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Das Göttliche in mir grüßt das Göttliche in dir

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Ich bin erst vor Kurzem zum Team der Begleiter_innen von Straßenexerzitien dazugestoßen; meine ersten Straßenexerzitien waren im Sommer 2014. Wenn ich meinen eigenen biografischen Wurzeln nachgehe, die mich dorthin geführt haben, stoße ich auf die zweifache Suche nach politischem Engagement und meditativem Gebet. Diese Suche hat ihren Ursprung in der Umbruchzeit nach 1968: kirchlich war sie angestoßen durch das Zweite Vatikanische Konzil und die Befreiungstheologie; politisch durch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Die Ausgrenzung, Diskriminierung und Vernichtung von Juden, Sinti und Roma, Kommunisten, Homosexuellen, Menschen mit Behinderung und anderen Gruppen forderte mich auf zu einem klaren Engagement: „Nie wieder Auschwitz!“ Was ich damals noch nicht realisierte, war die erst viel später einsetzende Erkenntnis, wie sehr ich in meinem Denken selbst von dem diskriminierenden und ausgrenzenden Ungeist, den ich überwinden wollte, geprägt war: Ich meinte immer sehr schnell zu wissen, was politisch richtig war. Alles sortierte ich sofort in Kategorien von Richtig und Falsch.

Herausgeholt aus diesem Schwarz-Weiß-Denken haben mich in den 1970er-Jahren die internationalen Jugendtreffen in Taizé sowie Jean Goss und Hildegard Goss-Mayr, Friedensaktivisten im Internationalen Versöhnungsbund, mit ihrem Ansatz der christlichen Gewaltfreiheit: In Taizé lernte ich beim „Konzil der Jugend“ so viele unterschiedliche Menschen mit mich zum Teil verstörenden Denk- und Glaubensvorstellungen kennen und mögen, dass ich es aufgab, alle immer beurteilen zu wollen. Das fünfminütige Schweigen in den drei Gebeten am Tag hatte etwas Mystisches und wurde für mich zum Inbegriff des Aushaltens alles Geheimnisvollen, das zum Menschsein und zum Leben gehört.

Von Jean und Hildegard Goss-Mayr lernte ich im Rahmen der Friedensbewegung der 1980er-Jahre, dass der erste Schritt der Analyse von Macht, Gewalt und Ungerechtigkeit immer darin besteht, auf sich selbst zu schauen und die eigenen Fehler wahrzunehmen, die persönliche Verstrickung in die Verhältnisse von Ungerechtigkeit, den eigenen Anteil an Gewalt. Wenn ich mit dieser selbstkritischen Haltung in Konfliktgespräche gehe, dann heißt das: Wir sprechen auf Augenhöhe miteinander; ich bin nicht der Besserwisser. Dass ich auch im schlimmsten Feind einem Menschen begegne, der von Gott beseelt ist, der einen göttlichen Kern in sich trägt, das war eine unvergessliche Erkenntnis.

Ab Anfang der 1980er-Jahre nahm ich an ignatianischen Exerzitien teil. Durch das Erkennen meiner eigenen Grenzen wurde ich emotional ungemein aufgewühlt und durfte zugleich erfahren, dass ich auch in und mit meinen Fehlern von Gott geliebt bin und dass Gott aus allem etwas Gutes erwachsen lassen will. Das kontemplative schweigende Meditieren mit dem Herzensgebet praktiziere ich seither so regelmäßig wie möglich im Alltag. Elf Jahre arbeitete ich beim Internationalen Christlichen Friedensdienst „Eirene“, wo wir morgens unsere Arbeit mit einer Meditation begannen. Meditation und Gebet waren mir als Kraftquelle wichtig, aber eine Frage blieb: Wie gehören Gebet und Engagement zusammen?

Bei einer Reise nach Indien erstaunte mich die Sicht des Jesuiten Sebastian Painadath, der in Kerala einen christlichen Ashram aufgebaut hat: Wenn Westler bei dem Dreischritt Sehen-Urteilen-Handeln das Sehen oft nur als Vorstufe für das Beurteilen und das alles entscheidende Handeln sehen, legt indische Spiritualität ihr Hauptaugenmerk auf das Sehen: aufmerksam sein, präsent sein, da sein, mit allen Sinnen das Leben spüren und mit dem Göttlichen in Verbindung stehen – das ist die Mitte.

Ich wurde auf Christian Herwartz aufmerksam, der in einem Artikel zu Straßenexerzitien geschrieben hatte, dass die Begleiter_innen der Straßenexerzitien häufig ihre Kraft aus kontemplativen Exerzitien bezögen, dass kontemplative Exerzitien aber auch die Gefahr beinhalteten, die eigenen spirituellen Erfahrungen zu privatisieren. Diese Spannung aus persönlicher Meditationserfahrung (mit der Gefahr der Privatisierung und Instrumentalisierung) und kritischem gesellschaftlichem Engagement (mit der Gefahr, politisch Andersdenkende als Feindbilder zu konstruieren) war es, die mich im Sommer 2014 zu zehntägigen Straßenexerzitien nach Ludwigshafen führte – diesmal nicht um wie sonst bei Exerzitien in einer Kapelle schweigend zu meditieren, sondern um in der Stadt an den Grenzen der Gesellschaft offen Aufmerksamkeit zu schenken, einfach da zu sein, Begegnungen zuzulassen, auf die ich mich sonst nicht einlassen würde, und in ihnen Gottes Gegenwart zu spüren: auf Parkbänken bei Menschen, die auf der Straße leben, bei bettelnden Menschen, in Hinterhofmoscheen bei muslimischen Mitbürger_innen … Die zehn Tage waren eine umwerfende Erfahrung für mich.

Achtsamer Umgang, Aufmerksamkeit schenken, ohne Zweckorientierung an den Rändern unserer Gesellschaft einfach da sein – all das bringt Engagement und Gebet zusammen. In meiner Kirchengemeinde in Neuwied haben wir eine „KaffeeTafel“ eingerichtet als Ergänzung zur Neuwieder Tafel: Menschen, die mit Bezugsberechtigungsschein in Supermärkten übrig gebliebene Nahrungsmittel erhalten, trinken gemeinsam mit Gemeindemitgliedern Kaffee, tauschen sich aus, unterhalten sich. Bei der „KaffeeTafel“ sind wir nicht Geber auf der einen und Empfänger auf der anderen Seite. Wir teilen unser Menschsein. So wie bei der Gemeinschaft Sant’Egidio, der ich mich verbunden fühle, gestalten Christen auch in Neuwied den Heiligen Abend mit ausgegrenzten Menschen und Menschen, die Weihnachten nicht alleine feiern wollen. Im letzten Jahr war ich erstmals dabei. Ich habe die weihnachtliche Stimmung in einer bunt gemischten Gruppe von Jung und Alt, von Menschen unterschiedlichster Schicht und Nationalität, christlich, offen und nicht religiös, nicht sesshaft und bürgerlich genossen. Das Zusammensein selbst wird zum Gebet. An meinem Arbeitsplatz, der Katholischen Hochschule in Köln, begleite ich Studierende bei (kurzzeitigen) Erfahrungen mit Straßenexerzitien. Schon vor Jahren hat mein Kollege Joachim Windolph Straßenexerzitien als Angebot für Studierende eingeführt und ich spüre, wie wichtig die Erfahrungen für Studierende der Sozialen Arbeit sind, vor allem professionellen Tun einfach da zu sein, auf Augenhöhe dem Gegenüber zu begegnen – ganz im Sinne des indischen Grußes „Namaste“: Das Göttliche in mir grüßt das Göttliche in dir.

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