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Timo Hoyer Pop, Pop, Antipop. Weshalb nicht alles, was dafür gehalten wird, Popmusik ist. 1. Was ist Popmusik? Sokrates und Menon im Gespräch

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Einmal angenommen, Sokrates wäre unser musikinteressierter Zeitgenosse. Und weiter angenommen, er würde Menon nicht, wie in Platons Dialog, nach dem Wesen der areté befragen, sondern ihn folgenderweise zur Rede stellen: „Bei den Göttern, Menon, was sagst du, was Popmusik sei?“ Wie würde der sophistisch geschulte Menon antworten? Vertraut man der Darstellung Platons, dann würde er wohl eine ganze Palette verschiedener Spielarten aufzählen: Popmusik unterschiedlicher Zeiten, Genres, Kulturen. Schön, schön, würde Sokrates erwidern, das mögen allerlei Erscheinungsformen und Einzelfälle von Popmusik sein, doch was Popmusik eigentlich ist, wissen wir noch immer nicht. Sokrates sucht nach dem gemeinsamen Substrat in der Vielfalt, er möchte die Essenz der Sache auffinden, also das, was übrigbleibt, wenn die der Zeit und dem Zufall geschuldeten Äußerlichkeiten und Akzidenzien verschwunden sind: Das Wesen einer Sache.

Die metaphysischen Denkvoraussetzungen, auf die sich die ontologische Philosophie der Antike, namentlich Platon und Aristoteles, verließen, haben ihre Geltungskraft in der Moderne weitgehend eingebüßt. Doch sobald wir die Frage aufwerfen, was eine Sache ist, reihen wir uns in die philosophische Linie ein, an deren Anfang das ontologische Paradigma steht (vgl. MARTENS/SCHNÄDELBACH 1985).

Was ist Popmusik? Ein moderater Platonismus, der durch die Bewusstseins- und Sprachphilosophie hindurchgegangen ist und der die poststrukturalistische Kritik an Ontologisierungen aufgenommen hat, wird nicht mehr erwarten, dass im Durchdenken dieser Frage irgendwann das zeitlose Wesen der Popmusik aufscheine. Unbefriedigend bleiben alle Versuche, der Musik eine ahistorische Seinsweise zu attestieren, wozu Ontologien allerdings neigen (siehe neuerdings HINDRICHS 2014). Sokrates war clever genug, die analytische Klärung der Was ist-Frage aporetisch ausklingen zu lassen. So konnte er gedankliche Ungereimtheiten und Begriffsverwirrungen aufdecken und zugleich das Nachdenken über das Sein des Seienden in Bewegung halten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger wäre vom sokratischen Standpunkt aus betrachtet von der Frage, was ist Popmusik, zu erwarten.

Sokrates ließ seinen Gesprächspartner Menon wie einen philosophischen Tölpel aussehen. Das ist allerdings unfair. Menon verhält sich nicht unvernünftig, wenn er die klärungsbedürftige Sache dort aufsucht, wo sie einem alltagspraktisch begegnet: in der empirischen, kontingenten Wirklichkeit. Zur Beschreibung der fraglichen Sache benötigt er keine langwierige Begriffsdefinition, schon gar keine essentialistische oder ontologische. Ihm reicht ein mit dem allgemeinen Menschenverstand verträgliches Verständnis des Gegenstandes. Ein standfesterer Menon als der von Platon geschilderte, müsste sich nicht von Sokrates an der Nase herumführen lassen. Er könnte vielmehr erklären, die Philosophen sollten sich seinethalben so lange sie wollen über das Wesen der Sache ihren ontologischen Kopf zerbrechen, er jedoch lasse sich unterdessen nicht davon abhalten, das, was üblicherweise für die Sache gehalten wird, als eine empirische Tatsache anzuerkennen und zu untersuchen.

In Menons Art verfährt ein Großteil der gegenwärtigen empirischen Popmusikforschung. Beispielsweise Matthias Mauch und seine Mitarbeiter, die Strukturmerkmale der nordamerikanischen Popmusik von 1960 bis 2010 untersucht haben (MAUCH et al. 2015). Solche Arbeiten sind aufschlussreich, auch wenn ihnen kein scharfer Begriff von Popmusik zugrunde liegt. Indem sie hohe Hitlisten-Platzierungen kurzerhand mit Popmusik gleichsetzen, tragen sie gleichwohl – gewollt oder ungewollt – dazu bei, ihren Gegenstand zu definieren. Die Entwicklung der Popmusik spielt sich nach der Untersuchung Mauchs offenbar ausschließlich in den Hitparaden ab. Gegen solch einen naiven Empirismus wäre Sokrates wiederum zu Felde gezogen. Und das mit Recht!

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