noch lebten, brauchten die Arbeiter sie nicht zu bezahlen. Die Ferkel-Aktion sollte in den folgenden Wochen noch erheblich ausgeweitet werden.30 Die erzieherische Absicht war unverkennbar: Den Arbeitern sollte klar gemacht werden, dass die Ernährungsprobleme zu bewältigen waren, wenn nur jeder sorgsam und vorausschauend mit den vorhandenen Ressourcen umging. Die Herren im Kriegsernährungsamt, also auch Reusch, wussten, dass die Frauen oft mehrere Stunden in der Schlange stehen mussten und am Ende doch keine Nahrungsmittel bekamen. Die täglichen „Polonaisen“ – so Reuschs Bezeichnung für die Lebensmittelschlangen vor den Geschäften – waren die Hauptursache der wachsenden Unzufriedenheit und störten überdies den Straßenverkehr. Die Ausgabe der Kartoffeln wollte Reusch deshalb auf die Schulhöfe verlegen.31 Der Oberbürgermeister reagierte mit dem trockenen Hinweis, dass die Kartoffelverteilung bisher immer gut funktioniert habe.32

Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 3

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