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Die Gemüsewaage

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Eva-Maria van Gessel

Nun habe ich diese über hundert Jahre alte Gemüsewaage geerbt. Sie hat viele Gebrauchsspuren und eine kleine Macke an der Seite in den vielen Jahren davongetragen. Ich versuche das alte Stück zu erhalten und pflege gerade die Gewichtssteine, da erinnere ich mich ihrer Geschichte:

Mit dieser Gemüsewaage war 1943 schon viele Jahre zuvor in der Backstube des Bäckermeisters „Max Scheuer“ an der Aegidistraße in Bottrop gearbeitet worden, als mein Vater Wilhelm, damals 14 Jahre alt, dort in der Lehre war.

Wilhelm lernte u. a., wie man die eisernen, geeichten Gewichtsteine mit der gewünschten Grammzahl in die eine Seite der Waagschalen setzte und auf der Gegenseite die jeweiligen Zutaten in die andere Waagschale gab, bis jedes Mal erkennbar, sich beide Seiten im Gleichgewicht befanden. Die gebräuchlichsten Gewichtssteine waren von 2000g abwärts, bis 50g vorrätig.

Einmal musste aus Versehen der kleinste Gewichtsstein in die Backzutaten und so in den Teig geraten und auch gebacken worden sein, denn er wurde einen Tag später von einer Kundin empört wieder zurückgebracht – sie hatte ihn beim Anschneiden im Stuten gefunden.

Der Meister schimpfte dann: „Wilhelm, das geht so nicht, du musst sorgfältiger abwiegen!“

Alle zwei Jahre mussten die Waagen des Betriebes zum Eichamt gebracht werden.

Das Eichamt war in der ehemaligen Leichenhalle des nun alten Marienhospitals untergebracht und von der Scharnhölzstraße erreichbar.

Im Januar, es war in der Nacht viel Schnee gefallen, stand mal wieder ein Eichtermin an. Deshalb wurden Wilhelm und das Hausmädchen Friedel beauftragt, den Transport der Waagen ins Eichamt zu erledigen. Die eine Waage aus dem Verkaufsraum und diese Gemüsewaage aus der Backstube, inklusive aller Gewichtsteine, packten die beiden in eine Kiste und schnallten sie auf dem Holzschlitten fest. Bevor sie mit der Schlittenfracht loszogen, rief der Meister ihnen noch zu: „Bringt mir bloß alles wohlbehalten und mit der neuen Eichmarke zurück!“

Sie zogen gemeinsam den Schlitten hinter sich her. Der frisch gefallene Schnee hatte den schmuddeligen Matsch vom Vortag überdeckt. Der feine Russ aus den Schornsteinen, den die Kohleöfen sonst immer hinterließen, war „weggezaubert“.

Wilhelm und Friedel waren in der Winterlandschaft fast alleine unterwegs und die wenigen Geräusche am frühen Morgen wurden dumpf, ’wie in Watte gehüllt’ empfunden. Nun war die Ruhe aber gestört, denn eine Ladung Deputatkohle in „Nuss 3“ rutschte krachend in der Nebenstraße vom Hänger des Kötters auf den Gehweg herab, die er vor der Werkswohnung eines Steigers auszuliefern hatte. Zwei Bergleute kamen inzwischen auch schon angestampft. Der eine von ihnen schob die Schubkarre, in der zwei Schüppen und ein Besen transportiert wurden. Die Beiden waren für diesen ‚Einsatz’ abgestellt worden, um dem Steiger die Kohle in den Keller zu schaufeln.

Abgelenkt von diesem Schauspiel, übersahen Wilhelm und Friedel eine Unebenheit auf dem Gehweg und der Schlitten fiel um. Der gesamte Kisteninhalt lag nun im Schnee. „So ein Mist!“ da waren sich beide einig und sammelten alles wieder ein. Sie fanden auch die Gewichte, die tief in den Schneeverwehungen eingedrungen waren.

Bis auf das kleinste 50g Gewicht, hatten sie alle Gewichtsteine wieder gefunden. Sie suchten und suchten, ihre Finger waren vom Herumwühlen im Schnee eisig durchgefroren und schmerzten.

Wilhelm sagte: „Wenn das der Meister merkt, dass wir einen Stein verloren haben, dann gibt es wieder Ärger!“ Sie überlegten verzweifelt, was sie nun machen sollten.

So kurz vor dem Ziel, wollten sie nicht aufgeben. Wilhelm hatte eine Idee. In seiner Hosentasche waren noch fünf Groschen, und er hoffte, dass die fünfzig Pfennige ausreichen würden, um das fehlende Gewichtstück zu ersetzen und in der Eisenwarenhandlung „Borgmann“ bezahlen zu können, die sich im Nahbereich des Geschehens an der Ecke „Am Altmarkt“ und der „Kirchhellener Straße“ befand.

Friedel zog mit dem Geld los und Wilhelm bewachte die Schlittenfracht. Sie kam so schnell wie möglich und freudestrahlend mit einem neuen 50g Gewicht zurück.

Beide waren erleichtert.

Wilhelm schmerzte der Verlust von einem Drittel seiner wöchentlichen Vergütung schon sehr, aber die nun vermiedene Blöße dem Meister gegenüber, war ihm diese „Anschaffung“ wert.


Von meinen Vater habe ich ja schon berichtet. Nun erzähl ich mal weiter, denn wie kommt nun diese Gemüsewaage seines Lehrbetriebes in meinen Besitz?

Nach dem Krieg wechselte mein Vater in verschiedene Bäckereien, um als Geselle seine handwerklichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu verbessern.

In jedem Betrieb ging es nicht nur anders zu, sondern jeder Bäckermeister hatte auch eigene „Geheimrezepte“. Die Betriebe waren größer und Wilhelm fand in ihnen auch schon modernere Waagen vor, mit denen die Zutaten abgewogen wurden. Schließlich begann er, nach Ostern 1948 in der Bäckerei Korte, die sich zu der Zeit an der Essener Straße, kurz vor der Unterführung befand, zu arbeiten.

Wilhelm war freudig überrascht – in der Backstube stand nun die Gemüsewaage, an der er mal gelernt hatte. Die Macke an der Seite, die sie seit dem Sturz vom Schlitten 1943 vor dem Eichamt davon getragen hatte, erkannte Wilhelm sofort. Und auf Nachfragen erfuhr er, dass ein Teil des Inventars – so auch diese Gemüsewaage – der Bäckermeister Korte von dem Kollegen Max Scheuer zuvor abgekauft hatte, als dieser aus Altersgründen seinen Betrieb aufgab.

Später, nach der bestandenen Meisterprüfung, machte Wilhelm sich dann mit seiner Frau Eva (meiner Mutter) selbständig und sie führten eine gut gehende Bäckerei und Konditorei.

Als meine Eltern 1992 ihren Betrieb ebenfalls aus Altersgründen verkauften, brachte ihr Nachfolger Bäckermeister Breite auch einige Arbeitsgeräte aus seinem Besitz mit in die Backstube.

Dabei war auch jene Gemüsewaage, die mein Vater sofort als „seine Waage“ wieder erkannte. Bäckermeister Breite hatte die Gemüsewaage vom Bäckermeister Grote bekommen, als dieser ebenfalls seinen Betrieb aufgeben musste. Denn der neue Bottroper Bahnhof sollte dort gebaut werden und die Bäckerei stand dem Bauvorhaben im Weg.

Nachdem die beiden ihre Erinnerungen ausgetauscht hatten, erkannten sie, welcher „Schatz“ sich im Laufe der Jahrzehnte „entwickelt“ hatte.

Bäckermeister Breite übergab diese Waage gerne nun meinem Vater und so schloss sich für Wilhelm und der Gemüsewaage ein Kreis – eine Rundreise durch Bottroper Bäckereien.

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