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5. Medikamente als Unterstützung auf der Reise

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Es hat sich für uns als nützlich erwiesen, die Einnahme von Medikamenten in einer Psychotherapie durch eine Metapher zu beschreiben. Dabei sollte jede TherapeutIn ihre eigenen Metaphern finden, die als kognitive Landkarten dienen. Eine TherapeutIn kann sich z. B. vorstellen, dass die Medikamente die Funktion einer Jacke im Winter haben. Manche Menschen brauchen nur eine dünne Jacke, andere brauchen eine viel dickere und manche gar keine. Manche Menschen können den Winter ohne eine Jacke nicht überleben, für andere wiederum reicht es, sich eine Jacke um die Hüften zu binden und sie dabeizuhaben.

Wir möchten unseren LeserInnen gerne noch von einer weiteren Metapher erzählen, die uns in unserer Praxis dient. Es ist eine Metapher, in der die Psychotherapie als eine Reise beschrieben wird: Die PatientIn ist auf dem Weg und die TherapeutIn begleitet sie. Wenn die Beine der PatientIn sie nicht gut tragen können, braucht sie Krücken. Diese Rolle übernehmen die Medikamente. So kann zum Beispiel ein Antidepressivum einen Menschen in einer tiefen Depression aufrichten, so dass er weiter nach dem Weg suchen kann. Die Medikamente zeigen nicht den Weg, aber sie erleichtern das Gehen, während man danach sucht. Dies ist eine mögliche Betrachtungsweise der Kombination von Psychopharmaka und Psychotherapie. Medikamente können der PatientIn als Krücke dienen und Psychotherapie als eine Heilgymnastik.10

Eine Krücke kann einen Menschen, der unfähig ist, ohne Hilfe von außen zu gehen, als behindert kennzeichnen. Wir können die Krücken auch als etwas ansehen, was dem Menschen hilft, sein Bewegungspotenzial auszuschöpfen. Hier zeigt sich eine wichtige Verschiebung von Gedanken: Die Krücke bedeutet nicht nur, dass die PatientIn behindert ist, dass die PatientIn hinkt, sondern auch, dass ihre Möglichkeiten mit Krücke größer sind als ohne. Die Krücke ermöglicht es der PatientIn, ihr Potenzial zu nutzen – sie kann arbeiten gehen, shoppen gehen usw. Wenn die PsychotherapeutIn nicht mit den Medikamenten konkurrieren will, muss sie zu dieser Art der Verschiebung von Gedanken in der Lage sein und Medikamente als Unterstützung von außen betrachten, die es der PatientIn ermöglichen, ihr Potenzial umzusetzen, was ohne die Krücke nicht möglich wäre.

Ähnlich verhält es sich mit anderen Arten der Unterstützung. Wenn eine PatientIn nicht genügend Selbstunterstützung hat, braucht sie Unterstützung von außen. Dies trifft nicht nur auf Medikamente zu, sondern auch auf einen strukturierteren und aktiveren Ansatz durch die TherapeutIn. Zu Beginn der Therapie braucht die PatientIn üblicherweise mehr Unterstützung von außen. Dann baut sie langsam ein größeres Vertrauen in ihre eigenen Ressourcen auf, um die äußeren Unterstützungsquellen auszugleichen. Besonders zu Beginn des psychotherapeutischen Prozesses können Medikamente eine wichtige stabilisierende Rolle in Fällen schwerer psychischer Probleme spielen. Dank ihrer biologischen Wirkung können sie die eigenen Kompetenzen der PatientIn stärken und das eigene Potenzial aktivieren. So können z. B. Antidepressiva einer depressiven PatientIn dabei helfen, Energie zu mobilisieren, aus der Isolation zu kommen und Beziehungen aufzubauen. Manchmal ist es dann möglich, die Medikation schrittweise zu reduzieren oder abzusetzen, doch die Kompetenz der PatientIn bleibt, wenn sie in der Psychotherapie integriert und gestärkt worden ist. Im Zuge der Psychotherapie ist es wichtig, dass die PatientIn die Tatsache akzeptieren kann, dass das Medikament ihr nichts Zusätzliches und Neues gibt, sondern dass es ihr dabei hilft, ihr eigenes Potenzial zu wecken.11

Die TherapeutIn und die PatientIn werden sich also nicht nur der Rolle bewusst, die die Medikamente im Leben der PatientIn und im psychotherapeutischen Prozess spielen, sondern sie entdecken auch die neuen Möglichkeiten, die sie für das Leben bringen, und welche Optionen sie in der psychotherapeutischen Arbeit erschließen. Die PatientIn erlebt zum Beispiel eine intensive Angst vor ihren eigenen aggressiven Tendenzen. Diese Angst lähmt sie so sehr, dass sie auch in der Therapie nicht fähig ist, darüber zu sprechen. Die einzige Möglichkeit, mit der Angst umzugehen, sind zwanghafte Rituale. Die Medikamente mildern die Angst, reduzieren sie, so dass sie nicht mehr den gesamten Horizont der PatientIn blockiert. Abgesehen von der Angst kann die PatientIn jetzt auch eine unterstützende TherapeutIn sehen, die ihr gegenübersitzt und zuhört.

Wir können Psychotherapie als Heilgymnastik betrachten. Wenn die PatientIn sich nur auf die Krücke stützt und keine Heilgymnastik macht, bereitet sie sich nicht darauf vor, ohne die Krücke zu gehen, muss sich auf sie verlassen und bleibt vielleicht behindert. Oder die PatientIn legt die Krücke nach einer Zeit weg, in der sie keine Heilgymnastik gemacht hat, hat dann aber größere Probleme mit dem Gehen, als sie mit angemessener Vorbereitung und Heilgymnastik gehabt hätte. Dank der Heilgymnastik kann die PatientIn ihren Körper neu kennen lernen, kann lernen, wie sie ihn gut behandelt, entwickelt vielleicht neue motorische Fähigkeiten und eine neue Beziehung zu ihrem Körper.

Die PatientIn kann zum Beispiel eine Depression nur mit Medikamenten bewältigen. Wenn sie zusätzlich dazu in einer Psychotherapie arbeitet, bewältigt sie nicht nur die aktuellen Probleme, die mit der Depression in Verbindung stehen. Dank der Psychotherapie erweitert sie das Spektrum ihrer Fähigkeiten. Sie lernt, die Warnzeichen einer drohenden Depression zu erkennen und damit umzugehen, sie lernt, sich Unterstützung von außen und von sich selbst zu holen und sie wird vielleicht die existenzielle Botschaft hören, die sich in ihrem depressiven Erleben verbirgt.

Als GestalttherapeutInnen konzentrieren wir uns in der Arbeit mit unseren PatientInnen darauf, das Spektrum der Fähigkeiten mittels Psychotherapie zu erweitern, auf dieselbe Weise wie Heilgymnastik die verbleibenden funktionierenden Muskeln unterstützt. Dieser Ansatz kommt in den Vordergrund unserer Arbeit. Gleichzeitig ist es notwendig, die Medikamente als Krücke für die PatientIn zu betrachten. In diesem Fall ist die medikamentöse Behandlung im Hintergrund unserer psychotherapeutischen Arbeit immer präsent.

Medikamente können unterschiedliche Rollen im Leben der PatientIn und im psychotherapeutischen Prozess spielen. Schematisch können wir zwei Funktionen von Medikamenten unterscheiden: eine vorübergehende Krücke oder eine permanente Prothese. Es handelt es sich um eine sehr vereinfachende Unterscheidung, doch sie ist nützlich als Grundorientierung für die TherapeutIn als grober Entwurf einer differenzierten psychotherapeutischen Arbeit, wenn der Einsatz von Medikamenten im Hintergrund präsent ist.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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