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Spurensuche

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Als ich das erste Mal auf die Straße ging, um Gott zu suchen, war ich elf oder zwölf. Damals wusste ich jedoch nicht, dass ich Ihn suche; erst als ich die Exerzitien auf der Straße schon begleitete, habe ich es verstanden. Als ich neun Jahre alt war, zog meine Familie von der wunderschönen Insel Föhr nach Hamburg-Altona. Das war ein krasser Wechsel für meinen ein Jahr jüngeren Bruder und mich – vom Kinderzimmer mit Meeresblick in die Großstadt, wo Alkohol und Gewalt uns jeden Tag begegneten. Im selben Jahr wurde bei meinem Bruder Krebs diagnostiziert und meine Mutter bekam Zwillinge. Plötzlich flog ich noch einmal aus dem Nest: Mein Bruder musste etliche Operationen und Krankenhausaufenthalte erdulden. Meine Eltern mussten die kleinen Zwillinge versorgen und das todkranke Kind, an dessen Bett sie auch nachts abwechselnd wachten. Diese extreme Belastung zog sich über die achtzehn Monate hin, in denen mein Bruder noch lebte – dann starb er bei uns im Wohnzimmer. Er war gerade zehn Jahre alt geworden, ich war elf. Jetzt klafften Trauer und Leere neben und in mir – und die Fremde. Alles war fort: die schöne Kindheit auf der Insel, die Freunde, der Bruder und die Eltern waren anderweitig beschäftigt. Ich: allein.

Und so trieb ich mich mehr und mehr auf der Straße herum. Es tat mir gut, in diesem Arbeiterviertel bei Menschen zu sein, die zufrieden wirkten. Ich spürte bei ihnen etwas Heiles, das mir verloren gegangen war. Und wo sie versehrt und allein, müde und vom Leben gezeichnet wirkten, auch da waren sie mir nah – sie trösteten mein Herz. Ich wusste damals nicht, warum ich ständig herumstromerte. Eines Abends, als mich wieder Trauer, riesige Sehnsucht und Einsamkeit aus dem Haus trieben, fand ich eine Fensterscheibe unter einer S-Bahn Brücke: „Teestube“ stand darauf. Es war einladend und kostete nichts. Ich fand Menschen, die mir wohltaten – von dort aus fand ich zum Jesus-Center am Schulterblatt, das von Baptisten geleitet wurde. Dieser Ort wurde mir Heimat. Ich vertiefte mein Beten, meine Beziehung zu Gott, engagierte mich auf „Straßeneinsätzen“. Ich war mit Abstand die Jüngste und durfte noch nicht einmal ohne Begleitung in die Discos, aber ich predigte am Hauptbahnhof, wenn wir Junkies, weggelaufene Jugendliche und Obdachlose einluden in unsere Teestube. Diese Erfahrung hat meine Spiritualität tief geprägt. Ich habe erfahren, dass Gott „unten“ wohnt. Ich habe Ihn gefunden und er mich, wo eigentlich nichts mehr zu suchen war; auf dem Grund des Lebensbodens, in meiner verzweifelten Suche: in meiner eigenen Versehrtheit und den Menschen auf der Straße. Als ich gut dreißig Jahre alt war, starb nach einer strapaziösen Schwangerschaft mein viertes Kind. Wieder wurde ich in tieferen Glauben geführt: Ich wollte da sein vor Gott, nicht sprechen, nicht singen oder beten – nur sein. Ich suchte die Stille. Nach einsamer Suche führte mich mein Weg ins Exerzitienhaus Gries in Oberfranken zu kontemplativen Exerzitien. Es ging um das einfache Dasein vor Gott, darum, mich Ihm, Seiner liebenden Gegenwart einfach zu überlassen; in die Einheit zu finden, die Einheit der Liebe, die in allem anwesend ist. Raus aus der Dualität, dem Hell und Dunkel, dem Gut und Böse, dem Leben und dem Tod. Ihn, Seine Liebe zu suchen und finden in allem.

Als ich 2003 bei Franz Jalics SJ an einer Arbeitswoche in Gries teilnahm, erzählte ein Teilnehmer von Exerzitien auf der Straße, die er begleitet hatte. Seitdem bin ich damit unterwegs. So wie ich Gott erst unbewusst auf der Straße und dann in der ausgerichteten Stille lieben lernte und gefunden wurde, so begegnet Gott mir jetzt mehr und mehr in allem: in meinem Inneren, in meinem Gegenüber, in der Freude und im Widerständigen. „Ich bin da!“ ist Sein und Ihr Name. Auf der Straße finde ich Gottes Versehrtheit, das Leben in der Wirklichkeit, in die ich mich hineinbegeben kann, ohne Sicherheitsgurt. Ich erlebe dieses Finden als Befreiung und als zum Leben hin heilsam, und es ist mir eine große Freude, ein Geschenk, andere auf diesem Weg zu begleiten.

Josef Freise

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