Читать книгу Pflege in der Epileptologie - Группа авторов - Страница 6
Оглавление
Einleitung – Krankheitsbewältigung und Pflege bei Epilepsie
Hermann-T. Steffen
Epilepsien1 zählen zu den häufigsten chronischen neurologischen Erkrankungen weltweit (WHO 2019). Auch wenn die Remissionsrate der Epilepsien mit 70 % geschätzt wird (Beghi et al. 2015) – und die Erkrankung somit eine günstige Prognose aufweist –, gehen sie nicht selten mit langjährigen Verläufen einher (Sillanpää 2016). Zudem ist ihnen eine spezifische Verlaufsdynamik zu eigen: Je nach Frequenz und Gestalt der Anfälle – als Symptom der Epilepsien – können sich stabile, instabile und akute Phasen ablösen, zeitweise kann die Symptomatik ganz zum Erliegen kommen, um dann wieder – langsam einschleichend oder abrupt – aufzuflammen (Bartolini & Sander 2019). Auch weisen sich Epilepsien durch ihre Komplexität aus, bedingt durch fallweise auftretende kognitive Störungen, psychiatrische Komorbidität und psychosozialen Folgen (Helmstaedter 2012; Schmitz 2012). So können sich die Auswirkungen der Erkrankung nicht allein in Schule, Ausbildung und Beruf zeigen, gleichermaßen machen sie ihren Einfluss in der Gestaltung sozialer Kontakte geltend (Specht & Thorbecke 2010). Denn der Erkrankung haftet mithin ein Stigma an, das seinen Schatten auf das Selbstbild und auf die soziale Teilhabe von Menschen mit Epilepsie wirft und damit auf die Lebensqualität nachhaltigen Einfluss nehmen kann (Fiest et al. 2014). Die Folgen einer Epilepsie treffen jedoch nicht die Kranken allein, immer sind es ihre Familien, die zahlreichen alltags- und krankheitsbezogenen Anforderungen begegnen müssen (Steffen 2015). Dementsprechend zeigt sich der Gesundheitsstatus von Angehörigen Epilepsieerkrankter vielfach niedrig, derweil ihre ökonomischen, zeitlichen, emotionalen und sozialen Belastungen vergleichsweise hoch ausfallen (van Andel et al. 2009).
Die Bewältigungsarbeit von Menschen mit Epilepsie nimmt ihren Auftakt bereits mit dem Auftreten erster Anfälle. Denn in der Resonanz einer – neuen – komplexen Lebenssituation stellen sich unmittelbar Fragen nach den biographischen Konsequenzen einer mit vielfacher Unsicherheit behafteten Erkrankung (Naess et al. 2009). So müssen epilepsiebedingte Einschränkungen erkannt, künftige Handlungsspielräume austariert und ein neuer Lebensplan entworfen werden. Auch muss das durch die Epilepsie irritierte Selbstkonzept nicht nur zu Beginn, sondern zuweilen fortlaufend angepasst und aktualisiert werden.
Nicht minder anspruchsvoll sind die Aufgaben des Krankheits(selbst-)managements: Um bei wiederkehrenden Anfällen einen gewissen Grad der Kontrolle gegenüber der Epilepsie zu erlangen, gilt es, Anfallsauslöser und -muster im Krankheitsverlauf zu erkennen und zu deuten. Gelingt dies nicht, mindert es die Überzeugung, die Erkrankung kontrollieren zu können und führt mithin zu Gefühlen des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit (Velissaris et al. 2007). Aber auch ein angemessener Umgang mit dem iktalen Geschehen selbst, das zuweilen bizarr und fremd anmutend jählings jegliche soziale Interaktion unterbrechen kann, muss gefunden werden. Denn epileptische Anfälle ereignen sich nicht immer im Privaten, zuweilen treten sie vor Publikum auf und werden so zu einem öffentlichen Ereignis. Fallweise – wenn der Anfall mit Bewusstseinseintrübung einhergeht – nehmen die Betroffenen das Ereignis einzig im »Spiegel der Umwelt« (Janz 1962, S. 1386) wahr, die sich nicht selten ängstlich, verstört und besorgt zeigt. Somit sind Menschen mit Epilepsie gefordert, sich nicht nur mit der eigenen Situation, sondern auch mit der vermeintlichen Wirkung auf die Zeugen des Anfallsgeschehens auseinandersetzen. Um nicht an sozialer Integrität einzubüßen, ist ein geeignetes Informations- und Stigma-Management unabdingbar. Menschen mit Epilepsie müssen beurteilen und entschieden, wen, zu welcher Zeit, in welcher Form und zu welchem Grad sie über ihre Erkrankung informieren (Elliott et al. 2019).
Aber auch die Handhabe des zuweilen komplexen Medikamentenregimes verlangt Menschen mit Epilepsie mannigfaltige Bewältigungsbemühungen ab. Denn nicht nur die Einnahmepraxis muss in die Routinen des Alltags eingebunden werden, mehr noch müssen sie ihre Haltung gegenüber der antiepileptischen Medikation entwickeln. Denn das Verhältnis von Menschen mit Epilepsie zu ihren Medikamenten ist keineswegs ungetrübt (Malek et al. 2017): Einerseits ermöglichen sie die Kontrolle über das Anfallsgeschehen und zeigen sich somit als Garant von Alltagsnormalität, andererseits bezeugen sie fortwährend die Gegenwart der Erkrankung. So erstaunt es nicht, dass die Wirksamkeit, aber auch die Notwendigkeit des medikamentösen Regimes zuweilen eigenverantwortlich überprüft wird (Conrad 1985).
Die alltagsbezogenen und biographischen Anpassungserfordernisse finden jedoch auch bei dauerhafter Anfallsfreiheit kein Ende. Vielmehr sehen sich die Erkrankten vor die Aufgabe gestellt, von der Rolle als »Kranker« in die Rolle als »Gesunder« zu wechseln (Wilson et al. 2007). Nicht selten antworten die Betroffenen mit sozialem Rückzug, aus Angst den potenziellen Erwartungen des Umfelds nicht zu entsprechen, oder mit einer übersteigerten sozialen Aktivität, aus dem Wunsch heraus, die verpassten Möglichkeiten nachzuholen. Jedoch haben nicht nur die Betroffenen diese Adaptionsleistung zu erbringen, insbesondere die Familien und das soziale Umfeld hat sich in der Bewältigung der neuen Situation zu bewähren, indem es die Bemühungen anerkennt, unterstützt und fördert, mehr noch die erforderliche Anpassung selbst vornimmt (Wilson et al. 2005). Nicht selten stellen sich Probleme ein, wenn die Betroffenen das Gefühl haben, dass Angehörige, Freunde und Arbeitskollegen sie weiterhin in der Rolle als Kranker ansprechen, sie dadurch nicht den Entwicklungsmöglichkeiten nachkommen können und sich in ihrer biographischen Transition gehindert sehen. Angesichts der zahlreichen und vielschichtigen Aufgaben, die sich Menschen mit Epilepsie und deren Angehörige im Krankheits(selbst-)management stellen, wundert es nicht, dass Belastungen zeitweise überborden, Anpassungsstrategien aus dem Kurs geraten und die Bewältigungsbemühungen gar ganz zum Erliegen kommen können.
Um die Lebensqualität und Autonomie in der Lebenspraxis von Menschen mit Epilepsie zu befördern, wird deutlich, dass die Unterstützung der Bewältigungsarbeit als prioritäre Aufgabe epileptologischer Pflege verstanden werden muss. Dreh- und Angelpunkt bilden hier – neben den klinisch pflegerischen Aufgaben – vor allem kommunikative Pflegeinterventionen der Information, Aufklärung, Beratung, Edukation und Anleitung. Eingebettet in den dynamischen Pflegeprozess sollten diese Maßnahmen so geformt und organisiert sein, dass sie die je spezifischen Lebensweltbezüge aufnehmen und der verlaufsbezogenen Entwicklung der Erkrankung begegnen. Zu Beginn steht ein umfassendes, mehrdimensionales Assessment, das ermöglicht, den Stand der Krankheitsbewältigung von Menschen mit Epilepsie zu bestimmen, potenzielle Blockaden zu identifizieren, Lebensvorstellungen zu ergründen, Ressourcen zu erkennen und Optimierungspotenziale zu benennen. Auf dieser Grundlage lassen sich alsdann in einem partizipativen Prozess individuelle Ziele definieren und passende Interventionsstrategien ableiten. Für die Interventionen gilt es, eine flexible, individualisierte Form zu finden, um Veränderungen im Krankheitsverlauf, biographischen Neuausrichtungen und alltagsbezogenen Anpassungserfordernissen begegnen zu können. Die Wirksamkeit und Qualität der Interventionen zu kontrollieren, den jeweiligen Zielerreichungsgrad zu bestimmen und nötigenfalls Anpassungen vorzunehmen, ist ebenso Aufgabe der pflegerischen Praxis bei Epilepsie, wie den Erfolg der Maßnahmen abschließend zu bewerten.
Um das Themen- und Aufgabenspektrum in der Pflege von Menschen mit Epilepsie zu entfalten, sind die Kapitel im vorliegenden Buch zielgruppen- aber auch behandlungsbezogen gegliedert. Einleitend werden das Krankheitsbild und Behandlungsaspekte der Epilepsien vorgestellt. Es folgt eine Einführung in die Anfallsbeobachtung und Erste Hilfe bei Anfallsereignissen. Den Anforderungen und Interventionen in der Pflege von Menschen mit Epilepsien in bestimmten Lebensphasen (Kinder, junge Erwachsene, Erwachsene im mittleren und höheren Lebensalter), Komorbidität (komplexe Behinderung) und in besonderen Pflegesettings (Psychosomatik, Epilepsiechirurgie, Rehabilitation) gilt die Aufmerksamkeit der folgenden Kapitel. Abschließend wird der Fokus auf die methodischen und krankheitsbezogenen Aspekte der pflegerischen Epilepsieberatung gelenkt.
Literatur
Bartolini E, Sander JW (2019) Dealing with the storm: An overview of seizure precipitants and spontaneous seizure worsening in drug-resistant epilepsy, Epilepsy & Behavior, 97, S. 212–218
Beghi E, Giussani G, Sander JW (2015) The natural history and prognosis of epilepsy, Epileptic Disorders, 17(3), S. 243–253
Conrad P (1985) The meaning of medications: Another look at compliance, Social Science & Medicine 20, S. 29–37
Elliott N, Pembroke S, Quirke M et al. (2019) Disclosure strategies in adults with epilepsy when telling, »I have epilepsy«: The How2tell study, Epilepsia, 60(10), S. 2048–2059
Fiest KM, Birbeck GL, Jacoby A et al. (2014) Stigma in epilepsy, Current neurology and neuroscience reports, 14(5), S. 444
Helmstaedter C (2012) Kognitive Defizite bei unbehandelten Patienten mit neu diagnostizierter Epilepsie, Z. Epileptol., 25(4), S. 273–277
Janz D (1962) Epilepsie-Ambulanz als Institution, Deutsche Medizinische Wochenzeitschrift 87, S. 1385–1387
Malek N, Heath CA, Greene J (2017) A review of medication adherence in people with epilepsy, Acta Neurologica Scandinavica, 135(5), S. 507–515
Naess S, Eriksen J, Tambs, K (2009) Perceived change in life satisfaction following epilepsy diagnosis, Scand J Public Health 37(6), S. 627–631
Schmitz B (2012) Psychiatrische Aspekte bei Epilepsien, Der Nervenarzt 83(2), S. 205–208
Sillanpää M (2016) Natural course of treated epilepsy and medico-social outcomes. Turku studies. Part II, Journal of Epileptology, 24(1), S. 25–39
Specht U, Thorbecke R (2010) Epilepsien. In: Frommelt P, Lösslein H (Hrsg.) NeuroRehabilitation. Berlin, Heidelberg: Springer. S. 739–756
Steffen HT (2015) Epilepsie und Familie – Familialer Umgang mit chronischer Krankheit und Krankenrolle. Bielefeld: Universität Bielefeld
Velissaris SL, Wilson SJ, Saling MM et al. (2007) The psychological impact of a newly diagnosed seizure: losing and restoring perceived control, Epilepsy & Behavior, 10(2), S. 223–233
Wilson SJ, Bladin PF, Saling MM et al. (2005) Characterising psychosocial outcome trajectories following seizure surgery, Epilepsy & Behavior 6, S. 570–580
Wilson SJ, Bladin PF, Saling MM (2007) The burden of normality: a framework for rehabilitation after epilepsy surgery, Epilepsia 48, Suppl 9, S. 13–16
World Health Organization (Hrsg.) (2019) Epilepsy: a public health imperative: summary (No. WHO/MSD/MER/19.2), World Health Organization
1 Mit dem Plural »Epilepsien« wird in der medizinischen Klassifikationsterminologie der Heterogenität epileptischer Anfälle, als Symptom der Erkrankung, Ausdruck verliehen.