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2.4 Adäquate Rahmenbedingungen

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Wie in den bisherigen Ausführungen dargelegt, wird Agilität im Zuge der zunehmenden VUCA-Umwelt immer wichtiger. Aber ein agiles Vorgehen passt natürlich nicht immer und überall. Im Hinblick auf die Frage, wann agiles Denken und Handeln passen, helfen verschiedene Modelle. Als vereinfachte bzw. vereinfachende Abbilder der Realität helfen sie dabei, Situationen besser einzuschätzen und zu entscheiden, welche Handlungsstrategien sich auf Grundlage der jeweiligen Annahmen und Bedingungen für die Lösung bestimmter Vorhaben und Fragestellungen eignen.

Mit der sogenannten Stacey-Matrix34 und dem Cynefin-Framework35 haben sich in den vergangenen Jahren zwei Modelle durchgesetzt, die jeweils eine Einordnung verschiedener situativer Kontexte ermöglichen.

Fasstman die wesentlichen Erkenntnisse dieser beiden Modelle, wie in Abbildung 5 gezeigt, in einem Modell zusammen, so lassen sich vier Gestaltungsbereiche voneinander unterscheiden und entsprechende Handlungsstrategien ableiten.

Abb. 5: Typologie situativer Kontexte und Gestaltungsbereiche36

Die Verortung konkreter Vorhaben und Initiativen in diesem Schema orientiert sich an den Bekanntheitsgraden der relevanten Anforderungen (dem Was) und der Technologien, die zur Umsetzung der Anforderungen notwendig sind (dem Wie). Anforderungen bewegen sich im Spektrum zwischen absolut bekannt und komplett unbekannt. In den meisten Fällen liegt die Wahrheit irgendwo zwischen diesen beiden Extremen. Ähnlich verhält es sich mit den Technologien bzw. allgemeinen Lösungsansätzen, die sich für die Umsetzung der Anforderungen eignen. Auch sie liegen zwischen bekannt – erprobte, etablierte Technologien und Verfahren sind verfügbar – und unbekannt bzw. sind im Extremfall noch gar nicht existent.

Auf Basis dieser Matrix lassen sich 4 unterschiedliche Kontexte ableiten, in denen jeweils ein anderes Vorgehen angebracht ist:

Einfache Kontexte: Anforderungen sind bekannt und die Technologie ist vorhanden. Ursache-Wirkungszusammenhänge sind klar, eindeutig und vorhersagbar. Insofern liegt auch die gewünschte Lösung auf der Hand, die durch die Herangehensweise „erkenne, beurteile, reagiere“ erreicht werden kann. Hier empfiehlt sich die Anwendung bewährter Praktiken und Standards (Best Practices).

Beispiel: Mit der Bestätigung der AGB und dem Absenden des Warenkorbs durch den Kunden prüft das Bestellsystem die Plausibilität der Daten und versendet automatisch eine Bestellbestätigung inklusive der Versand- und Rechnungsdaten per E-Mail.

Komplizierte Kontexte: Die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung hängt von vielen Variablen ab, ist jedoch ermittelbar und nachvollziehbar. Für die Konkretisierung von Anforderungen und die Auswahl sowie den Einsatz der Technologie ist entsprechendes Fachwissen erforderlich. Über die Herangehensweise „erkenne, analysiere, reagiere“ eröffnen sich den Experten häufig mehrere Lösungsvarianten. Deshalb gibt es in diesem Fall auch keine Best Practices, sondern nur Good Practices.

Beispiel: Für den Neubau eines Hauses müssen verschiedene Gewerke Hand in Hand gehen. Neben Architekt und Statiker, müssen sich u. a. Dachdecker, Installateure und Trockenbauer synchronisieren und in Abstimmung mit dem Bauherrn den adäquaten Lösungsweg finden.

Komplexe Kontexte: Ursache-Wirkungszusammenhänge werden meist erst im Nachhinein erkannt. Sie entwickeln sich emergent und befinden sich in einer dynamischen Wechselwirkung. Anforderungen sind unklar und mehrdeutig und auch die Technologien sind nicht standardisiert und müssen ggf. adaptiert oder neu konstruiert werden. Durch die Herangehensweise „probiere, erkenne, reagiere“ werden Annahmen über die Anforderungen gebildet, getestet und auf dem Weg zur Lösung verworfen oder verfeinert.

Beispiel: Smart-Home-Produkte und ein vernetztes Zuhause sind darauf ausgelegt, Nutzern das Leben einfach zu machen. Doch die dahinterstehenden Projekte und Prozesse werden immer komplexer. Produkte werden zu digitalen Systemlösungen. Damit „Over Engineering“ vermieden werden kann, werden die Nutzer von Beginn an in den Entwicklungsprozess eingebunden, um Hypothesen über das Nutzerverhalten früh zu validieren und sich über kurze Feedbackschleifen Schritt für Schritt einer neuen Lösung anzunähern.

Chaotische Kontexte: Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung sind nicht nachvollziehbar. Da weder Anforderungen noch Technologien bekannt sind, braucht es ungewohnte Praktiken und Experimentierfreude. Die Handlungsstrategie „handle, erkenne, reagiere“ erfordert Entscheidungsstärke. Dabei muss es sich in diesem Bereich nicht immer gleich um eine tiefgreifende Erschütterung oder eine Unternehmenskrise handeln. Der Übergang von komplexen zu chaotischen Situationen bietet häufig den Nährboden für disruptive Innovationen.

Beispiel: Wenn sich ein Unternehmen in einer kritischen Schieflage befindet, eine Liquiditäts- oder Existenzkrise droht, dann heißt es, schnell zu handeln. Entscheider dürfen nicht in Schockstarre verfallen, sondern müssen sich trauen, notfalls mit kurzfristigen Desinvestitions- und Kostensenkungsprogrammen hart gegenzusteuern. Wird gleichzeitig eine strategische Neuausrichtung unternommen, dann liegen Gesundschrumpfen und potenzieller Wiederaufstieg oft nah beieinander.37

Es zeigt sich, dass die Unsicherheit von einfachen, über komplizierte und komplexe bis zu chaotischen Situationen immer mehr zunimmt. Je ungewisser und instabiler die Situation, desto besser eignen sich agile Ansätze zur Lösungsfindung, solange man sich nicht ausschließlich im chaotischen Bereich befindet. Agile Ansätze empfehlen sich folglich vor allem in komplexen Umfeldern, in denen Anforderungen und Technologien unklar oder noch nicht bekannt sind. Auf Basis der ihnen zugrunde liegenden Prinzipien (vgl. Kapitel 2.3 und 4) besitzen sie eine höhere Komplexitätsverarbeitungsfähigkeit als klassische Ansätze.

So werden bspw. die Mobilitätskonzepte der Zukunft hochgradig beeinflusst durch die ökologischen, technologischen, politischen und gesellschaftlichen Wechselwirkungen. In einer solch komplexen Gemengelage bieten sich Ansätze wie z. B. Design Thinking oder Lean Startup (vgl. Kapitel 6.4 bzw. 6.5) an, um Probleme früh zu erkennen und erste Ideen mithilfe von Experimenten schnell zu testen. Zu diesem Zweck werden bspw. in Modellregionen Prototypen unter realen Bedingungen erprobt, um die Anwendbarkeit und Nutzerakzeptanz vor Ort zu evaluieren und über kurze Lernzyklen immer wieder Innovationen hervorbringen zu können.

In der Realität lassen sich Vorhaben jedoch nicht immer eindeutig einem Bereich der Matrix von Abbildung 5 zuordnen, und auch die Grenzen und Übergänge zwischen den verschiedenen Kontexten (einfach, kompliziert, komplex, chaotisch) lassen sich oft nicht trennscharf ziehen. Dennoch dient die auf der Stacey-Matrix und dem Cynefin-Modell beruhende Typologie als Navigationshilfe und gibt Orientierung, in welchen Kontexten welche Handlungsstrategien und Ansätze sinnvoll sind.38 So nutzten bspw. NAGEL/WILHELM in ihrem Beitrag in diesem Buch die Stacey-Matrix für die Einordnung ihres Projektvorhabens und beschreiben, wie sie auf dieser Grundlage ein hybrides Projektvorgehen abgeleitet haben, das sich als Mischung aus klassischen und agilen Praktiken und Strukturelementen bewährt hat.

Explizit gewarnt werden soll vor dem vorschnellen Übertragen einfacher, bewährter Praktiken und Standards auf komplexe und chaotische Situationen. Aussagen wie z. B. „Das haben wir schon immer so gemacht!“ oder „Dieses Vorgehen passt nicht zu uns!“ („Not-invented-here-Syndrom“39) machen deutlich, wie wichtig der bewusste Umgang mit Veränderung und Instabilität ist. Denn bleibt dies aus, können unter Umständen sogar existenzbedrohende Krisen entstehen, vor allem wenn der Ernst der Lage bspw. nicht erkannt oder die Situation falsch eingeschätzt wird. Wenn die Marktbedingungen, das Wettbewerbs- und/oder Nutzerverhalten unklar oder aufgrund der hohen Dynamik nicht nachvollziehbar sind, dann funktionieren Best Practices und Good Practices nicht mehr, da es keine linearen Kausalitäten gibt, auf die sie angewendet werden können.

Zu Fehleinschätzungen kann es kommen, wenn bereits vorhandene oder sich in der Entwicklung befindende Technologien und Knowhow, z. B. aufgrund dominanter etablierter Prozesse und Strukturen, nicht genutzt werden und dadurch Agilität im Denken und Handeln bei den Organisationsmitgliedern verhindert wird.

Ob die deutsche Autoindustrie (vgl. Kapitel 1) ein ähnliches Schicksal ereilt wie die einst stolzen Kamera- und TV-Gerätehersteller, wird sich wohl in den nächsten Jahren zeigen. Die deutschen Automobilhersteller haben die Konkurrenz um TESLA und den rasanten Wandel von analog auf digital lange Zeit nicht richtig ernst genommen. Sie waren auf die steigende Komplexität nicht vorbereitet und verharrten zu lange in ihren bewährten Strukturen und standardisierten Prozessen. Der Wechsel hin zu agile(re)n Ansätzen ging nur langsam vonstatten. Aktuell wird TESLA noch ein technologischer Vorsprung von vier bis fünf Jahren gegenüber den deutschen Autobauern zugesprochen.40

Die Beispiele und die oben beschriebenen Kontexte verdeutlichen, wie wichtig es ist, die jeweiligen Kontexte nicht nur auseinanderzuhalten, sondern auch die passenden Strukturen und Prozesse zu wählen, zu beherrschen und zu kultivieren. Um zu prüfen, ob eine Aufgabe als „komplex“ zu bezeichnen ist und sich somit prinzipiell agile Ansätze eignen, können die folgenden Kriterien geprüft werden. Eine agile Organisation passt zu Aufgaben, bei denen (mehrere, aber nicht zwingend alle) der folgenden Rahmenbedingungen für agiles Arbeiten zutreffen:41

Themenstellung ist unübersichtlich und nicht genau im Voraus planbar.

Schnelle Akquisition von Neugeschäft hat hohe strategische Bedeutung.

Es geht um das Finden und die Entwicklung von Innovationen bzw. Neuerungen.

Geschäftsumfeld bzw. Kundenanforderungen ändern sich häufig bzw. unvorhersehbar.

Kundenerwartungen sind zwar stabil, Zwischenziele und Meilensteine ändern sich aber häufig.

Konzentration auf Kundenbedürfnisse ist wichtiger als repetitive Wiederholung oder die Perfektionierung einer bekannten Lösung (Best Practice).

Kunden erwarten Reaktions- bzw. Bearbeitungsgeschwindigkeit, die die derzeitigen Fähigkeiten übersteigt.

Kunden schätzen häufige, inkrementelle Lieferungen bzw. Updates.

Lösungsweg ist unbekannt und durch häufige Iterationen geprägt, die ggf. Experimente und die Kombination unterschiedlicher Ansätze erfordern.

Menschen aus unterschiedlichen Fachdisziplinen werden benötigt, um Neues zu kreieren und/oder schnell zu handeln.

Kunde ist bereit, z. B. über Feedback, aktiv an der iterativen, inkrementellen Entwicklung mitzuwirken.

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