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ARE YOU TOUGH ENOUGH?

TANJA KUMMER

Frauenfeld, 4. November 1990

Liebe Andrea

Wow, so cool, dass du so schnell zurückgeschrieben hast! Mit dir habe ich nun sieben Brieffreundinnen! Meine Mutter findet, dass das Porto langsam teuer wird, haha. Vielen Dank für die Poster von BROS, die sind einfach der Hammer! Cool, dass dein Vater Heftli aus London mitbringt, die sind sicher besser als das Bravo. Ich möchte unbedingt einmal nach London, nur schon wegen den Klamotten! Ich schicke dir Kleber von Limahl, ich hoffe, du hast sie noch nicht. Ich finde Limahl auch süss, aber mein Liebling ist natürlich MATT von BROS. Und Limahl gehört sowieso dir!

Zu deinen Fragen: Ich finde es spitze, dass wir uns jeden Tag schreiben. Ich bin immer am Abend in meinem Zimmer und schreibe. Ich habe jetzt neue Räucherstäbchen: Vanille. Wenn ich schreibe, höre ich Kuschelrock. Hast du auch Kuschelrock und wenn ja, welche? Eine meiner Brieffreundinnen kenne ich aus dem Heftli Fix & Foxi, wir schreiben uns schon seit vier Jahren. Gabi und Nita habe ich in den Ferien kennengelernt, und die anderen Brieffreundinnen kenne ich wie dich aus dem Musenalpexpress. Liest du den MEX schon lange? Vielleicht hast du schon einmal ein Gedicht von mir gelesen, ich schicke oft Gedichte ein, und sie drucken sie.

Am Samstag werde ich dir nur kurz schreiben, denn am Abend gehen Madlen und ich in die Festhütte Rüegerholz (die heisst so, haha) an die Celebrations-Disco, yeah! Was soll ich nur anziehen?? Dann schreibe ich dir am Nachmittag, vermutlich nach Beverly Hills 90210. Schaust du auch? Wer gefällt dir am besten?

Nein, ich war noch nie in Chur. Ich glaube, wir sind mit dem Auto daran vorbeigefahren. Wir machen immer Skiferien in Graubünden. Was kann man in Chur so unternehmen? Habt ihr eine Disco? Warst du schon einmal in Frauenfeld? Es ist ein RIESENkaff!! Am liebsten gehe ich mit Madlen in Winterthur shoppen, dort ist immer etwas los. Und an der Marktgasse hat es einen Passfoto-Automaten.

Das Beste an Frauenfeld ist die Sek! Und die Molki, dort finden auch Discos statt.

Ich gehe in die 2C, das ist die beste Klasse der ganzen Sek, also nicht alle sind cool, aber die Jungs sind schwer in Ordnung. Unser Klassenlehrer ist Herr Lüthi, er unterrichtet Deutsch und Franz. Ich bin die Beste in Aufsatz. Welches ist dein Lieblingsfach? Wir haben aber auch Zicken in der Klasse – die stehen alle auf die New Kids On The Block. Und dann gibt es noch das Ross. Und es gibt Madlen. Madlen ist meine beste Freundin. Wir waren beide nicht von Anfang an in der Klasse, sie ist aus der Real in die Sek gekommen und ich war zuerst in der Kanti. Meine Noten waren aber nicht so gut. Meine Lehrerin Frau Kern sagte, ich könnte bleiben, wenn ich mehr lerne. Aber weisst du was? Lebe nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum! Ich bin 14! Da muss man das Leben doch geniessen! Wenn ich eine Lehre mache (ich will Journalistin werden, was willst du werden?), kann ich immer noch genug lernen. Mein Vater ist Buchhändler. Vielleicht schreibe ich darum so gerne, ich lese auch gerne, meine Eltern lieben Bücher! Ich bin oft in der Buchhandlung, sie ist an der Freiestrasse, gleich neben der Kirche, du musst unbedingt vorbeikommen, wenn du einmal in Frauenfeld bist. Meine Mutter schreibt auch gerne. Ich habe keine Geschwister und du? Ich schreibe am liebsten Briefe, aber auch Gedichte und Geschichten, was schreibst du?

Am letzten Schultag in der Kanti habe ich niemandem Tschüss gesagt. Aber das hat niemand gemerkt, alle haben über Frau Kern geredet und nicht über mich.

Frau Kern und ich hatten denselben Weg zum Schulhaus. Aber an diesem Tag ist ihr etwas passiert. Ich möchte dir nicht erzählen, was es ist, es ist schlimm und hat mit einem Fussgängerstreifen zu tun.

Vielleicht habe ich gespürt, dass ich in der Sek Madlen kennenlerne und wir beste Freundinnen werden, darum ist es mir auch nicht schwer gefallen, in die Sek zu wechseln. Als ich zum ersten Mal in die Sek ging, hatte ich Jeans mit Rissen (ganzer Oberschenkel) und eines der karierten Hemden meines Vaters an und die Haare mit Gel aufgestellt. Herr Lüthi (wir sagen ihm «der Lüthi») hat mich abgeholt und ins Schulzimmer gebracht. Auf dem Weg hat er gesagt, er habe in meinem Zeugnis gesehen, wie gut ich in Aufsatz bin. Und dass in der 2C niemand so richtig talentiert sei, wenn es ums Schreiben gehe. Er hat die Türe vom Schulzimmer aufgemacht und ich habe – zack – als Erstes Madlen angeguckt. Sie ist das schönste Girl der Welt. Total dünn, sie hat tolle Kleider, lange blonde Haare und natürlich eine Dauerwelle! Und blaue Augen. Ich habe sie gesehen und gedacht: Die möchte ich als beste Freundin. Der Lüthi hat mich sogar neben sie gesetzt und gesagt:

«Madlen ist unser Klassenclown. Es tut ihr gut, wenn jemand Gescheites neben ihr sitzt.»

Madlen hat die Augen verdreht. Wir haben Hoi gesagt, aber sonst nicht geredet, wir hatten Französisch. Ich hasse Franz. Und Madlen ist nicht gut in der Schule. Den Lüthi kann sie nicht ausstehen. Und er sie nicht. Sie hat aufgestreckt und gesagt: «Herr Lüthi?»

«Ja, Madlen?»

«Ich würde das, was an der Tafel steht, ja gerne auf Französisch übersetzen, aber ich kann ihre Schrift nicht lesen.»

Ich konnte SEHEN, wie der Lüthi rot geworden ist, aber er ist halt ein Lehrer und cool geblieben.

«Dann müssen Sie sich eine Brille kaufen, Madlen», hat er gesagt und ist aus dem Zimmer gegangen. Alle haben geklatscht, als er draussen war und «Madlen! Madlen!» gerufen. Madlen hatte nur Augen für mich:

«Es wird nicht lange dauern, bis du den Lüthi auch hasst. Deinen Namen habe ich schon wieder vergessen.»

«Sonia.»

«Was ist deine Lieblingsband?»

«Bros!»

«Strike», hat sie gesagt. Sie steht nämlich auf A-ha. Und das sind auch drei schöne Boys, aber die drei schönsten sind BROS!

Madlen und ich sind uns sehr ähnlich. Ausser, wenn es um den Lüthi geht. Sie hasst ihn, ich finde ihn okay, aber das sage ich nur dir. Aber ich hasse, wie er mit Madlen umspringt. Heute ist der Lüthi nicht in die Schule gekommen. Wir hatten zwei Stunden frei! So, jetzt höre ich BROS! Dann packe ich für die Schule, dann muss ich morgen nicht packen. Früh aufstehen und packen ist voll ätzend!

Hey, machs gut! Ich schreibe dir morgen wieder!

Viele Grüsse

Sonia

Frauenfeld, 5. November 1990

Liebe Andrea

Wie geht es dir? Mir geht es gut. Ich bin aber müde, vielleicht wird es nicht so ein langer Brief.

Heute haben wir das Ross ins WC gesperrt. Ich meine, wer Beine hat wie ein Haflinger, muss auch viel Wasser trinken. Und wo gibt es das? Klaro, im WC! Madlen hat das Ross ins WC geschoben und ich habe die Türe zugemacht und Madlen hat abgeschlossen. Dann sind wir vor der Türe Wache gestanden, damit in der Pause niemand ins WC geht. Wir haben gesagt, dass es verstopft ist. Dann hat es geläutet. Als wir wieder am Pult sassen, hat Madlen den Schlüssel aufs Pult gelegt.

Das war so krass, denn Etter ist ins Schulzimmer gekommen! Herr Etter ist unser Hausabwart. Was ich dir jetzt schreibe, darfst du niemandem erzählen: Madlen hat seinen Schlüssel gestohlen, der Schlüssel, der für jede Türe im Schulhaus geht. Herr Etter wohnt neben der Sek, und als im Sommer seine Balkontüre offen war, ist Madlen in seine Wohnung geklettert und hat den Schlüssel geholt. Sie hat so viel Mut!

Als der Etter ins Schulzimmer gekommen ist, dachte ich, es geht um das Ross. Aber er hat nur gesagt, dass der Lüthi auch heute nicht in die Schule kommt. Wir haben natürlich geklatscht, und dann sind wir zum Beck. Dort haben wir Vanilleplunder gekauft und ich durfte die Bänder von Madlens Kasettli wieder aufdrehen, die Zicken haben sie ihr aus dem Turnsack geklaut und rausgerissen! Ich meine HALLO, das ist A-ha, das ist Madlens LEBEN! Ich habe Madlen noch einen zweiten Vanilleplunder gekauft, und wir sind alle im Burstelpark gesessen, es war recht kalt, aber cool. Hast du schon einmal gekifft?

Die Zicken haben ihre Walkmans ausgepackt und LAUT ihre New Kids gesungen:

Just get on the floor and do the New Kids dance

don’t worry about nothing, cause it won’t take long,

we’re gonna put you in a trance with a funky song,

cause you gotta be

Hangin tough!

Hangin tough!

Hangin tough - are your tough enough?

Und dann dieses UNMÖGLICHE

oh oh oh oh oh!

oh oh oh oh oh!

Die New Kids sollte man einsperren, damit sie der Welt nicht noch mehr schaden, yeah! Das Ross ist später mit dem Velo über den Marktplatz gefahren, der Etter hat es also befreit.

Ich schreibe dir morgen wieder, jetzt bin ich müde und gehe ins Bett, dort höre ich noch DIE Stimme von meinem Matt!! I OWE YOU NOTHING!

Viele Grüsse

Sonia

Frauenfeld, 6. November 1990

Liebe Andrea

Der Lüthi ist immer noch nicht da! Das hat uns der Etter gesagt. «Der hat sicher Chinesische Zipfelgrippe!», hat Madlen gerufen, und alle haben gelacht! Sie haben uns eine neue Lehrerin geschickt, die hatte natürlich keine Chance! Es ist Fräulein Stark, die gibt sonst Englisch, aber nicht uns, sie hat gezittert, als der Etter sie reingebracht hat. Der 2C eilt der Ruf voraus! Sie wollte etwas sagen, aber die Jungs waren lauter! Madlen hat mich in den Oberarm gebissen (das macht sie immer, «das ist mein Liebesbiss», sagt sie) und dann gesagt: «Würden Frisbees auch fliegen, wenn sie viereckig wären?»

«Was?»

«Hör doch einfach mal richtig zu! Würden Frisbees auch fliegen, wenn sie viereckig wären?»

«Keine Ahnung. Aber wahrscheinlich nicht.»

«Wir probieren es jetzt.»

Und du glaubst es nicht! Madlen hat das Franzbuch genommen (es heisst «On y va», habt ihr auch «On y va»? Sagt ihr auch immer «allô, allô, c’est toi, Simone? Oui, c’est moi, ici René, René, ton cousin de Genève?»). Dann ist sie aufgestanden und zum Fenster und hat es aufgemacht.

«Madlen, was machen Sie?», hat Fräulein Stark gefragt und dann noch einmal «Was machen Sie?», und ihre Stimme hat sich überschlagen! Madlen hat nichts gesagt und hat das Franzbuch aus dem Fenster geschmissen! Sie hatte es so in der Hand, als würde sie einen Frisbee werfen. Die Zicken haben den Mund nicht mehr zugebracht, die Jungs sind aufgestanden und zum Fenster und ich bin auch dorthin, Madlen hat gerufen: «Wer trifft mit dem Buch den Brunnen?» und alle haben geschossen! Ich habe Madlen LEISE gesagt: «Aber einen Frisbee schmeisst man nicht irgendwo hin, der muss zurückkommen!»

Sie hat mir ganz fest in die Augen geschaut und meinen Arm genommen und zugedrückt. Sie hat lange Nägel und es hat angefangen zu bluten und sie hat gesagt:

«Halte deinen Mund.»

Du findest das jetzt vielleicht böse, aber ich erzähle dir gleich, warum Madlen das gemacht hat. Auf jeden Fall sind wir raus zum Brunnen (wir sind einfach an Fräulein Stark vorbeigelaufen!). Die Jungs sind in den Brunnen rein und haben die kaputten Bücher rumgeschmissen. Madlen hat mit mir eine Runde gedreht, wir haben eine Runde, die um die Wiese geht, in der Mitte ist die grosse Matte für den Hochsprung und eine 80-Meter-Bahn (ich bin die Schnellste auf 80 Meter!). Und da hat Madlen wieder meinen Arm genommen! «Zeig mal», hat sie gesagt und gekratzt, bis es wieder geblutet hat. Dann hat sie sich mit ihrem eigenen Fingernagel selber einen Schnitt in den Arm gemacht und dann haben wir unsere Arme aneinander gerieben und das Blut vermischt! «Blutschwestern für immer!», hat Madlen gesagt. Das gilt für immer!

Ich habe dir noch nicht erzählt, dass der Etter Madlen und mich am Morgen auf die Seite genommen hat, er hat wegen dem Ross gefragt und wo unsere gute Kinderstube geblieben sei. Dabei hat Madlen doch nicht einmal richtige Eltern, die Leute, bei denen sie wohnt, sind nicht ihre richtigen Eltern! Das ist so Scheisse (Entschuldigung! Aber das ist echt das einzige Wort, das passt!) vom Etter, wenn er dann mit Kinderstube kommt! Und jetzt müssen wir nächste Woche LAUB ZUSAMMENNEHMEN! Das werden wir noch sehen!

Hey, morgen ist schon Freitag, yeah! Noch einen Tag, bis ich Patric wiedersehe!! Von Patric habe ich dir noch gar nichts erzählt. Wir gehen im Moment nicht zusammen, aber wir waren für zwei Wochen ein Paar! Nur Madlen weiss es. Sie sagt aber, sie findet Patric doof, auf den stehen alle und wer weiss, was der so treibt. Ich glaube aber nicht, denn Patric hat ein gutes Herz! Und ich liebe ihn SO FEST! Er küsst so gut! Er sieht ein bisschen aus wie mein MATT, aber mit braunen Haaren und total schön! Patric hat nicht richtig Schluss gemacht. Er hat einen Brief geschrieben (er schreibt Briefe, ist das nicht süss?), dass er mehr Zeit mit seinen Kollegen verbringen will, das ist ja auch voll okay! Am Samstag in der Disco werde ich so gut aussehen, dass er mich wieder will!

Du wirst sehen, ich werde es dir schreiben!

Viele Grüsse

Sonia

Frauenfeld, 7. November 1990

Liebe Andrea

Ich habe dir ja gestern von Patric erzählt. Nun schreibe ich dir ein Gedicht auf, das ich für ihn geschrieben habe:

herbstzeit blätter blasen sturm

blasen bumm mein herz um

dreh mich um

sehe wieder dein gesicht

im herbstlicht

in allen farben

leuchtet mein Herz

leuchtet und sehnt sich nach etwas

was ich schon hatte

vorbei? nein!

(denn ich weiss, du kommst zurück)

Wie findest du es?

Hast du ein Lieblingsgedicht? Kannst du es mir einmal schicken?

Heute war wieder gähnende Leere im Schulzimmer, kein Lüthi weit und breit. Madlen ist aufs Sekretariat, ich bin mit. «Wir haben ein Recht auf Bildung!», sagte sie. Und Rektor Rupprecht sagte: «Es erstaunt mich, dass das ausgerechnet von Ihnen kommt, Frau Tivoli.» So fies! Alle wissen, wie schwer es Madlen hat, dass sie so viel lernen muss und dass der Lüthi immer gemein zu ihr ist. Der Lüthi mit seinen Jeans aus dem letzten Jahrhundert. Dann hat er Madlen verboten, mir Haarwraps zu drehen. Hihi, wie findest du das? Sie hat mir in der Schule während dem Franz Haarwraps gedreht! Sie musste sogar vor die Türe. In der Pause sagte sie: «Du bist der Liebling vom Lüthi. Wir haben das beide gemacht mit den Haarwraps, aber ich muss vor die Türe!», und dann hat sie mir einen Gingg gegeben, dass ich immer noch einen blauen Fleck habe. Doc Martens haben vorne ja Stahlkappen. Du findest das jetzt vielleicht brutal, aber ich kann Madlen total verstehen, sie hat es nicht leicht! Es ist gemein, dass der Lüthi zu mir so nett ist und zu ihr nicht.

Nachdem wir bei Rupprecht waren, kam er in die Klasse. Er sagte, er müsse uns aus pädagogischen Gründen (sind wir Kinder oder was?) die Wahrheit sagen, weil es bald in der Zeitung stehen würde. Andrea, du glaubst es nicht: Der Lüthi ist nicht krank, er ist verschwunden! Es geht eine grosse Suche los, und wir kriegen einen neuen Lehrer, der gerade vom Semi kommt. Madlen, ich und die Zicken sind uns ausnahmsweise einig: Auf den sind wir gespannt, smiley! Nachher sind wir gegangen, Madlen und ich haben im « Big » Kleider angeschaut, ich will unbedingt hohe Stiefel wie Pretty Woman! Zusammen haben wir einen Pulli gekauft, vorne steht pink «Hollywood» drauf, die Ärmel sind neongelb, yeah! Madlen darf den Pulli zuerst anziehen. Er steht ihr super. Sie ist so schön, sie könnte gut Model werden! Sie ist die Schönste und Beste, alle bewundern sie. Sogar die aus der 3ten, die Jungs, die 16 sind, stehen auf sie. Und ich bin ihre beste Freundin – das heisst, die Jungs finden mich jetzt auch cool. Madlen und ich haben best-friends-Anhänger, jede hat ein halbes Herz! Ich möchte, dass sie für immer und ewig meine Freundin bleibt. Darum habe ich ihr nicht erzählt, was mir der Lüthi letzte Woche gesagt hat. Ich erzähle es nur dir (und vielleicht den anderen Brieffreundinnen).

Wir haben Aufsätze zurückgekriegt. Und ich war mal wieder die Beste. Wenn du mich jetzt sehen würdest, ich verdrehe die Augen! Ich finde das nicht cool! Es ist nicht einfach, immer die Beste zu sein, weil die andern blöd tun! Auf jeden Fall hat der Lüthi gesagt, ich solle in der Pause noch schnell dableiben, (da hat Madlen die Augen verdreht! Ich habe ihr nachher erzählt, er habe mir gesagt, dass ich schon genau so auffalle wie sie und mir Mühe geben solle. Das fand Madlen super.) Und dann hat er gesagt, er hat noch nie jemand mit solchem Talent und Fantasie in der Klasse gehabt wie mich. Und mir einen Zettel gegeben mit einem Schreibwettbewerb für junge Leute. Man muss eine Reportage schreiben, eine Geschichte über etwas. Er sagte, ich solle mitmachen. «Worüber soll ich denn schreiben?», habe ich gefragt.

«Hast du vielleicht einmal ein Abenteuer erlebt? Oder warst du mit deinen Eltern an einem besonderen Ort in den Ferien?»

Ja, ich habe Abenteuer erlebt! Und zwar rund um das Reservoir, neben dem wir wohnen. Dort habe ich Skifahren gelernt. Und einmal habe ich einen Drachen steigen lassen, der sich in einem Baum verfangen hat, der am Rand des Reservoirs ist. Die Schnüre sieht man immer noch in den Ästen. Leider musste ich immer alleine spielen, als ich klein war, ich hatte nie Freunde. Aber ich hatte schon immer Brieffreundinnen! Und jetzt habe ich MADLEN!

Morgen ist Disco und ich sehe Patric! Welcher Boy gefällt dir am besten? Auf Weihnachten wünsche ich mir eine Lava-Lampe, damit ich schönes Licht habe, wenn ich dir schreibe! Hast du eine Lava-Lampe?

BROS, A-HA und LIMAHL FOREVER!!!

Viele Grüsse

Sonia

Frauenfeld, 8. November 1990

Liebe Andrea

Es ist Morgen am Samstag, ich fange schon mal an zu schreiben, weil ich auf das Telefon von Madlen warte, die mir sagt, was ich anziehen soll. Ich bin SO nervös! Ich wollte dir vom Reservoir erzählen. Es heisst Obstgarten und ist am Ende von Frauenfeld, zwischen unserem Haus und dem Spital. Das Spital ist ein riesiger weisser Block, und ich bin dort zur Welt gekommen. Das Reservoir ist ein riesengrosser Raum. Eigentlich wie ein Hallenbad, aber unterirdisch und ohne Fenster, und man kann dort natürlich nicht schwimmen, das Wasser ist zum Trinken da. Ihr habt bestimmt auch ein Reservoir in Chur. Reservoirs sind immer im Boden oder in einem Hügel. Wie bei uns, ich habe dort eben Skifahren gelernt. Mein Schulweg führte auch über diesen Hügel. Einmal hat mir mein Vater einen Dolendeckel gezeigt (er ist mitten im Gras, mir ist er nie aufgefallen) und hat mir erzählt, dass darunter ein altes Reservoir sei. Ich habe nicht gewusst, dass es zwei Reservoirs sind, die nebeneinander sind! Eines ist für das Trinkwasser, das andere ist uralt und steht leer, also ohne Wasser. Verrückt, so ein riesiger Raum, da könnte man eine Disco machen, smiley! Der Lüthi fand das Reservoir ein tolles Thema. Er hat organisiert, dass jemand von der Stadt mit uns zum Reservoir kommt, damit wir rein können. Leider hat er aber auch allen Eltern geschrieben, dass die Führung öffentlich sei und sie mitkommen könnten. Und so hat Madlen davon erfahren und ist ausgeflippt. Sie sagt, ich sei die Allerletzte. Und ich müsse mich definitiv entscheiden: sie oder der Lüthi!

Da bin ich wieder! Madlen hat gerade angerufen, sie hat Pretty-Woman-Stiefel gefunden! Ich gehe jetzt zu ihr und schreibe dir morgen wieder! Drück mir die Daumen für die DISCO, ich bin so nervös, Patric, LOVE LOVE LOVE!

Viele Grüsse

Sonia

Frauenfeld, 9. November 1990

Liebe Andrea

Gestern war es mega! Madlen hat Yves geküsst! Yves ist megacool. Ich habe auf unsere Malibu Orange aufgepasst. Als sie zurück war, haben wir getanzt. Es lief Ice Ice Baby, das ist einer meiner Lieblingssongs. Auf einmal stand Patric vor uns. Er sah SO süss aus (Jeansjacke mit Ansteckern!) und wir haben getanzt, auch nahe, er hat mich auch immer angeschaut! Madlen hat gesagt, ich solle noch zwei Malibu Orange holen und als ich auf dem Weg an die Bar war, fing It must have been love an, MEIN Song mit Patric!

It must have been love, but is over now!

Aber ich weiss, er kommt wieder. Er hat mir ein Schnapparmband geschenkt, das geht so fest um meinen Arm, das lässt nie wieder los! Als ich in der Hälfte des Liedes zurückkam, konnte ich Madlen und Patric nicht mehr finden. Dabei hätte ich wissen wollen, ob er mich gefragt hätte, ob ich mit ihm tanze … wie früher. Später hat Madlen gesagt, sie seien draussen gewesen, um zu rauchen. Ich möchte auch einmal rauchen, aber ich weiss nicht, wie ich es machen soll, damit es meine Eltern dann nicht riechen! Sie schenken mir immer Poster von der Danys Dream Collection, auch weil ich nicht rauche.

Patric ist den ganzen Abend an der Bar gestanden mit seinen Kumpels, es waren keine Girls in der Nähe. Mom hat mich um Mitternacht abgeholt, ich habe erst ein Zeltli und nachher einen Kaugummi genommen wegen dem Alkohol. Ich war natürlich extrem müde, aber meine Eltern waren hellwach und wollten mit mir reden. Und zwar über den Lüthi. Sie sagten, dass es schlimm sei, dass er weg sei und so und dass ich eine Arme sei, zuerst passiere Frau Kern etwas und jetzt dem Lüthi, immer meinen Klassenlehrern! Da hätte ich ja gar keine Konstanz! (Ich bin nicht sicher, ob man das so schreibt). Aber ich habe ihnen gesagt, sie sollten nicht an mich denken, sondern an Madlen. Und daran, dass es für Madlen viel besser sei, seit der Lüthi weg ist! Ich habe immer an Madlen gedacht: Sie geht dann nach Hause, wann es ihr passt. Ich bin SOOO gespannt, was sie morgen erzählt. Ich habe angerufen, aber es ist niemand ans Telefon gegangen. Sie schläft sicher aus!

Wenn du mich fragst: Patric liebt mich immer noch!

DROP THE BOY, DROP THE BOY, I’M A MAN, YES I AM!

Bis morgen, viele Grüsse

Sonia

Frauenfeld, 10. November 1990

Liebe Andrea

Heute habe ich schön Zeit, um dir zu schreiben! Wir haben keine Schule, die Schule ist geschlossen wegen dem Lüthi. Es ist in der Zeitung, und alle reden darüber. Und die Polizei kommt noch zu uns. Es ist total spannend! Und ich denke immer an Madlen. Sie war so lieb am Telefon und hat mir von Patric erzählt. Nach der Disco ist sie mit ihm und den Jungs zu Huber nach Hause. Dort haben sie Bier getrunken! Patric ist es total schlecht gegangen, «warum», habe ich Madlen gefragt. «Wegen dir! Nur wegen dir!», hat sie gesagt, «Warum denn?» «Weil du so früh nach Hause bist!»

Er hätte noch mit mir reden wollen! Ich bin im siebten Himmel! Er war so schlecht drauf, dass Madlen ihn geküsst hat. Vielleicht findest du das komisch, aber ich verstehe es total. Sie wollte ihn einfach aufstellen. Ich schreibe dir nachher weiter, es hat geklingelt, das ist sicher die Polizei, oh Mann!

Es ist immer noch der 10. November, aber Abend.

Die Polizei hat lange mit mir geredet. Sie sagten, sie fragen alle Schüler. Meine Eltern haben am Schluss gesagt: «Sie sehen ja, dass Sonia auch nicht mehr weiss. Es tut uns leid, dass wir Ihnen nicht helfen können. Wir hoffen alle, dass Herr Lüthi bald wieder auftaucht, das ist ja eine schlimme Situation für seine Familie!»

Mir tut es auch ein bisschen leid. Er war ja eigentlich so nett! Es war zum Beispiel ein toller Tag, als wir uns das Reservoir angeschaut haben. Der Mann von der Stadt hatte einen Schlüssel für den Dolendeckel, einen, der aussieht wie ein Schraubenzieher. Der Deckel ist sehr schwer! Wir waren zwanzig Leute, alle wollten das Reservoir sehen. Man konnte in das leere Reservoir hineinsteigen. Man klettert eine lange, steile Leiter hinab, und unten ist es recht dunkel, es ist unheimlich. Als alle unten waren, hat der Mann gezeigt, wo früher das Wasser hereinkam. Als er gesprochen hat, klang es ganz hohl und wie mit Echo. Der Lüthi hatte den Fotoapparat dabei und machte Fotos für meine Reportage. Ich durfte wünschen, was er fotografieren sollte. Ich dachte an Madlen. Wenn meine Reportage gewinnt, erscheint sie in einem Heft. Und dort steht bestimmt, wer die Fotos gemacht hat. Und dann wird mich Madlen hassen!

Als die Führung fertig war, überlegte ich mir, dass ich noch ein Bild vom Wassereingang ganz hinten im Reservoir brauche und habe den Lüthi gebeten, eines zu machen, ich setzte schon einmal einen Fuss auf die Leiter. Ich bin als Letzte aus dem Reservoir gestiegen und dann ging alles ganz schnell. Der Vater vom Ross (es ist auch mitgekommen, aber hat nicht mit mir geredet) wollte ein Foto machen, wie wir das Einstiegsloch mit dem Dolendeckel schliessen, der Mann von der Stadt hat den Deckel sofort zugeschoben, ich habe nichts gesagt und geholfen und das Ross hat auch angepackt. «Cheese!», haben wir gesagt, und der Vater vom Ross hat das Foto gemacht. Der Mann von der Stadt hat den Dolendeckel abgeschlossen und uns alle ins Reservoir nebenan eingeladen, das in Betrieb ist, dort konnten wir Trinkwasser probieren. Während wir getrunken und geredet haben, hat er den Schlüssel auf eine Turbine gelegt. Wenn ich so mutig wäre wie Madlen, hätte ich ihn geklaut! Aber wozu? Eigentlich brauchen wir den Schlüssel ja gar nicht.

Ich bin gespannt, wie alles weitergeht! Soll ich Patric einen Brief schreiben? Anrufen kann ich nicht, ich würde sterben, wenn seine Mutter das Telefon abnimmt. Ich werde Madlen fragen, sie weiss immer, was zu tun ist.

Viele Grüsse

Sonia

Mord in Switzerland Band 2

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