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PAVANE FÜR EIN TOTES KIND

CÉDRIC SEGAPELLI

Das Quietschen lässt mich zusammenzucken. Sie hat soeben die Fenstertür aufgemacht. Dieses Mädchen ist zu jung, um Polizistin zu sein. Ihr Kollege kotzt ins Spülbecken der Kochnische. Kalte Luft strömt in meine Einzimmerwohnung herein, schwächt den Verwesungsgeruch aber nicht ab. Alle Wände haben den Gestank angenommen. Schon seit drei Wochen schmort Nadia in ihrem Saft. Kanüle tief hinein, Goldener Schuss und … Good bye, Nadia. Diese Ouvertüre inspiriert mich. Ein möglicher endgültiger Abgang. Weg von diesem Scheissort, dieser Welt aus dekadenten Junkies, meiner Welt. Die einzige Hintertür für mich ist das Fenster hier. Mich auf- und davonmachen. Also nehme ich Anlauf, renne quer durchs Zimmer und werfe dabei den Sessel um, in welchem Nadia liegt. Ihre verweste Leiche gleitet mit einem merkwürdigen Gluckern hinunter. Bis gleich Liebste! Ein makabres Grinsen verzerrt ihr finsteres Makeup. Letzte wilde Erinnerung. Hier kommt der Tod mit seinem Rochenmaul. Die junge Polizistin versucht sich dazwischen zu stellen. Ein Federgewicht. Ich spüre ihren Arm, der sich mir wie eine kalte Schlange um den Hals legt. Es gibt kein Zurück mehr. Bei mir ist das immer schon so gewesen. Kein Gefühl fürs Timing. Ich kippe bereits übers Geländer und reisse dabei die blöde Kuh mit mir hinunter. Einen Augenblick lang sehe ich ihr wogendes Haar. Eine Art, Lebewohl zu sagen.

Drei Stockwerke wirbeln vorbei.

Mein Leben zieht an mir vorbei.

Keine Zeit, etwas zu sehen.

Es geht zu schnell.

Das Leben ist kurz.

Der heftige Aufprall knallt einen Stempel auf meine Knochen. Ein dumpfer Schmerz. Es wogt, es bebt, mir bleibt die Luft weg, doch ich atme noch immer. Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet. Wir sind auf dem Vordach rund ums Haus herum aufgeschlagen. Die Polizistin hat meinen Sturz abgefedert. Eine Matratze aus Fleisch und Blut. Ein kaputter Hampelmann. Eine dunkle giftige Blume entsteht hinten an ihrem Schädel. Armes zerbrochenes Porzellanpüppchen. Ich nehme den Kupfergeschmack des Blutes und den Metallgeruch des Kieses wahr. Mir ist kalt, mir tut alles weh, und vielleicht habe ich sogar Angst. Ich stelle eine Verbindung zwischen meinem und ihrem Blick her. Möchte ihr ebenso sinnlose wie unnütze Dinge sagen, die in der Leere verhallen werden, denn an ihrem starren Gesichtsausdruck kann ich ablesen, dass sie die Lebenden schon nicht mehr hört. Die Leitung ist endgültig unterbrochen.

Irrsinn und Verwirrung. Es gärt in meinem Kopf. Ein starker Gegensatz zu der Ruhe, die im Quartier des Eaux-Vives herrscht. Trotz der frühen Morgenstunde breitet sich die Nacht noch immer aus. Auf der Strasse ist niemand, nur der kleine Junge. Er steht im Halbdunkel einer Hauseinfahrt. Reglos und mit herabhängenden Armen beobachtet er mich stumm. Leidensgefährten, Gespenster haben nie etwas zu sagen. Die Augen schliessen, um ihn nicht mehr zu sehen. Tief einatmen, um die Stille des Ortes in mich aufzunehmen. Es kriecht mir kalt den Rücken hinauf und spielt unangenehme Tonleitern auf jedem einzelnen Wirbel. Im Hinterhalt lauern die Entzugserscheinungen. Eine Ratte nagt an meinen Eingeweiden. Doch die Kälte gewinnt die Oberhand. Vor dem Springen hätte ich vielleicht noch in eine Jacke schlüpfen sollen. Dieser Gedanke bringt mich einfach zum Lachen. Ich bin am Leben und weiss nicht, was anfangen damit. Das Leben steht mir im Weg. Trotz allem könnte das ein schöner Augenblick sein, wenn da nicht all diese Schreie wären. Ich möchte den Ton abstellen. Ich möchte, dass der Bulle, der sich zum Fenster meiner Wohnung hinauslehnt, zu schreien aufhört. Ich bücke mich zur Leiche der Frau aus seinem Team. Ich nehme die Pistole an mich, die sorgfältig in ihrem Holster steckt. Meine Vergangenheit als bewaffneter Räuber holt mich ein. Ich erkenne die klobige Form einer Glock 17. Eine effiziente Waffe. Ich richte ihre hässliche Metallmündung auf den Bullen. Er will es ja nicht anders. Sein verschwommenes Gesicht verschwindet sogleich aus meiner Schusslinie. Alles wird wieder still. Der kleine Junge hat sich in Luft aufgelöst. Ich bin allein. Doch ich weiss, all das wird nicht von Dauer sein. Der Bulle wird sich wieder fangen und seine Kollegenclique zusammentrommeln. Und in der Ferne vernehme ich schon das eindringliche Klagelied der Sirenen, welche die nächtliche Lethargie verschandeln. Sie kommen. Die Fenster gehen an wie Scheinwerfer, die auf die Bühne gerichtet sind, auf der ich ganz oben sitze. Beschissenes Stück, in welchem ich nicht weiss, welche Rolle ich zu spielen habe. Das erinnert mich an das Gedicht Wir baten die Toten zu Tisch. Mensch, ich raste ja völlig aus! Jetzt müsste der Vorhang fallen. Die Waffe, die mir von der Faust herabhängt, wird schwerer, als wollte sie mir nahelegen, ein neun Millimeter-Schrotkorn zu schlucken. Den Tod ein zweites Mal umschlingen.

Der starre Kuss einer feindlichen Brise huscht mir über den Nacken, um mich ganz einfach zur Flucht zu ermuntern. Auch wenn sie unsicher ist, so kommt mir die zweite Option doch weniger unvernünftig vor. Muss weg hier. Mühsam nehme ich Anlauf. Es ist schmerzhaft. Ungeschickt renne ich das ganze Vordach entlang, klammere mich an der Dachkante fest und lasse mich aufs Trottoir plumpsen. Die Knarre habe ich hinten ins Kreuz gesteckt. Das Halbdunkel verschlingt meine hinkende Flucht. Strassen und Gässchen des Quartiers kreuzen sich rechtwinklig. Ich bewege mich wie auf einem Schachbrett. Ein gebeugter Bauer torkelt vorbei. Meine Arme umschlingen meinen Oberkörper, um ihn vergeblich gegen die Kälte zu schützen. Einige wenige Passanten begegnen mir. Sie drehen sich nach mir um. Diese trostlosen Strassen sind nicht zu meinem Vorteil. Ich muss mein Tempo drosseln. Ich sehe aus wie ein gehetztes Tier. Was ich auch bin. Ohne Jacke lenke ich die Aufmerksamkeit auf mich. Ohne Jacke gehe ich vor die Hunde. Ich stürme auf die zu helle, zu exponierte Hauptverkehrsader zu. Eine regelrechte Falle. Dabei ist das mein Freifahrtschein. Eine Autobushaltestelle. Die einzige Möglichkeit, die Bullen abzuhängen. Ich sehe sie zwar nicht, kann sie aber spüren. Sie überwachen das Gebiet flächendeckend. Mich vom Schachbrett wegquälen, die Partie verlassen.

Das lange Warten zehrt mir an den Nerven.

Die Zeit zerbröckelt zu langsam.

Bedrohliche Scheinwerfer streichen über die Häuserfassaden.

Schliesslich kommt der Trolleybus leise näher. Etwas heiter Gigantisches, das im Gegensatz zum Stress steht, zerreisst mir die Eingeweide. Kein Bulle weit und breit. Ich stürze zur Haltestelle, ins Fahrzeug hinein, um die rettende Wärme in mich aufzunehmen. Kein einziger Fahrgast im Wagen. Ich lasse mich in einen Sessel fallen. Ein wenig verschnaufen und versuchen, dieses verdammte Schlottern unter Kontrolle zu bringen. Ich verrecke! Ich verrecke! Ich verrecke! Es folgt Haltestelle um Haltestelle, doch keiner steigt ein. Der Bus dämpft die Unebenheiten der Strasse und rüttelt an meinen dumpfen Reuegefühlen, an meinem dumpfen Schmerz. Nichts als Tote. Ich sehe den kleinen Jungen, der an der Endstation auf mich wartet. Die Fluchtlinien führen in eine Sackgasse. In der Dunkelheit erkenne ich sein fahles Gesicht und seine blassen Arme. Mit einer Handbewegung fordert er mich zum Aussteigen auf. Der Motor wird abgestellt.

In der allgemeinen Reglosigkeit denke ich eine Weile scharf nach. Das Klopfen der abkühlenden Bremsen zerkratzt die Stille. Ich nehme den misstrauischen Blick des Chauffeurs wahr, der mich im Rückspiegel beobachtet. Ich muss unverzüglich weg hier. Draussen brennt mir die eiskalte Luft in den Lungen wie ein Messer, das meinen Oberkörper zerfetzt und mir das Herz herausreisst. Trotzdem bleibe ich eine Weile stehen. Schlotternd beobachte ich meine Umgebung. Da ist der kleine Junge. Er hat sich auf den Weg gemacht, ohne auf mich zu warten, ohne sich umzudrehen. Er geht die Umfassungsmauer der grossen Parks entlang. Zitternd beobachte ich meine Umgebung. Da ist der Quai. Vier menschenleere Fahrspuren. Eine unverhältnismässig lange Asphaltzunge, gesäumt von einer Reihe kränkelnder Platanen. Ein Flechtwerk aus kahlen, feindlichen Ästen. Knorrige Fäuste, die vergeblich auf den Himmel einhämmern, auch wenn sie einen Teil des Seebeckens verbergen.

Mitgenommen beobachte ich meine Umgebung. Da sind der See und die Lichter der Stadt, die lösen sich auf in dessen dunklen Fluten, um die herum eine Reihe Bürgerhäuser mit Leuchtreklamen zu Ehren von Geld und Luxus stehen. Der Springbrunnen lädt sich noch nicht in diese Szenerie ein. Zu früh, zu kalt. Unnütz. Ich will zu dem kleinen Jungen zurück. Doch er ist vor dem Eingang zum Parc de la Grange verschwunden. Der ist nachts geschlossen. Eine mögliche Zufluchtsstätte. Ich klettere über das Tor und bin plötzlich an einem von Raureif starren Ort wie in einem Traum. Das Gras knirscht unter meinen Schritten. Die Libanonzedern und die Sequoias sind wie wohlwollende Riesen, die sich über den Landsitz mit den geschlossenen Fensterläden beugen. Ich greife zu meiner Automatik. Ich weiss, wo ich eine Jacke auftreiben kann.

Da sind sie.

Sie verstecken sich hinter dem Gebäude, in der Nähe des Rosengartens.

Roma. In der Nacht besetzen sie den Spielplatz.

Sie schlafen. Nicht alle.

Einer von ihnen pinkelt an die Rutschbahn. Ein struppiger Bär, der lächelt. Eine Lawine von faulen Zähnen. Er will mir eine Zigarette anbieten. Doch was ich ihm abknöpfen will, ist sein schmutziger Anorak. Meine Handbewegungen sind unmissverständlich. Meine Knarre noch mehr. Fluchend gibt er mir den elend stinkenden Lumpen. Zur Feier des Tages klaue ich ihm noch seinen Fleecepulli. Er beginnt zu schreien, und die anderen fangen an, sich aufzuregen. Ich verstehe nicht, was er sagt, und es ist mir auch scheissegal. Ich gehe, ohne einen Ton von mir zu geben, kehre zum Landsitz zurück und setze mich auf die Stufen der Freitreppe, wo wir bestimmte Dinge zu tun pflegten, Nadia und ich. Im Sommer assen wir genüsslich ein Eis und warteten, bis die Dealer aufkreuzten. Nadia sagte, in dieser Nobelhütte hier habe die Engländerin Frankenstein geschrieben. Sie fand das romantisch. Mir hatte man allerdings mehr von einer Villa in der Nähe von Cologny erzählt. Doch was soll’s!

Ich versuche, mich an den Namen der Schriftstellerin zu erinnern.

Ich versuche, Nadias Gesicht vor mir zu sehen.

Doch nichts kommt. Nur Mist.

Ich möchte heulen. Ich habe Bauchweh. Ich muss kacken.

Nadia!

Der Bahnhof Carnavin. Die Rotunde mit ihrem Armenhaus. Ich lande bei dieser Mischung aus Punks, Junkies und Pennern, die sich ständig hier aufhalten. Rückkehr zum Ursprung. Ich habe den halben Vormittag in Bussen und Trams verbracht. In ständiger Bewegung, um nicht geschnappt zu werden. Unterwegs durch die Stadt und nicht wissend wohin. Ohne Geld, ohne Handy. Das macht nur einer, der völlig von der Rolle ist. Ich weiss nicht, wie spät es ist, denn wegen des grauen Himmels kann man die Tageszeit nicht sehen. Ich bin müde. Auf einer Metallbank ausgestreckt, schaue ich den Passanten zu, welche die Rolltreppen benutzen. Sie tauchen ins Einkaufsinnere des Bahnhofs ein und dann wieder daraus auf. Das Wogen der werktätigen Massen. Und wir sitzen fest, bleiben auf der Strecke. Die zappeligen Punks schmeissen Bierdosen nach ihnen. Die besoffenen Penner beschimpfen sie. Die stillen Junkies halten nach Handtaschen Ausschau. Die Polente wird gleich aufkreuzen, doch das ist mir stinkegal. Ich habe die Kapuze meines miesen Anoraks hochgeklappt. Ich sehe aus wie einer der schäbigen Penner hier.

Überall tut es mir weh, doch ich fühle mich merkwürdig ruhig, fast heiter. Einen Moment dösen. Ich werd’ verrückt! Ich werde heftig geschüttelt. Ich setze mich auf und versuche, meine Knarre zu ziehen. Schade für dich, Drecksbulle! Unkontrollierte, tollpatschige Bewegungen. Das führt zu nichts. Vor mir steht kein Bulle. Ich erkenne Max. Er kommt aus Clermont-Ferrand, um sich einzudecken. Von dort ist es verdammt weit, um hier billigen Sugar zu kaufen. Wenn er den dann in seiner Gegend verkauft, verdoppelt er seinen Einsatz. Ein geiles, einträgliches Business. Er trägt einen Le Coq Sportif-Jogginganzug. Kahlrasiert, Dreitagebart. Er gleicht einer mageren Katze. Max hat Militärdienst geleistet. In Afghanistan, sagt er. Ich weiss nicht, ob das stimmt. Ich weiss nicht einmal, ob er wirklich Max heisst. Gelegentlich mache ich für ihn den Fremdenführer in Sachen Stoff. Wir verstehen uns gut. Mit einer Kopfbewegung fordert er mich auf, ihm zu folgen. Wir gehen zwischen Autos, Bussen und Trams im Zickzackkurs über den verkehrsreichen Platz. Er schleppt mich in einen Kebab in der Fussgängerzone der Rue du Mont-Blanc und spendiert mir einen Kaffee. Es stinkt nach kaltem Essen. Aasgestank. Das erinnert mich an sie.

Nadia drei Wochen lang in ihrem Studio verwesen lassen.

Sie bei mir behalten.

Keiner kann das verstehen.

Nicht mal ich.

Ich trinke einen Schluck Kaffee. Das ist das erste Zeugs, das ich heute überhaupt zu mir nehme. Ich habe das merkwürdige Gefühl, am Leben zu sein. Eine wandelnde Leiche. Das ist brisant. Max schiebt sein Handy auf den Tisch. Eine Message auf dem Display, im Telegrammstil: Café – Linie 43 – 15 Uhr. Ich begegne seinem Blick. Wir tauschen ein wissendes Lächeln. Die Albaner operieren im Gebiet von Loëx, unweit vom Parc des Eaux-Vives, an der Endstation der Linie 43. Ich kenne den Ort. Übereinstimmende Schicksale. Max fragt mich, ob ich bereit sei. Als einzige Antwort lege ich die Glock auf den Tisch. Wieder verständnisinniges Grinsen. Wir besiegeln unseren Vertrag mit einem einfachen Kopfnicken. Max ist ein wortkarger Mensch. Wir trinken unseren Kaffee schweigend aus, dann gibt Max das Zeichen zum Aufbruch. RocknRoll. Wir gehen durch die Fussgängerzone. Roma-Kinder stehen auf einer Bank. Beschissene Musik. Britney Spears’ erbärmliche Stimme aus einer uralten Stereoanlage. Sie verhunzt Satisfaction. Sie schwingen lachend die Hüften. Ihr Treiben bleibt den Freiern, die so tun, als würden sie Schaufenster angaffen, nicht verborgen. Preislich festgelegte Liebe zu Teenies. Das öffentliche Klo ist gleich daneben.

Wir kommen auf den Square Pradier. Parkplatz unter freiem Himmel. Tauben gurren am Fuss von ein paar schmächtigen Bäumen. Max fummelt unter der Karosserie seines uralten, vom Rost ausgelaugten Renault 5 herum. Er zieht die Einzelteile eines Gewehrs hervor, das er schnell zusammensetzt. Kolben und Lauf abgesägt. Teuflisch gefährliche Waffe. Er klaubt Patronen hervor, die in der Polsterung des Fahrersitzes versteckt sind. Wir machen uns unverzüglich auf den Weg. Es herrscht starker Verkehr. Ich habe Zeit, um scharf nachzudenken. Ein einfacher Plan. Ein Überfall auf die Albaner mit ihrem Stoff. Diese Idioten haben darauf verzichtet, den Sugar in Wohnungen zu verpacken. Sie tun das mitten im Wald. Das macht den Bullen die Arbeit schwerer. Und uns umso leichter.

Ein uralter Plan.

Etwas für Bekloppte.

Nadia wollte nicht.

Zu gefährlich.

Den Lagerplatz der Albaner greift man nicht an.

Doch die Mühe lohnt sich. Stoff, Knete. What else!? Wir fahren über die Auffahrt von Chancy und ragen in ein Meer aus grauen Dächern hinaus, und mitten daraus schiesst die Gischtwolke des Springbrunnens empor. Ich betrachte diese Stadt zum ersten Mal. Die Strasse macht einen Bogen nach links. Ich lasse Tränen, Chaos und alle Reue hinter mir. Fahr! Fahr! Fahr!

Wir treffen am vorgesehenen Ort ein. Ein richtiger Supermarkt für Stoff irgendwo mitten in der gottverlassenen Pampa. Junkies steigen torkelnd in Trauben aus dem Bus. Zwei Albaner halten den Dealerort besetzt. Der eine kassiert, während der andere die Ware holt. Max beobachtet sie durchs Fernglas. Er freut sich wie ein Schneekönig. Die Verteilung ist schnell erledigt. Die Albaner verduften querfeldein. Wir wollen sie im aufziehenden Nebel ausplündern. Ich sage zu Max, er solle losfahren und um das Gelände herumfahren. Ich kriege fast einen Herzanfall. Max fährt wie ein Irrer und leistet sich beinahe einen Zusammenstoss mit der Umgebung. Die Strasse führt in den Wald hinein. Wir haben die beiden Arschficker aus den Augen verloren. Ich mache Max ein Zeichen, am Strassenrand anzuhalten, und quäle mich urplötzlich aus dem Wagen. Ich suche die Stille mit meinem Blick zu durchdringen. Das Krächzen der Krähen, dann ein Knacken zu meiner Linken. Ich ziehe langsam den Verschluss meiner Waffe zurück. Ich erkenne den kupfernen Schimmer der Kugel im Lauf. Und los geht’s! Ich renne in den Wald hinein. Max folgt dicht hinter mir und hält sein Gewehr mit beiden Händen.

Der Teppich aus trockenem Laub raschelt unter unseren Schritten. Wir schlüpfen mitten in den Eichenwald hinein. Feuchter Geruch von Humus und Rinden. Ein unheilvoller Ort, wo es nach Tod stinkt. Durch ein breites Gestrüpp hindurch sehe ich den kleinen Jungen. Ich drehe mich um, um zu sehen, ob Max ihn erkennen kann. Ich wälze mich erbärmlich vorwärts und verliere meine Knarre genau in dem Augenblick, als sich ein Schatten auf ihn stürzt. Fünf fiese Stiche mit einer scharfen Klinge. Max bricht in einer Hämoglobinflut zusammen. Er kniet da. Der Albaner macht sich daran, seine Arbeit mit einem letzten Messerstich zu vollenden. Doch Max ballert los. Der ohrenbetäubende Lärm einer Ladung Schrot. Der Oberkörper des Albaners explodiert. Ein paar Federn aus seiner zerfetzten Jacke wirbeln in einer Korditwolke umher. Max kippt zur Seite und macht einen letzten Atemzug. Glasiger Blick. Ich krieche zu ihm hin, um sein Gewehr an mich zu nehmen. Taste seine blutdurchtränkte Jacke ab auf der Suche nach einer Handvoll Patronen. Ich munitioniere die beiden noch dampfenden Läufe und mache eine Rolle seitwärts. Da taucht der zweite Albaner auf. Eine Reihe Schüsse. Die Kugeln zischen über meinem Kopf vorbei und bleiben in den Stämmen unmittelbar hinter mir stecken. Rindensplitter fliegen in alle Richtungen. Er schiesst wie ein Irrer. Dann ist plötzlich Schluss. Er muss nachladen.

Ich rapple mich auf und kann den Kerl schnell orten. Er steht vor mir und macht sich hartnäckig am Verschluss zu schaffen, doch dieser klemmt. Mit zwei fiesen Schrotkugeln mache ich ihn kalt. Die erste Kugel schlitzt ihm den Bauch auf. Unter der Einschlagskraft taumelt der Albaner und rudert mit den Armen, als wolle er sich an etwas festklammern. Der zweite Schuss sprengt ihm in einer Blutwolke das Gesicht weg. Ich hebe meine Glock auf und versuche mein Zittern in den Griff zu bekommen. Muss eine Verschnaufpause machen. Mein Opfer liegt teilweise zusammengefallen auf einer mit Blut und Hirnfetzen verschmierten Plane. Ich krieche unter den Stoff. Es ist dunkel. Ein Geruch von feuchter Erde und Schweiss hängt über dem Lager. Da sind auf einem wackeligen Tischchen ein mit einer weisslichen Substanz beschmutztes Sieb, eine kleine Waage und fünf in Aluminiumpapier eingewickelte Portionen reines Heroin. Auch Umschläge, vollgestopft mit Geld. Keine Zeit zum Zählen. Ich kralle mir den Stoff und die Knete und stopfe das Ganze in eine Migrostasche.

Irgendetwas bewegt sich dort hinten. Ich richte meine Glock auf einen Berg Schlafsäcke. Ein junger Typ mit fiebrigem Blick taucht aus dem Daunenhaufen auf. Ich kann seine Gesichtszüge nur schlecht erkennen. Er hat ebenso Angst wie ich und scheint von der Krankheit aufgefressen zu sein. Er fleht mich an, doch ich verstehe nicht, was er sagt. Ich schüttle den Kopf und jage ihm zwei Kugeln mitten in den Kopf. Ich schliesse einen Moment die Augen. Das muss aufhören. Der Atem der Stille. Der Nebel dringt zwischen den Bäumen herein. Ich höre Schritte und dann Stimmenlärm. Wer kreuzt denn hier noch alles auf? Darf auf keinen Fall hier bleiben, um das herauszufinden.

Im Zickzackkurs renne ich wie ein Wilder zwischen den Bäumen umher. Dann schwankt der Boden unter meinen Füssen, und ich gleite aus, lasse aber weder meine Tasche noch meine Knarre sausen. Ich springe wie ein Ball auf der Böschung auf und lande auf einem Kiesweg. Ich hechle wie ein Hund und ziele mit meiner Glock in alle Richtungen. Überall tut es mir weh, und mir ist speiübel. Der kleine Junge steht vor mir. Er lächelt. Hinter ihm erkenne ich die Rhone, die gemächlich den Felsen mit den prunkvollen Häusern darauf entlangfliesst.

Ein Spitzengewebe aus bizarren Dächern.

Überladene Fassaden.

Das Quartier von Saint-Jean.

Für ein letztes Lebewohl.

Kein Bulle weit und breit.

Das Vorgehen ist absurd, realitätsfern.

Trotz allem stürze ich in das Haus hinein und steige die fünf Stockwerke zu Fuss hinauf. Ein Aufstieg zum Schafott der Erinnerungen. Die Wohnung ist nicht abgeschlossen. Ich finde meine Mutter genau so im Wohnzimmer, wie ich sie vor fünfzehn Jahren verlassen habe. Sie liegt auf dem Sofa und spricht nicht mit mir. Da ist diese Platte, die endlos läuft. Die Musik erfüllt den ganzen Raum. Ravel. Pavane für ein totes Kind. Sie findet, der Titel passe genau. Die blöde Kuh macht nicht einmal einen Unterschied zwischen einer Prinzessin und einem Kind. Alles an ihr ist grau. Das Gesicht, die Augen, die Haare, ja sogar die Seele.

Einen Teil des Geldes habe ich auf den Beistelltisch zwischen die Zigarettenschachteln und die angebrochene Flasche Whisky gelegt. Sie mummt sich in eine Nikotinwolke ein und zwitschert ihr Glas leer. Alles ist wie zuvor, ob vor oder nach dem Tod des kleinen Jungen. Nur die Kadenz ist eine andere. Nur eine wiedergefundene Würde in dieser künstlichen Traurigkeit. Ersticke in deinem Kummer!

Das Zimmer, das ich mit dem kleinen Jungen teilte, ist so ausdruckslos wie ein Mausoleum. Es riecht muffig und nach Staub. Auf meinem Bett fand man ihn mit meinem offenen Junkie-Set und meiner Nadel, die in einer Vene seines unbehaarten Ärmchens steckte. Die Kanüle reingerammt bis zum Kolben. Luftembolie. Verrecke! Verrecke! Verrecke! Der Schrank quietscht noch immer. Ich finde darin Kleider zum Wechseln aus einer anderen Zeit und eine kleine Adidas-Tasche, in die ich das restliche Geld und den Stoff tue.

Als ich wieder auf den Gang hinaustrete, stehe ich unverhofft zwei Bullen in Zivil gegenüber. Allgemeine Überraschung, bevor wir unsere Waffen zur Schau tragen. Das Aufeinandertreffen hat etwas sehr Angespanntes. Unbestimmtes Zögern. Dann stürmt meine Mutter in einer Woge verkappter Wut herein. Es bricht ein Damm. Ihr Gesicht löst sich in einem Schwall von Schreien auf. Tötet ihn! Ihre vom Nikotin gebrochene Stimme hallt wie ein Signalton. Es wird in alle Richtungen losgeballert.

In diesem engen stickigen Raum macht mir dieser Höllenkrach das Trommelfell kaputt. Ich rase in einen Tunnel aus Hass, Angst und Gewalt hinein. Ein Brennen im Unterleib nimmt mir den Atem, doch ich mache weiter. Im Pulverdampf der Kugeln sehe ich meine Mutter ausgestreckt auf dem Parkett liegen. Die Bullen scheinen verschwunden zu sein, und ich kann aus der Wohnung hinaus und mit Müh und Not der Falle entkommen. Ich tauche auf der lauten Strasse auf und gehe im Laufschritt durch das Quartier meiner Kindheit. Ich kann gerade noch einen Bus erwischen und werfe mich hinein. Ich winde mich durch die teilnahmslosen Passagiere hindurch und breche auf einem Sitz zusammen.

Ein Gitarrist spielt gleich mehrere Stücke von Bob Dylan. Ich glühe und zittere vor Kälte. Ich schiebe meine Hand unter die Jacke, um meinen Bauch zu betasten. Das T-Shirt ist mit Blut getränkt. Langsam läuft alles aus mir hinaus. Das ist vielleicht auch besser so. Die Stirn an die kalte Scheibe gepresst, beobachte ich die Strassen, die da vorbeiziehen. Das beruhigt mich ein wenig. Die Lichter der Stadt, die von der Nacht getriebenen Passanten. Der Gitarrist hat aufgehört zu spielen und kommt zwischen den Sitzreihen mit hingehaltenem Hut näher. Mit dem Fuss schiebe ich die Tasche zu ihm. Sein Blick fällt auf meine Knarre, die ich noch immer in der Hand halte, und wird ganz starr. Ich gebe ihm zu verstehen, dass er ruhig zulangen kann. Er nimmt die Tasche, sieht sich den Inhalt genau an und geht dann wortlos weiter.

Die Schläge der Strasse schüren meinen Schmerz. Dann ist endlich Schluss. Der Bus leert sich. Wir sind wohl an der Endstation angekommen. Ich wische mit der Hand über die beschlagene Scheibe und erkenne die wuchtigen Konturen eines Wasserturms, der da mitten in einem Weingarten steht. In der Ferne die dunklen Umrisse der Wälder. Schwarz! Schwarz! Schwarz! Der Busfahrer kommt auf mich zu und sagt, er fahre ins Depot. Er bringt seinen Satz nicht zu Ende, steht einen Augenblick mit offenem Mund da und saust dann davon. Sieht es wirklich so schlimm aus!?

Ich huste und spucke Blut, das ich mit zitternden Fingern abwische.

Ich glaube, ich höre jetzt auf.

Ich habe sowieso keine Kraft mehr.

Ich glaube, meine Waffe ist leer.

Sie fällt bleischwer zu Boden.

Ich glaube, der kleine Junge kommt nicht mehr.

Dabei möchte ich ihm das Ganze erklären.

Doch mir bleibt keine Zeit mehr zum Warten.

All der Blödsinn über die Erlösung.

Keine Vergebung mehr.

Keine Reue mehr.

Nichts von all dem.

Mit bleibt nur die Nacht mit ihren dunklen Verheissungen.

Aus dem Französischen von Markus Hediger

Mord in Switzerland Band 2

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