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Vorwort

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Der Bedarf an Psychotherapie für Kinder und Jugendliche ist in den letzten Jahren enorm angestiegen, die gesellschaftlichen Bedingungen von Kindheit und Jugend haben sich weitgehend verändert. Fünfzehn bis zwanzig Prozent der Kinder und Jugendlichen leiden laut des Österreichischen Bundesverbandes für Psychotherapie (2009) an psychischen Erkrankungen. Die Anzahl an Einrichtungen für Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie muss, um die Versorgung sichern zu können, dringend erhöht werden, ebenso die Anzahl an Psychotherapieplätzen bei niedergelassenen Spezialistinnen1 für diese Altersgruppe.

Psychotherapeutinnen jeglicher Methodenzugehörigkeit, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, sind ausgebucht, die Wartelisten sind lang, Eltern und Pädagoginnen oftmals verzweifelt. Daher lässt sich der berufliche Einsatz bis an die Grenzen der Belastbarkeit als Erklärung für die noch geringe Zahl von wissenschaftlichen Arbeiten im Bereich der Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen verstehen.

Umso dankbarer sind wir denjenigen Autorinnen, die einen Artikel für diesen Band verfasst haben und uns hiermit Einblick in ihre Arbeit gewähren und einen Beitrag zum aktuellen Diskurs leisten.

Der lang geübte Vorwurf, Gestalttherapie im Allgemeinen und Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen im Besonderen seien nicht eben theoriefreundlich, ist bei genauer Betrachtung und Vertiefung in die vorliegenden Texte nicht haltbar. Gerade in den letzten Jahren sind wichtige Schritte zu einer fundierten Weiterentwicklung der Gestalttherapie-Theorie erfolgt. (Fuhr et al. 2001; Hartmann-Kottek 2004; Spagnuolo-Lobb/Amendt-Lyon 2006)

Auch für die Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen gibt es eine Reihe von Publikationen. Violet Oaklander gilt als die Pionierin der Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen. Ihr Buch Windows To Our Children erschien seit der Erstveröffentlichung 1978 in bisher 15 Auflagen, es wurde in mindestens acht Sprachen übersetzt, darunter 2009 ins Deutsche unter dem Titel Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen (Wintsch 1998). Dieses Werk wurde zu einem Klassiker in der Gestalttherapie-Literatur. Der durchschlagende Erfolg des Buches führte dazu, dass Violet Oaklander weltweit zu Seminaren eingeladen wurde, um ihre spezielle Form der Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen vorzustellen. Dies trug auch wesentlich zur Verbreitung der Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen bei. Mehr als drei Jahrzehnte führte sie in Santa Barbara/Kalifornien zweiwöchige Trainingsprogramme durch. Peter Mortola begleitete diese Trainings zehn Jahre lang und legte 2006 ein Praxisbuch zum Violet-Oaklander-Training vor (dt. Mortola 2011). 2006 erschien mit Hidden treasure. A map to the child’s inner self (dt. 2009: Verborgene Schätze heben. Wege in die innere Welt von Kindern und Jugendlichen) ein weiteres fundamentales Buch von Violet Oaklander. Es ist die Quintessenz ihrer gestalttherapeutischen Tätigkeit, ein praxisnahes Buch, das aber auch wichtige Beiträge zur Weiterentwicklung der Gestalttherapie-Theorie beinhaltet. 2001 erschien im Anschluss an eine gestalttherapeutische Tagung »The heart of development«, ein zweibändiges Werk, in dem die Herausgeber Gordon Wheeler und Marc McConville die Tagungsbeiträge, den Lebensaltern Kindheit und Jugend zugeordnet, zusammenfassen. Violet Oaklander lieferte das Vorwort und einen Textbeitrag. Schon 1995 hatte Marc McConville sein Buch Adolescence publiziert. Im englischsprachigen Raum erschienen darüber hinaus Arbeiten von Mortola (2001), Lambert (2003), Blom (2004), Fernandes, Cardoso-Zinker et al. (2006) und McConville (2007). Im deutschsprachigen Raum erschien 1990 Salonias (übersetzter) Beitrag zur Entwicklungsperspektive in der Gestalttherapie. 1997 wurden unabhängig voneinander zwei Bücher zur gestalttherapeutischen Gruppenarbeit mit Kindern präsentiert (Franck 1997; Rahm 1997). 1999 erschienen zwei Texte von Alain Badier und Felicitas Carroll im Handbuch der Gestalttherapie (Fuhr et al. 1999). 2002 legten Ingeborg und Volkmar Baulig ihre Praxis der Kindergestalttherapie vor, das erste gestalttherapeutische Grundlagenbuch im deutschsprachigen Raum, mit einem Einführungstext von Gordon Wheeler. 2006 erschienen (übersetzte) Beiträge von Ruella Frank und Sandra Cardoso-Zinker.

Alle im vorliegenden Band vertretenen Autorinnen arbeiten seit vielen Jahren sowohl in Institutionen als auch in eigener Praxis mit Kindern und Jugendlichen und zeigen sich in ihren Texten mit einem reichen praktischen Erfahrungsschatz sowie umfassender theoretischer Fundierung. Ihr breiter Gestalthintergrund wird in ihrer dialogischen Haltung, Beziehungsgestaltung, deren Reflexion sowie daraus resultierender Theorieentwicklung deutlich sichtbar.

Der inhaltliche Bogen der Beiträge reicht von entwicklungstheoretischen Überlegungen über Fallgeschichten mit unterschiedlichen Altersgruppen bis hin zur anschaulichen Darstellung gestaltspezifischer Techniken in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, aus deren reichem Fundus hier berichtet wird.

Im ersten Teil des Bandes setzen sich Wolfgang Wirth und Nicolai Gruninger in umfassender Weise mit Gestaltliteratur vieler Jahrzehnte auseinander und extrahieren daraus entwicklungstheoretische Ansätze. Während Wirth mithilfe einer großen Fülle an Literaturmaterial einen Anstoß zur Suche nach eigenem Verständnis von Entwicklung gibt, stellt Gruninger in seinem Überblick eine Verbindung zwischen allgemeiner psychologischer Entwicklungstheorie und Ansätzen einer gestaltspezifischen Entwicklungstheorie her.

Agnes Salomon stellt das psychoanalytische Phasenmodell und die Piaget’schen Entwicklungsstufen in Beziehung zum gestalttherapeutischen Entwicklungskonzept sowohl der beiden Perls’ als auch jüngerer Arbeiten von Oaklander, Wheeler und McConville. Vor diesem Hintergrund stellt sie ihre Arbeit mit Säuglingen, Kleinkindern und deren Eltern dar.

Mit den veränderten Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren und damit, welche Auswirkungen dies auf ihre Entwicklung hat, befasst sich Thomas Schön in seinem Text. Er hält ein Plädoyer für Kindheit als zu schützenden Raum mit spezifischer Erlebens- und Ausdrucksweise und die Bedeutung dessen für die psychische Entwicklung.

Marc McConville stellt in seinem Beitrag das Lebensalter der Adoleszenz vor dem Hintergrund von Lewins Feldtheorie dar. Damit leitet er zum zweiten Teil des Bandes über, in dem die Umwelt-Feld-Perspektive beleuchtet wird.

Die Gestalttherapeutin Elke Rehm gibt gemeinsam mit dem systemischen Familientherapeuten Alain Schmitt einen umfassenden Literaturüberblick zur Settinggestaltung, reich illustriert durch Fallbeispiele.

Diese Illustration erfährt in einem zweiten Text eine Vertiefung, in dem Rehm die Psychotherapie mit einem ängstlichen Buben und seiner Familie vorstellt.

Von umfangreicher Literaturrecherche ausgehend reflektiert Manon Hansen die Bedeutung von Setting und Elternarbeit für den psychotherapeutischen Prozess mit einer Mutter mit Migrationshintergrund.

Barbara Mayer schildert in berührender Weise die herausragende Support-Funktion der Psychotherapeutin in der Arbeit mit einer Jugendlichen, die den Alltagsbelastungen durch einen psychisch kranken Elternteil ausgesetzt ist.

Im dritten Teil des Bandes kommen die Themen Trauma, Gewalt und Sucht zur Sprache.

Wolfgang Wirth widmet sich in seinem Grundlagentext der gestalttherapeutischen Behandlung von traumatisierten Kindern und Jugendlichen.

Dieter Bongers schaut mit »loving eyes« auf gewaltbereite Jugendliche und beweist, wie viel Veränderung und Entwicklung durch das Eingehen einer engagierten Beziehung auch bei dieser schwierigen Klientel möglich ist.

Gerhard Hintenberger, Gestalt- und Integrativer Therapeut, erweitert den Bereich der aktuellen Themen um einen höchst informativen Beitrag über exzessives Computerspielen von Jugendlichen.

Im vierten und letzten Teil über spezifische gestalttherapeutische Techniken findet sich der Text von Hanna Fak, der die enorme Bedeutung der dialogischen Beziehung auch im psychotherapeutischen Spiel hervorhebt.

Weiters haben Volkmar und Inge Baulig 2006 den Kinderwelttest entwickelt, ein diagnostisches Verfahren, das – aus gestalttherapeutischer Arbeit heraus entstanden – von Volkmar Baulig in seinem Textbeitrag ausführlich erläutert wird.

Alain Schmitt erweitert die systemische Technik der Arbeit mit dem Familienbrett durch den Einsatz von Fingerpuppen zur Erlebnisaktivierung und Unterstützung des Ausdrucks von Kindern und Jugendlichen.

Im abschließenden Text von Rudolf Liedl finden wir die ausführliche Beschreibung des gestalttherapeutischen Sandspiels, das als Weiterentwicklung verschiedener bekannter Ansätze präsentiert und anhand lebendiger Fallbeispiele illustriert wird.

Dieser Überblick verdeutlicht den breiten Rahmen, innerhalb dessen Gestalttherapeutinnen sich mit Kindern und Jugendlichen befassen und eine eigenständige Spezialisierung entwickelt haben. Diese Spezialistinnen entlasten Eltern und Pädagoginnen und arbeiten oft in Helferteams zur Unterstützung der Entwicklungs- und Genesungsprozesse betroffener Familien und größerer Systeme.

Gerade in Zeiten, in denen der Individualismus (Wheeler 2006) und die Vereinzelung von Kindern und Jugendlichen kritisiert werden, liegt eine wichtige gesellschaftspolitische Antwort in der Förderung von Verbundenheit und Zugehörigkeit (Polster 2009). Diese muss erlernt und geübt werden. Gerade wenn Eltern und Lehrerinnen an ihre Grenzen stoßen, brauchen wir noch mehr Psychotherapeutinnen für die Kinder und Jugendlichen.

Die Gestalttherapie war ursprünglich vor allem eine Gruppentherapie, somit liegt es nahe, an diese Tradition anzuknüpfen und auch für Kinder und Jugendliche mehr entsprechende Angebote zu schaffen. Die flächen- und bedarfsdeckende psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen wie auch die Erwachsener lässt jedoch noch zu wünschen übrig.

Wir wünschen uns, dass die vorliegenden Texte orientieren, inspirieren und motivieren mögen, die Theorieentwicklung in der Gestalttherapie weiter voran zu treiben. Und auch, dass möglichst viele Kolleginnen die eine gestalttherapeutische Weiterbildung absolvieren,2 sich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu widmen und so dazu beitragen, die benötigte Grundversorgung mit zu sichern.

Mit Bedauern mussten wir zur Kenntnis nehmen, dass wir zum Thema Sexualität und zu Gender keine Texte bekommen konnten.

Wir danken allen Autorinnen von ganzem Herzen.

Heide Anger / Thomas Schön

Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen

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