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Agile Organisation – Systematischer Überblick des Themenkomplexes Thorsten Petry und Christian Konz 1 Agilität als Kernherausforderung im digitalen VUCA-Zeitalter

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Das Digitalzeitalter1 stellt viele Branchen und Unternehmen vor massive Veränderungen und Herausforderungen. Exemplarisch sollen hier kurz zwei typische Beispiele aufgeführt werden. Zum einen die bekannte Automobilindustrie, u. a. mit den deutschen Großkonzernen VW, DAIMLER und BMW, und zum anderen die weniger im Rampenlicht stehende Heizungsbranche, mit typischen deutschen Familienunternehmen wie VIESSMANN oder VAILLANT.

Die Automobilbranche befindet sich in einem massiven Veränderungsprozess. Schon seit einigen Jahren ist klar, dass sich der weltweite CO2-Ausstoß nicht so weiterentwickeln darf wie bisher, wenn wir unsere Welt erhalten wollen. Seit 2009 unterliegen PKW und leichte Nutzfahrzeuge in der EU einer CO2-Regulierung, die erwartungsgemäß verschärft wurde. Demnächst greifen harte CO2-Flottengrenzwerte. Dementsprechend ist schon lange absehbar, dass es neue, saubere Antriebstechnologien wie Elektro oder Wasserstoff benötigt. BMW hat mit dem i3 auch schon frühzeitig ein Elektroauto entwickelt und 2013 auf den Markt gebracht. Die Rahmenbedingungen waren aber noch nicht reif für einen durchschlagenden Erfolg. Das Thema wurde daher in den Jahren danach nicht mehr wirklich intensiv weiterverfolgt. Dass Hybridtechnologien eine interessante Übergangstechnologie sind, haben Hersteller wie TOYOTA schon vor vielen Jahren erkannt. Trotzdem waren VW, DAIMLER und Co. hier sehr passiv. Zu sehr hat der Boom bei SUVs – der durchaus in einem gewissen Gegensatz zur Diskussion über Nachhaltigkeit und Umweltschutz steht – die Autokonzerne beschäftigt. Hier ließ sich (kurzfristig) am meisten Geld verdienen. Deshalb lag der Fokus vieler Anbieter sehr stark auf der Optimierung dieses alten Kerngeschäfts – mit erlaubten und z. T. auch unerlaubten Mitteln (Stichworte: Abschaltautomatik, Dieselskandal).

Innovative neue Wettbewerber wie TESLA wurden lange nur belächelt. DAIMLER hat seine 2009 für 50 Mio. Euro erworbene 9,1 %-Beteiligung an TESLA bereits 2014 wieder verkauft. Dass TESLA – mehr ein Software-, Daten- und Batteriekonzern als ein Autobauer – die Automobilbranche revolutionieren würde, konnten sich die deutschen Ingenieure alter Schule kaum vorstellen. Auch passten die Arbeitsweisen nicht zusammen. Als DAIMLER-Ingenieure 2012 zusammen mit TESLA das Model S entwickelten, zeigten sich drastische Unterschiede in der Herangehensweise. Während TESLA – wie im Softwarebereich üblich – E-Autos schnell auf den Markt bringt, Erfahrungen, Daten und Kundenfeedback sammelt und auf der Basis Fehler per regelmäßigem Update behebt, testen traditionelle Fahrzeughersteller ihre Modelle gerne ausgiebig über Jahre, bevor sie „fix & fertig“ auf den Markt kommen.

„6 Wochen. Das ist die Antwort auf die Frage, wie schnell Kundenwünsche in ein komplexes Software-Ökosystem eines Automobilherstellers aufgenommen werden können. In 2019 schreibt ein TESLA-Fan auf Twitter über seinen Wunsch nach einer Erweiterung der Fahrzeugsoftware seines Model 3: die Betätigung der Hupe solle die integrierte Kamera zum Speichern einer Videosequenz anweisen. „Yeah, makes sense“ war eine der Antworten auf den Tweet am selben Tag – geschrieben von TESLA-CEO ELON MUSK höchstpersönlich. 6 Wochen dauerte es, bis dieser Kundenwunsch seinen Weg via update-over-the-air in alle TESLA Fahrzeuge fand.“2

Noch komplexer wird das Bild, wenn man auch die Themen Autobetriebssystem (mit Vorreitern wie GOOGLE AUTOMOTIVE SERVICES und Wettbewerbern wie der Arene-Plattform von TOYOTA), Batterie (mit mächtigen Playern wie CATL), autonomes Fahren (mit Unternehmen wie der GOOGLE-Tochter WAYMO) und Mobilitätsplattformen (mit Anbietern wie UBER) hinzunimmt. Auch hier gibt es extreme Unsicherheiten und man hat den Eindruck, dass die deutschen Automobilhersteller nicht recht wissen, wie sie sich positionieren sollen. Neben einigen – meist zaghaften – Etablierungsversuchen, gibt es immer wieder auch Marktrückzüge (Stichworte: MOOVEL, CAR2GO, MYTAXI, DRIVE NOW, SHARE NOW). Unerwartete Schocks wie die Covid-19-Pandemie verkomplizieren diese Entwicklungen noch weiter. Und diese dynamische, komplexe und kaum planbare Situation betrifft natürlich nicht nur die Automobilhersteller, sondern auch Zulieferer wie BOSCH oder CONTINENTAL, die auch noch ihren Platz im neuen Mobilitäts-Ökosystem finden müssen. Hier dürften sich zukünftig auch Themen wie z. B. automatische Wartung, datengesteuertes Flottenmanagement, vollautomatisierte Versicherungstarife oder neue Logistikservices (u. a. automatisierte Paketablage) wiederfinden.

Auch wenn diese kurze Darstellung die komplexe „Gemengelage“ bei weitem noch nicht vollständig widerspiegelt, lässt sich in Summe festhalten: Es ist völlig klar, dass es tiefgreifende Veränderungen in der Automobilbranche geben wird. Dies ist rational auch erkannt, wie die folgende Aussagen deutscher Automobil-CEOs verdeutlichen: „Wenn wir weiterhin nur das tun, was wir [bisher] so gut gemacht haben, sind wir erledigt“3 und „Der Sturm geht jetzt erst richtig los“4. Leider ist aber extrem unklar, wie diese Veränderungen konkret aussehen und wann diese genau stattfinden werden. Sowohl die genauen Markt- und Kundenanforderungen, als auch die adäquaten Technologien und Lösungswege sind unklar. Kein Player ist in der Lage, einen detaillierten 5- oder 10-Jahresplan aufzustellen. Stattdessen braucht es neben einer grundsätzlichen, groben Zielausrichtung ein adaptives Herantasten und kontinuierliches Lernen. Es braucht – neben (z. T. neuen) fachlichen Fähigkeiten – die Kompetenz, immer wieder mit neuen Herausforderungen, Technologien und Bedürfnissen umzugehen.

Im Detail natürlich anders, aber von den grundlegenden Herausforderungen durchaus vergleichbar, sind die Herausforderungen in der Heizungsbranche bzw. treffender Umwelt-, Kälte- und Wärmetechnikbranche. Hier sind die etablierten Heizungsbauer wie z. B. VIESSMANN, VAILLANT oder BOSCH-BUDERUS mit diversen Startups bzw. neuen Wettbewerbern konfrontiert, die die Branche gehörig durcheinanderwirbeln.5 Klassischerweise war die Wertschöpfung in der Branche so gestaltet, dass der Heizungsbauer eine Anlage entwickelt, hergestellt und ein Installateur diese an den Endkunden verkauft und im Keller aufgestellt hat. Solange die Heizung dann lief, passierte – außer der Wartung – nicht mehr viel. Es gab so gut wie keinen Kontakt zwischen Heizungsbauer und Endkunden.

Start-ups wie TADO und THERMONDO sowie die zugekaufte GOOGLE-Tochter NEST ermöglichen es aber nun, Thermometer oder auch die ganze Heizung online zu bestellen und diese per Smartphone vom Sofa oder auf dem Nachhauseweg aus dem Auto zu steuern. Das ist bequem, einfach und kann dabei helfen, Energie und damit auch Stromkosten zu sparen. Unter anderem weil vielen Installateuren das Knowhow fehlte, haben Anbieter wie bspw. TADO mit ihren smarten Thermostaten direkt den Endkunden adressiert. Dadurch verändern sich die Marktbeziehungen grundlegend. Im Umfeld von Smart Home und Smart Energy entstanden bzw. entstehen diverse neue Geschäftsmodelle, verbunden mit einem erheblichen Wettbewerbsdruck in dem ehemals sehr stabilen Markt.

Die etablierten Anbieter haben die Herausforderung erkannt und bieten mittlerweile smarte Thermostate und Steuerungs-Apps an. Auch erlauben innovative Angebote den Installateuren bzw. Handwerkern einen digitalen Zugriff auf die Heizungsanlage und ermöglichen so z. B. eine Ferndiagnose. Zum Teil erfolgt die Entwicklung von neuen Produkten und Geschäftsmodellen in Zusammenarbeit mit Start-ups (z. B. VIESSMANN mit TADO) oder in eigens dafür gegründeten digitalen Einheiten (z. B. VIESSMANN WATTX). Auch investieren die traditionellen Player über Venture Capital Fonds in vielversprechende Start-ups und Innovationen. VIESSMANN bspw. wandelt sich vom Heizungsbauer zu einem „Gestalter von Lebensräumen für zukünftige Generationen“. Durch eine agil(er)e Ausrichtung war das Familienunternehmen auch in der Lage, während der Covid-19-Pandemie relativ schnell mobile Beatmungsgeräte und Luftreiniger für die Frischluftzufuhr, die sich bspw. für den Einsatz in Klassenräumen eignen, zu entwickeln und zu produzieren.6

Mit den Fortschritten in der künstlichen Intelligenz und sich auf Basis von z. B. Bewegungs- und Wetterdaten selbstregelnden Heiz- bzw. Klimasystemen stehen die nächsten Innovationen bereits vor der Tür. Auch hierauf müssen BOSCH-BUDERUS, VIESSMANN & Co. schnell und adäquat reagieren.

Vor ähnlichen Herausforderungen stehen bzw. standen einige der in diesem Buch vorgestellten Unternehmen, wie z. B. HEILER, TELE HAASE, B. BRAUN MELSUNGEN, SIEMENS oder die R+V VERSICHERUNG. Auch lassen sich ohne großen Aufwand weitere Branchen und Unternehmen nennen, denen es ähnlich ergeht. Darauf soll aus Platzgründen aber verzichtet werden. Generell ist festzustellen, dass sich die Welt immer schneller verändert, sowie immer komplexer und unübersichtlicher wird. Diese Thematik wird in den letzten Jahren häufig und gerne mit dem Akronym VUCA beschrieben.

VUCA setzt sich zusammen aus den vier Begriffen Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity. Das Akronym stammt ursprünglich aus dem amerikanischen Militärjargon und hat sich in den letzten Jahren in der Managementliteratur etabliert.7

V steht für Volatility (Volatilität bzw. Unbeständigkeit), d. h. für häufige Veränderungen und sprunghafte Entwicklungen, die aber nicht zwingend unvorhersehbar sein müssen.

U steht für Uncertainty (Ungewissheit bzw. Unsicherheit), d. h. für eine unklare Situation bzw. nebulöse Veränderungen.

C steht für Complexity (Komplexität bzw. Vielschichtigkeit), d. h. für eine Situation, in der viele bzw. vielfältige Elemente ineinander spielen.

A steht für Ambiguity (Ambivalenz bzw. Mehrdeutigkeit), d. h. eine unklare, unscharfe und ggf. sogar widersprüchliche Umwelt.

Insbesondere die exponentielle technologische Entwicklung, die globale Vernetzung und die (dadurch bedingten) gesellschaftlichen Veränderungen führen zu einer immer stärker als VUCA zu charakterisierenden Umwelt. In solchen Umfeldern sind Geschäftsentwicklungen immer weniger vorhersehbar und dementsprechend schwieriger plan- und steuerbar.

Aber auch wenn es richtig ist, dass die Welt immer stärker VUCA wird, sollte man dem aktuellen Hype um dieses Akronym mit Vorsicht begegnen. Denn, dass Dinge volatil, unsicher, komplex und widersprüchlich sind, das gab es auch schon früher. Mal mehr (z. B. in Phasen technologischer Umbrüche wie Dampfmaschine, Elektrizität oder Verbrennungsmotor), mal weniger. Und VUCA gilt auch heute nicht für alle und alles – verschiedene Menschen, Länder, Funktionen und Industrien sind unterschiedlich betroffen. Schließlich sollte man beachten, dass sich das VUCA-Akronym zwar gut eignet, um für die grundsätzliche Thematik zu sensibilisieren, es eignet sich aber nicht als Analysekonzept, weil die Kategorien dafür zu unspezifisch sind.

Seit kurzem sprechen manche Autoren und Berater auch von einer BANI-Welt.8 Dieses Akronym steht für brittle (brüchig), anxious (ängstlich, besorgt), nonlinear (nicht-linear) und incomprehensible (unbegreiflich). Zwar sind auch diese Adjektive zur Beschreibung (der Veränderung) unserer Welt nicht falsch, aber es ist nicht nötig „noch einen drauf zu setzen“ und VUCA nochmal steigern zu wollen. Der Mehrwert eines neuen Akronyms dürfte überschaubar sein und eine tiefere Auseinandersetzung bzw. Abgrenzung von VUCA und BANI ist für das praktische Management nicht wirklich hilfreich. Wichtig ist es „lediglich“, sich dieser Umwelt(veränderung) bewusst zu sein. Sowohl für VUCA als auch für BANI gilt, dass es auch früher bereits Dinge gab, die so waren, dass aber die Häufigkeit bzw. der Ausprägungsgrad zunimmt. Unsere Welt ist bzw. wird immer stärker VUCA (bzw. BANI).

In einer VUCA-Welt wird die Fähigkeit, schnell (re)agieren zu können, immer wichtiger. Gefordert ist ein schnelles, kreatives, flexibles und kundenorientiertes Denken und Handeln. In einer VUCA-Welt muss man mit mehreren Optionen „jonglieren“ und „auf Sicht fahren“. Ein pragmatisches Ausprobieren und Lernen ist dann i. d. R. erfolgreicher als detaillierte Analyse und Planung. Kurz gesagt: VUCA erfordert Agilität. Im folgenden Beitrag und in diesem Buch wird erklärt, was Agilität bedeutet und wie eine agile Organisation gestaltet werden kann.

Dieser Einleitungs- und Überblicksbeitrag soll ein Ordnungsgerüst für das Thema „agile Organisation“ liefern und die wesentlichen Aspekte vorstellen und abgrenzen (vgl. Abbildung 1). Nachdem in Kapitel 1 die Relevanz von Agilität in unserer zunehmend VUCA-artigen Umwelt aufgezeigt wurde, geht Kapitel 2 kurz auf die Entwicklungsgeschichte und die wesentlichen Elemente von Agilität im Allgemeinen ein. Die Kapitel 3 bis 8 fokussieren dann auf die Gestaltung einer agilen Organisation (d. h. Methoden, Prozesse und Strukturen).

Hierfür werden in Kapitel 3 die zentralen Elemente von Organisation allgemein sowie einer klassischen, hierarchischen und bürokratischen Ausgestaltung von Organisation vorgestellt. Das folgende Kapitel 4 stellt als Gegenmodell dazu die zentralen Charakteristika einer agilen Organisationsgestaltung vor. Diese Bausteine werden dann in den Hauptkapiteln immer wieder aufgegriffen. Kapitel 5 erläutert das potenzielle Zusammenspiel von klassischen und agilen Organisationselementen. Dabei wird betont, dass beide Modelle ihre Berechtigung haben – je nach Situation.

Die Kapitel 6 bis 8 betrachten konkrete Ansätze, Methoden und Praktiken, um Prozesse und Strukturen agil(er) zu gestalten. Dabei geht es in Kapitel 6 zunächst um einzelne Prozess- und Projektmethoden (Ablauforganisation). Kapitel 7 stellt verschiedene Ansätze bzw. Rahmenmodelle (Frameworks) zur Skalierung von Agilität vor, d. h. für die Ausweitung von einzelnen auf mehrere agile Teams. Kapitel 8 schließlich betrachtet verschiedene Ansätze zur agilen Gestaltung von Strukturen (Aufbauorganisation). In Summe liefern die Kapitel 6 bis 8 eine Auswahl an potenziellen Ansätzen, um Organisation agiler zu gestalten. Die vergleichende Bewertung am Ende von jedem dieser Kapitel soll dabei helfen, die für die eigene Situation am besten passenden Ansätze auszuwählen bzw. eine Basis zur Entwicklung eines eigenen Ansatzes zu haben.

Da Organisation nie ohne die in den Prozessen und Strukturen agierenden Menschen funktionieren kann, wird in Kapitel 9 ein tieferer Blick auf Aspekte einer agilen Führungs- und Zusammenarbeitskultur geworfen. Denn um eine agile Organisation „zum Leben zu bringen“, bedarf es eines agilen Denkens und Handelns in breiten Mitarbeiterschichten. Kapitel 10 betrachtet zum Abschluss noch kurz weitere, über Organisation und Kultur hinausgehende Managementaspekte, die beim Weg zu einem „agile(re)n Unternehmen“ ebenfalls zu berücksichtigen sind – aber nicht im Fokus des Buchs stehen.

Der Einleitungs- und Überblicksbeitrag schließt mit einem Fazit in Kapitel 11, das die zentralen Erkenntnisse noch einmal kurz zusammenfasst. Es wird betont, dass sich „wirkliche“ Agilität letztlich im tagtäglichen Denken und Handeln zeigen muss, dass Kultur aber nicht direkt beeinflusst werden kann und es deshalb adäquater agiler Prozess- und Strukturansätze zur Formung des Verhaltens und der Kultur bedarf. Organisation war immer und bleibt auch zukünftig „Mittel zum Zweck“. Und genau dafür liefert das Buch wertvolle Hinweise.

Abb. 1: Aufbau des Einführungsbeitrags

Agile Organisation – Methoden, Prozesse und Strukturen im digitalen VUCA-Zeitalter

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