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DIE MOORLEICHE

MITRA DEVI

Neue Zuger Zeitung, 28. Oktober

Die sinflutartigen Regenfälle der letzten vierzehn Tage haben in der ganzen Zentralschweiz zu beträchtlichen Schäden geführt. Besonders betroffen ist der Kanton Zug. Hunderte von Kellern sind überflutet, die Feuerwehr steht im Dauereinsatz. In Baar trat die Lorze an diversen Stellen über die Ufer. Die Höllgrotten mussten für Besucher vorübergehend geschlossen werden. Grund dafür war die Unpassierbarkeit der Anfahrtswege. Der Pegelstand des Zugersees nähert sich einer neuen Rekordhöhe. Nebst kurzen Aufhellungen ist in den nächsten Tagen mit unverminderten Niederschlägen zu rechnen.

Beim Kanton Zug denken die meisten als Erstes an Steueroase, dann an Zuger Kirschtorte. In dieser Reihenfolge. Erst die Kohle, dann das Fressen. Nach weiteren typischen Merkmalen gefragt, folgt in der Regel ein längeres Schweigen. Einige erwähnen darauf das schöne Altstädtchen, andere die reichen Seegemeinden. Mehr wissen die Leute nicht über den kleinen Kanton.

Die Hauptsache kennt sowieso fast niemand: Zug hat bezogen auf seine Fläche schweizweit die meisten Hochmoore. Ja, das hätten Sie nicht gedacht. Sie wissen auch nicht genau, was ein Hochmoor ist, nicht wahr? Sie stellen sich vor, das seien stinkende Sümpfe, wo der Moder blubbert, der Nebel über dem Schilfgras wabbert und bei Vollmond die Wölfe heulen. Ach ja, und wo giftige Dämpfe gen Himmel steigen und verlorene Seelen leise klagend umherirren.

Falsch, alles falsch. Da blubbert und wabbert nur selten was. Hochmoore sind faszinierende Landschaften, die durch Regen- statt Grundwasser erhalten werden. Aufgrund der Wassersättigung können abgestorbene Pflanzen nur unvollständig abgebaut werden und verwandeln sich in Torf. Es kann Jahrtausende dauern, bis ein Hochmoor entsteht. Die Mikroorganismen haben aufgrund des Sauerstoffmangels keine Lebensgrundlage, deshalb verwest totes Gewächs nicht. Auch alles andere nicht. Weder Pflanzliches noch Tierisches noch Menschliches. In Mooren hat man schon uralte, vollständig erhaltene Hunde, Schweine und Pferde gefunden.

Und Menschen.

Haare, Haut und Fingernägel, Knochen, Hirn und Eingeweide bleiben intakt, die Gesichter erkennbar, ledrig-schwarz, in grausiger Erstarrung. Für die Ewigkeit konserviert.

Woher ich das alles weiss?

Ich bin Ende dreissig, arbeite als Tierpräparatorin, wohnte erst in Walchwil, dann in Menzingen, danach in Steinhausen. Ich ziehe oft um. Sobald die Nachbarn beginnen, mich wahrzunehmen, muss ich verschwinden, ist so eine Art innerer Zwang. Wo ich ursprünglich herkomme, spielt keine Rolle. Ich habe den Kanton Zug zu meiner Wahlheimat erkoren. Ich hatte nie Freunde. Seit ich ein Teenie war, habe ich mich weder für Shopping noch für die neuesten iPhones, iPads oder iDerGeierwas interessiert. Ich bin niemals an ein Openair-Konzert gepilgert, hab kein einziges Mal gekifft und mir kein Piercing durch die Nase stechen lassen. Ich war nie cool und trendy, sondern ein sehniges Ding mit dünnen Lippen, strohigen Haaren und Hakennase. Soziale Kontakte mied ich. Für Sex kam ich schlichtweg nicht in Frage. In der Schule zeigten sie mit dem Finger auf mich, legten mir tote Mäuse ins Pultfach und nannten mich Mumie. Besonders ein Mitschüler hatte es auf mich abgesehen, Johannes, selber ein pickliger Pubertierender mit aschblonden Haaren und stimmbrüchigem Krächzen, Sohn des Lehrers. Kein Tag verging, an dem er mich nicht vor den anderen lächerlich machte. Einmal stopfte er meine Hausaufgaben in die Schulhaustoilette, ein anderes Mal vergrub er mein Fahrrad unter einem Misthaufen. Es stank noch Wochen später.

Ich erzählte es dem Dorfpfarrer. Dieser meinte nur, ich solle aufhören, mich kindisch zu benehmen. Als ich erwiderte, Johannes’ Verhalten ziehe sicher eine besonders grausame Bestrafung nach sich, schaute er mich ganz komisch von der Seite an und murmelte, es sei nicht an mir zu richten, sondern an Gott.

Zu Hause ging es keinen Deut besser zu und her. Mein Vater piesakte mich, wo er nur konnte, mein kleiner Bruder verschmierte mein Tagebuch mit Sätzen wie «Garstige Hexe», und «Frankensteins Tochter»; sogar unsere Katze machte einen Buckel, wenn sie mich sah. Zu meiner Volljährigkeit wollte mir meine Stiefmutter eine Schönheitsoperation schenken. Da war das Mass voll. Danach war sie diejenige, die plastische Chirurgie benötigte.

Dazu muss erwähnt werden, dass ich schlecht mit Wut umgehen kann. Ist einfach so, war immer schon so. Als Kind konnte ich mich noch beherrschen, als Jugendliche drückte meine Vergeltungssucht bereits durch, als Erwachsene hatte ich sie perfektioniert. Wenn mich jemand reizt, und das passiert oft, verwandle ich mich in eine morbide Rachegöttin. Andere überwältigen ihre Feinde mit Körperfülle, ich komme auf dünnen Stelzen und verschaffe mir Gerechtigkeit. Ich vergesse nichts. Niemals. Jede Kränkung, jede Beleidigung, jede spöttische Bemerkung ist in meinen Untiefen gespeichert. Bis die Zeit gekommen ist, um die Ordnung wiederherzustellen.

Das Einzige, was mich seit jeher mit innerem Frieden erfüllt, ist die Natur. Nicht in ihrer gehegten und gepflegten Form, sondern in ihrer wilden, hässlichen. Symmetrisch angeordnete Gärten verabscheue ich, liebliche Blumenbeete und gestutzte Rasen ekeln mich an. Was ich brauche, ist das Ungekünstelte, das Echte. Das nach Zersetzung knisternde, vor Säften triefende, nach Tod riechende Leben.

Ich weiss nicht, ob Sie das verstehen.

Darum liebe ich Moore.

Neue Zuger Zeitung, 31. Oktober

Nach dem Regen folgt der Schnee. Wie Meteo Schweiz mitteilt, spielt das Wetter auch in den kommenden Tagen verrückt. Laut Prognosen nähert sich eine Kaltfront, Folge davon ist ein massiver Temperatursturz innerhalb Stunden mit Werten weit unter Null Grad. Es wird mit heftigem Schneeregen und in höher gelegenen Gebieten mit Schneefällen bis 30 Zentimeter gerechnet.

In heissen Sommermonaten können Hochmoore trocken werden, die Moose braun, die Gräser dürr, die Binsen struppig. Das ist traurig anzusehen. Im Herbst jedoch, nach langem Regen, verwandeln sich die Hochmoore in ihr wahres Wesen. Und so kommen wir nun doch noch zum Blubbern und Wabbern.

Die Geschichte, die ich hier erzähle, trug sich Anfang November zu, an Allerseelen. Es hatte wochenlang wie aus Kübeln geschüttet, die Heiden waren wasserdurchtränkt; von den Sträuchern und Büschen tropfte es. Das Zugerberger Moor war so nass wie schon lange nicht mehr. Ich war mit der Standseilbahn von Schönegg zur Bergstation hochgefahren, was einen imposanten Panoramablick über See und Berge eröffnet. Wenn man auf so was steht. Ich für meinen Teil hab’s nicht so mit Panoramas, mir gefällt die Froschperspektive.

Als die Bahn oben ankam, ging ich den Weg zum Moor hoch. Auf meinem Rücken trug ich einen grossen Wanderrucksack. Ich kam an der Internatsschule Montana vorbei, die sich damit rühmt, Schüler wie den Regisseur Marc Forster zu ihren Ehemaligen zählen zu dürfen. Der war als Jugendlicher auch ein komischer Kauz, wie ich gehört habe. Vermutlich die Nähe zum Moor. Die verändert einen. Wenn man empfänglich dafür ist.

Die grosse Wiese vor den Schulgebäuden war matschigbraun, auf dem Holzzaun, der sie umgab, klebten unzählige Schnecken. Zwei alte Männer kamen mir entgegen, schwatzend und rauchend, ihre Geringschätzung, als sie mich erblickten, nur schlecht verbergend. Ich sagte ja, ich bin keine Augenweide. Sie schlenderten an mir vorbei, und ich fühlte ihr Starren auf meinem Hinterkopf.

Ich ging weiter, liess die letzten Gebäude hinter mir, eine Scheune, einen Traktor, einen mit Planen bedeckten Holzstapel, dann das Gasthaus Vordergeissboden, das wie immer mittwochs geschlossen war. Auf dem Hauptwanderweg durchs Moor begegnete ich niemandem mehr.

Kurz vor der Dämmerung brach die Sonne durch, zum ersten Mal seit Tagen. Die Strahlen fielen schräg auf die kahlen Birken und warfen filigrane Schatten. Lange würde es nicht sonnig bleiben, von Osten her zogen bereits neue dunkle Wolken auf. Ein Schwarm Krähen flatterte Richtung Waldrand. Es roch nach Pilzen und Feuchtigkeit, nach Moos und Schwefel, nach Tod und Trauer. Ich war glücklich.

Nach einer halben Stunde Fussmarsch verliess ich den Pfad und schlug mich durchs Feld. Ich stapfte über die feuchte Erde, wich einem verkrüppelten Bäumchen aus, streifte durchs kniehohe Gras. Dann erreichte ich das Dickicht. Vom dornigen Gestrüpp rann das Wasser, der Boden war bedeckt mit altem Laub, vereinzelte Herbstblätter hielten sich mit letzter Kraft an den Ästen fest, bevor der Wind sie abreissen und dem Moorgrund übergeben würde, der sie sich einverleibte. Schicht für Schicht, der ewige Kreislauf.

Es dämmerte. Die ersten Tropfen fielen. In der Ferne war Donnergrollen zu hören. Nach wie vor kein Mensch in Sicht. Ich hatte auch keinen erwartet. Es war gut und richtig so. Nur ich und das Moor. Jedes Jahr an Allerseelen machte ich diesen Gang. Nicht, dass ich religiös bin, ganz im Gegenteil, doch die Tradition passt zu meinem Vorhaben: der Toten gedenken, den Seelen der Ruhelosen Frieden schenken. Ruhelose gibt es viele auf dieser Welt, Lebende und Verstorbene. Sollen sich andere um die Lebenden kümmern, mir gehören die Toten.

Ich ging weiter, der Boden war inzwischen morastig. Der Regen wurde stärker, durchnässte meine Haare, rann in meinen Kragen. Meine Schuhe gaben schmatzende Töne von sich, als ich sie Schritt um Schritt aus dem zähen Untergrund zog. Es brauchte Anstrengung, um nicht stecken zu bleiben.

Ich schaute mich um. Erkannte inmitten einer Gruppe knorriger Büsche die vom Blitz gespaltene Esche, deren eine Hälfte aufrecht in den Himmel ragte, während die andere lahm nach unten hing. Mein Wegweiser, Jahr für Jahr. Von hier war es noch gut eine Viertelstunde durch unwegsames Gebiet. Ich folgte dem kleinen Wasserlauf und scheuchte ein Birkhuhn auf. Ich hatte seit Langem keines mehr gesehen. Es schien verletzt zu sein, flatterte nervös auf, schlug mit einem Flügel immer wieder auf den Boden und versuchte davonzufliegen. Es gelang ihm nicht. Schnatternd wackelte es ins Unterholz.

Ich erreichte den höchsten Punkt dieser Moorregion, von hier aus ging es nur noch bergab, teils rutschig, teils steinig. Vorsichtig kletterte ich hinunter, klammerte mich an Wurzeln und Farne. Einmal strauchelte ich und glitt mehrere Meter steil abwärts, bis ich mich an einem Felsbrocken festhalten konnte.

Plötzlich hörte ich ein Knurren. Ich drehte den Kopf, hielt inne. Lauschte durch den prasselnden Regen. Ich sah nichts. Das Geräusch musste aus der Nähe kommen. Es war keine Angst, die ich fühlte, eher eine Art Erstaunen. Etwas war mit mir hier draussen. Lebte, atmete. Es gab keine Wölfe, Bären und Luchse hier, das wusste ich; kein Tier, das mir gefährlich werden konnte. Einen Menschen hätte ich schon von Weitem gewittert. Niemand war mir gefolgt. Wieder knurrte es. Was immer es auch war, das diese Laute ausstiess, ich würde es wohl nie erfahren. Auch das gefällt mir am Moor: Es behält seine Geheimnisse für sich. Seit Äonen schweigt es, trägt sein Wissen still und stumm durch alle Zeitalter, ist Hort unzähliger toter Wesen, die nie gefunden werden. Und vielleicht auch nicht gefunden werden wollen.

Inzwischen war es stockfinster. Ich schaltete meine Taschenlampe ein. Ein eisiger Wind pfiff um meine Ohren, das dürre Laub an den Ästen raschelte, die Gräser wogten wie ockerbraune Meereswellen. Unvermindert regnete es weiter, erste Schneeflocken mischten sich in die Tropfen, schwer und gross. Mir war kalt, aber nicht unwohl. Ich fürchtete mich nicht. Ich kannte das Moor in- und auswendig. Wieder donnerte es in der Ferne. Seltsam, dachte ich, ein Gewitter bei Schneefall. Es mussten aussergewöhnliche Wetterverhältnisse herrschen. Ähnlich wie damals.

Fünfundzwanzig Jahre war es nun her. Ich dachte an jenen November zurück, als ich mitten in der Nacht durch die Wildnis geirrt war, auf der Suche nach der geeigneten Stelle. Meine Kraft war übermenschlich gewesen, meine Entschlossenheit ohne jeden Zweifel. Es hatte ebenso geregnet. Niemandem war ich aufgefallen, alle sassen zu Hause in ihren warmen Stuben, während ich meine Aufgabe erfüllte. Allerseelen, Anfang der Neunzigerjahre, ich, ein halbwüchsiges Mädchen, das nirgends willkommen und erwünscht war, in dem es bereits brodelte und kochte, das sich mit eisernem Willen davon abhielt, das zu tun, wonach alles in ihm schrie. Doch es war nur eine Frage der Zeit. Es musste getan werden.

In den vorhergehenden Wochen hatten meine Mitschüler mich verspottet und verhöhnt wie nie zuvor. Tatjana, das Nachbarsmädchen mit den feuerroten Haaren, mit dem ich seit der ersten Klasse die Schulbank drückte, hatte sich bis anhin zurückgehalten und legte nun plötzlich los, sei es, um bei den anderen Eindruck zu schinden, sei es, weil sie irgendeinen persönlichen Frust rauslassen musste. Und wer war eine bessere Zielscheibe als ich, die Vogelscheuche?

Es war im Klassenlager in den Bergen, was mir ein besonderer Graus war, gab es doch keine Möglichkeit zu entkommen. Wir Mädchen schliefen in einem Zehnerschlag auf der einen Hälfte des Dachstocks, die Jungs hatten die andere Hälfte für sich. Lehrer Kohlmann – Johannes’ Vater – belegte sage und schreibe drei Zimmer mit seiner Frau.

Die Berghütte war alt und knarrte nachts in allen Ritzen und Ecken, als würde sie zum Leben erwachen. Das jagte den meisten eine Höllenangst ein, auch wenn sie es nicht zugaben. Mir nicht. Tagsüber machten wir todlangweilige Spaziergänge über Feld und Flur, um die Natur mit allen Sinnen zu erfahren, wie Kohlmann es enthusiastisch nannte. Wir mussten Pflanzen- und Tierarten mittels eines Handbuchs bestimmen, wobei ich alle kannte, mich aber hütete, ein Wort zu sagen. Was noch schlimmer ist als eine Vogelscheuche, ist eine streberhafte Vogelscheuche. Zur Sicherheit schrieb ich in Naturkunde miserable Noten, mogelte mich in Mathematik mehr schlecht als recht durch und versagte in allen Sprachen komplett. Später holte ich meine schulischen Lücken zwar wieder auf, damit ich die Voraussetzungen erfüllte, um Tierpräparatorin zu werden. Doch damals war das Wichtigste, nicht unangenehm, sprich nicht mit gutem Zeugnis, aufzufallen. Tagsüber also wanderten wir, nachts ging es in der Hütte richtig los. Die angesagten Jungs zückten ihre Joints, die Mädchen kicherten idiotisch, als sie daran zogen und Hustenanfälle kriegten. Es wurde geschmust und gefummelt, eine Flasche Wodka kreiste herum, plötzlich sagte Tatjana und zeigte mit dem Finger auf mich: «Wer den letzten Schluck trinkt, muss die da küssen!»

Alle kreischten angeekelt und starrten mich an.

Ich verdrehte die Augen und vergrub mich wieder in mein Sachbuch über Amphibienkunde mit Schwerpunkt Erdkröten und andere Froschlurche. Das Buch war zerfleddert und mit einem bunten Umschlag getarnt, damit keiner mitkriegte, was ich las.

Tatjana nippte am Gebräu, gab es an ihre momentan beste Freundin weiter, die ebenfalls ein Schlückchen nahm und den Wodka an einen Jungen weiterreichte. Langsam leerte sich die Flasche. Ich schielte verstohlen auf die Szenerie und tat so, als interessiere mich das Ganze nicht. Mein Herz schlug schneller. Gerade als ich die Stelle des Paarungsverhaltens der Moorfrösche las – daran kann ich mich auch jetzt noch genau erinnern – stiess jemand einen entzückten Schrei aus: «Johannes! Du bist dran!»

Ich sah hoch.

Johannes, schwitzend und puterrot, was seine Pickel noch mehr hervorhob, winkte ab und meinte angewidert: «Stimmt gar nicht!» Er hielt die Flasche mit der Öffnung nach unten und schüttelte sie, um ihr noch einen Tropfen abzugewinnen. Es rann keiner mehr heraus.

«Siehst du!», grölten die anderen. «Deine Stunde hat geschlagen! Küss sie!»

«Dazu kann mich niemand zwingen!», gab er zurück und warf die Flasche auf eine der Matratzen. «Hören wir doch auf mit diesem Mist!»

«Küss sie! Küss sie!», schrien alle und drängten ihn in meine Richtung. «Küss die Hexe! Küss die Mumie! Küss die Kreatur!» Irgendwer rief «Alien!», ein anderer feixte: «Zombie, weiche von mir!», was mit brüllendem Gelächter aufgenommen wurde.

Falls ich es es noch nicht erwähnt habe: Was Synonyme für meine Person anging, war die gesamte Schulklasse in ihrer Kreativität unübertreffbar. Es hatte keinen Wert, mich zu wehren oder abzuhauen. Ich legte das Buch zur Seite und seufzte. Unter anfeuernden Rufen stiessen sie Johannes mir entgegen. Er war immer der Schlimmste von allen gewesen. Seit Jahren hatte er mir das Leben zur Hölle gemacht. Wenn wir allein waren, ignorierte er mich, doch kaum waren andere in der Nähe, musste er beweisen, wie sehr er mich verabscheute. Nun hatte es ihn getroffen, mich zu küssen. Pech für ihn.

Er näherte sich mir. Ich blieb sitzen und blickte zu ihm hoch. Er öffnete den Mund, beugte sich zu mir hinunter, und ich sah seine Halsschlagader pochen. Die Rufe der anderen hatten sich zu einem tosenden Rhythmus verbunden: «Küss sie! Küss sie!» Und eine Sekunde fragte ich mich, warum der alte Kohlmann davon nicht aufwachte, aber der Gedanke war schnell verflogen. Irgendwann würde ich erwachsen sein, könnte der Menschheit den Rücken kehren und mich in meine geliebten Moore zurückziehen. Bis dahin hiess es ausharren.

Johannes war nun auf Augenhöhe mit mir, fuhr mit der Zunge über seine Lippen.

Dann spuckte er mir mitten ins Gesicht.

Ich erstarrte.

Ich spürte seinen Speichel über meinen Mund und mein Kinn laufen, hielt den Atem an.

Das begeisterte Gebrüll der anderen kannte keine Grenzen. Es bohrte sich in meine Gehörgänge, kroch in mein Gehirn, hämmerte auch Stunden später noch in meinem Kopf, nachdem die anderen längst eingeschlafen waren. «Küss sie! Küss sie!» hallte es nach im Rhythmus der Scham.

Jetzt, wo ich durchs Moor stapfte, dachte ich wieder zurück an jene Nacht in der Berghütte. Damals hatte ich meinen Entscheid gefällt. Und ich hatte ihn nie bereut.

Wieder zuckte ein Blitz durch die düstere Nacht, der Donner grollte und hallte in den Tälern des Hochmoors wider. Der Wind rüttelte an den Bäumen, fuhr wütend durch mein klatschnasses Haar. Der Strahl meiner Taschenlampe huschte über die Dornen, beleuchtete das geheime Leben der Nacht. Ein kleines Tier wurde aufgescheucht, quietschte und wuselte davon. Ich war von Kopf bis Fuss durchnässt, der Schneeregen war bis zu meiner Unterwäsche vorgedrungen, meine Socken klebten an meinen aufgeweichten Zehen, meine Schuhe schleppten schwere Erdbrocken mit sich.

Noch ein paar hundert Meter, dann hatte ich die Stelle erreicht. Eine wunderbare Gelassenheit breitete sich in mir aus. Je verrückter das Wetter spielte, desto tiefer meine Ruhe. Wahrer Frieden findet immer innen statt, das hatte mich mein Leben gelehrt. Die Blitze zerrissen die Dunkelheit, die Donner dröhnten im Sekundentakt durchs Moor. Es schneite nun richtige Flocken. Ein Schneegewitter, welch Geschenk der Natur. Bereits hatte sich ein weisses Fläumchen über den dunklen Boden gelegt.

Ich stieg den letzten kleinen Hügel hinunter, rutschte über nasses Laub, erkannte, dass ich angekommen war. Eine Birke, anders als die anderen. Krumm und wettergegerbt, mit mehreren Narben in der Rinde, von denen ich mir nicht erklären konnte, woher sie stammten. Um ihre Wunden hatte sich neues Material gebildet, das härter und widerstandsfähiger war als die unversehrten Stellen. Ich brauchte die Hintergründe nicht zu wissen. Der Baum hatte seine Geschichte, so wie ich meine. Entscheidend war, dass wir seelenverwandt waren, das hatte ich schon vor fünfundzwanzig Jahren gespürt. Und danach Jahr für Jahr wieder. Es war richtig, dass ich immer wieder kam. Gut Ding will Weile haben. Auch wenn ich meinen Zorn oft nicht unter Kontrolle habe, besitze ich, das mag widersprüchlich klingen, eine andere Charaktereigenschaft, auf die ich stolz bin: Geduld. Ja, ich kann warten. Nicht immer. Aber wenn es drauf ankommt. Manchmal muss man schnell handeln, zuschlagen, sich rächen, für Gerechtigkeit sorgen. Das verstehen Sie sicher. Doch es gibt Situationen im Leben, da ist etwas anderes gefragt. Da braucht es Durchhaltevermögen und Vertrauen in die Naturgesetze.

Immer an Allerseelen kehrte ich zurück zur vernarbten Birke, starrte auf die Erde, wissend, was darunter lag. Ich tat nichts, schaute nur. Als Tierpräparatorin kannte ich die Abläufe. Zuvor hatte ich Tests gemacht, erst mit Raben, dann mit Ratten. Ich hatte sie vergraben, ihnen eine kleine Schieferplatte beigelegt, auf der meine Entschuldigung stand, das war ich ihnen schuldig, denn sie waren für mich gestorben. Nach einer Weile habe ich sie exhumiert und analysiert. Alles war wunderbar erhalten geblieben, Schnauzhärchen, Federn, Krallen. Keine Verwesung, komplette Konservierung. Es funktionierte bei Tieren. Es würde auch bei Menschen funktionieren. Ich wusste, wie eine Torfleiche aussehen würde in fünf, zehn, fünfundzwanzig Jahren. In tausend Jahren.

Johannes. Jedes Haar, jedes Lachfältchen, ja, jeder seiner Pubertätspickel würde bestehen bleiben. Ich musste schmunzeln, als ich an ihn dachte. Nein, Johannes war auch keine Schönheit gewesen. Unter dem Druck seiner Schulkameraden hatte er mich gedemütigt. Selbstverständlich musste er dafür bestraft werden. Ich hatte ihn getötet, seine Leiche bei Nacht und Nebel in eine Decke gehüllt und auf dem Anhänger meines Mofas hierher gefahren. Den langen, letzten Teil durch den Morast hatte ich ihn getragen, hinter mir hergeschleift, ich als Klappergestell ohne nennenswerte Muskeln. Unglaubliche Energien hatte ich aufgebracht, aber ich hatte es geschafft. Ich vergrub ihn im Moor, übergab ihn der Erde, die ihn zu sich nehmen und aufbewahren würde, bis ich so weit war.

Und dieser Zeitpunkt war jetzt gekommen.

Denn ich hatte ihn gesehen, jenen letzen Blick, den Johannes mir damals zugeworfen hatte, bevor er mir, angestachelt von Tatjana, ins Gesicht gespuckt hatte. Ich nahm die Qual in ihm wahr, sich verstellen zu müssen, um von den anderen akzeptiert zu werden. Ich spürte, was sich darunter verbarg. Ich erkannte seine Liebe zu mir.

Nun öffnete ich meinen Wanderrucksack, entnahm ihm den Spaten und begann im Schneegestöber zu graben. Ich wusste genau, wo er war. Es dauerte Stunden, das kann ich Ihnen sagen, doch auch diesmal wurde ich von unbeschreiblicher Kraft beflügelt. Tief und tiefer wurde das Loch im Boden. Wie getrieben arbeitete ich, schwitzte vor Anstrengung und zitterte vor Kälte. Zum Glück war die Erde nicht gefroren, auch wenn sie beinhart war. Es ging bereits der Morgendämmerung entgegen, als ich es fühlte.

Ich stieg in die Bodenöffnung und arbeitete nun mit grosser Sorgfalt weiter. Da entdeckte ich es: ein Büschel aschblonder Haare. Ich wischte die Erde zärtlich mit der Hand zur Seite und befreite Johannes’ Kopf. Seine Stirn tauchte auf, seine Nase, seine Wangen. Er schaute aus, wie ich es mir gewünscht hatte. Die schwarze Lederhaut zeigte jeden seiner Gesichtszüge, die Augen waren geschlossen, die Lippen, die mich einst bespuckt hatten und mich so gern geküsst hätten, waren leicht geöffnet, die Zähne waren sichtbar.

Das Grab durfte nicht lange der Luft ausgesetzt werden. Ich bedeckte Johannes’ Körper wieder mit Erde. Begrub Spaten und Rucksack. Dann stieg ich ins Loch hinein und schüttete mich zu. Mit der Hand fuhr ich über den Boden, holte die Erde, die mich bedecken sollte. Meine Füsse verschwanden im Untergrund, dann meine Beine, dann mein Bauch. Ich vergrub meinen Körper von unten nach oben, wärend die Schneeflocken auf mir landeten und sich mit der nassen Erde zu einer schweren Masse vermischten. Bald hatte ich es geschafft. Am Schluss legte ich meinen Kopf schräg in die kleine verbliebene Öffnung. Er passte perfekt hinein. Ich schloss die Augen.

Ich war glücklich wie nie zuvor. Und gleichzeitig müde, so müde. Ich nahm einen Atemzug, dann noch einen, dann keinen mehr. Ich schüttete die letzte Handvoll Erde über mein Gesicht, zog meine Hand in die Tiefe. Fühlte, wie der Schnee alles bedeckte, wie er sich als sanftes Leichentuch auf mich legte. Es wurde schwer auf meinen Augen. Dumpf in meinen Ohren. Kalt in meinen Knochen. Ich begann zu erstarren.

Das Moor würde wachsen, sich verdichten, Jahr für Jahr. Die Torfschichten würden sich über alles legen, das darunter war. Ich wurde zur Moorleiche, nur eine Armlänge von Johannes entfernt. Etwas Schöneres konnte ich mir nicht vorstellen. Mein Leben lang hatte ich keine Freunde gehabt. Nun hatte ich einen Gefährten für die Ewigkeit.

Neue Zuger Zeitung, 5. November

Schockierende Entdeckung im Zugerberger Hochmoor. Wie die Zuger Kantonspolizei mitteilte, haben vier alkoholisierte Männer auf einem nächtlichen Streifzug während des gestrigen Unwetters eine Leiche im Moor gefunden. Die Exkursion sei Teil einer Mutprobe gewesen, wie einer der Beteiligten berichtet. Laut ersten Aussagen der Spurensicherung müsse von einem Verbrechen ausgegangen werden.

Dies sei ein aussergewöhnlicher und seltener Fund, berichtete der Pressesprecher der Polizei. Die Frage, ob mit weiteren Leichen in der Umgebung gerechnet werden müsse, verneinte er. Das sei sehr unwahrscheinlich. Bei der Toten handelt es sich um eine weibliche Jugendliche mit feuerrotem Haar, die möglicherweise bereits vor Jahrzehnten umgekommen sei.

Grausiges Detail: Die Moorleiche hielt eine kleine Schieferplatte in ihren Händen, auf der die Worte eingeritzt waren: «Ich heisse Tatjana. Küss mich!»

Mord in Switzerland Band 2

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