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[99]Ingo Schulz-Schaeffer

Atomismus versus Holismus: Wie entsteht das Soziale?

1.Einleitung

Ist das Ganze durch die Eigenschaften seiner Teile bestimmt? Lässt sich das Ganze dementsprechend aus den Eigenschaften seiner Teile erklären? Auffassungen, die diese Fragen bejahen, werden unter dem Begriff des Atomismus zusammengefasst. Ist man dagegen mit Aristoteles der Auffassung, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile,1 dann vertritt man eine holistische Position. Aus einer holistischen Position muss man nicht abstreiten, dass »das Ganze«, das Gegenstand der Betrachtung ist, aus Teilen besteht. Die holistische Auffassung besagt lediglich, dass das Ganze als Ganzes Eigenschaften besitzt, die nicht aus den Eigenschaften seiner Teile abgeleitet werden können, so genannte emergente Eigenschaften (vgl. Esfeld 2003).

Die Ganzheiten, um die es in soziologischen Beschreibungen und Erklärungen geht, sind Kollektivphänomene vielfältiger Art: soziale Gebilde wie Interaktionsbeziehungen, Organisationen, soziale Bewegungen, Nationalstaaten oder das Weltwirtschaftssystem; soziale Institutionen wie die Familie, der Links- bzw. Rechtsverkehr oder das Gesundheitswesen; und soziale Prozesse wie die Säkularisierung, die Selbstreproduktion gesellschaftlicher Eliten oder die Ethnisierung sozialer Konflikte. Die Frage, von welcher Art die Teile sind, aus denen die Kollektivphänomene des Sozialen bestehen, wird in der Soziologie unterschiedlich beantwortet. Die Antwort auf diese Frage hängt von sozialtheoretischen Grundannahmen ab, bezüglich derer es beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der Soziologie keine Einigkeit gibt. Von besonderem Gewicht sind vier sozialtheoretische Positionen: Handlungstheorie, Interaktionismus, Praxistheorie und – im deutschsprachigen Diskurs – systemtheoretische Kommunikationstheorie. Die handlungstheoretische Position lautet, die Soziologie habe »das Einzelindividuum und sein Handeln als unterste Einheit, als ihr ›Atom‹« (Weber 1988 [1922]: 439) zu behandeln. Der Interaktionismus argumentiert, dass die Einzelhandlung keine eigenständige Sinneinheit sei, sondern ihren Sinn daraus bezieht, dass sie Bestandteil von Interaktionen ist, weshalb die Interaktion als Grundelement des Sozialen zu betrachten sei (vgl. Strauss 1993: 25). Der Praxistheorie zufolge beruht das Soziale viel eher auf den stillschweigenden Selbstverständlichkeiten inkorporierten Wissens und Könnens – auf Praktiken also – als auf ausdrücklich intentional gesteuerten Handlungen. Die Systemtheorie Luhmann’scher Prägung schließlich hält dafür, dass alles Soziale aus Kommunikationen besteht. [100]Das Soziale liegt demnach in Gestalt sozialer Systeme vor, die als sinnprozessierende Systeme aus Einheiten sozialen Sinns bestehen: aus Kommunikationen.

Die Wahl der sozialtheoretischen Grundposition und die damit verbundene Entscheidung, was als Grundelement des Sozialen in den Blick genommen wird, hat einen Einfluss darauf, wie atomistisch oder holistisch eine soziologische Beschreibung oder Erklärung ausfällt. Bildet der systemtheoretische Kommunikationsbegriff das sozialtheoretische Fundament, dann ist damit unausweichlich zugleich auch eine holistische Betrachtungsweise des Sozialen verbunden. Denn das zentrale Merkmal der als Kommunikationen bezeichneten sozialen Sinneinheiten besteht darin, dass sie emergente Phänomene des Sozialen sind: dass der Sinn, der auf der Ebene der Kommunikationsprozesse generiert und prozessiert wird, genuin sozialer Sinn ist und nicht auf den Sinn zurückgeführt werden kann, den die Kommunikationsteilnehmer auf der Ebene ihres Bewusstseins als psychischen Sinn generieren und prozessieren. Auch der Interaktionismus und die Praxistheorie konzipieren ihr jeweiliges Verständnis der Grundelemente des Sozialen zumeist in einer Weise, die zu einer holistischen Betrachtungsweise des Sozialen führt. Ich komme darauf zurück. Einzig das handlungstheoretische Verständnis der Grundelemente des Sozialen enthält keine Festlegung auf holistische Erklärungen. Atomistische Erklärungen des Sozialen besitzen dementsprechend ganz überwiegend ein handlungstheoretisches Fundament. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass die Wahl einer handlungstheoretischen Perspektive atomistische Erklärungen des Sozialen erzwingt. Auch darauf komme ich noch zurück.

2.Argumente für den Holismus

Der markanteste Vertreter holistischer Erklärungen des Sozialen aus der Gründerzeit der Soziologie ist Émile Durkheim. Er ist es, dessen Herangehensweise wir mit dem von René König geprägten Leitsatz verbinden, »Soziales nur durch Soziales zu erklären« (König 1984: 21).2 Durkheim argumentiert, dass die Regelmäßigkeiten der Natur und die Regelmäßigkeiten des Sozialen ganz unterschiedliche Grundlagen haben. Physikalische Gesetze sind allgemein, weil sie Zusammenhänge beschreiben, die in jedem zugehörigen Einzelfall so ablaufen. Die Allgemeinheit sozialer Regelmäßigkeiten kommt dagegen genau umgekehrt zustande: Ein entsprechendes soziales Phänomen ist allgemein, »weil es kollektiv (d. h. mehr oder weniger obligatorisch) ist; und nicht umgekehrt ist es kollektiv, weil es allgemein ist. Es ist ein Zustand der Gruppe, der sich bei den Einzelnen wiederholt, weil er sich ihnen aufdrängt.« (Durkheim 1984 [1895]: 111) Das Muster der atomistischen Herleitung physikalischer Gesetze lässt sich Durkheim zufolge also nicht auf soziale Phänomene übertragen. Diese lassen sich nur holistisch erfassen, denn die gemeinsam geteilten Anschauungen und Normen des Kollektivs gehen den Anschauungen und Überzeugungen des Einzelnen voraus und bestimmen diese.

Durkheim begründet seine holistische Sichtweise des Sozialen in Auseinandersetzung mit der atomistischen Auffassung, »daß alle sozialen Beziehungen sich auf den Vertrag zurückführen lassen« (Durkheim 1988 [1893]: 450). Das vertragstheoretische Denken ist eine atomistische Herleitung des Sozialen, weil es alle sozialen und gesellschaftlichen Strukturen auf Vereinbarungen zwischen Individuen zurückführt, welche die Individuen zum Zwecke der Verfolgung ihrer individuellen [101]Interessen miteinander eingehen. Heute verbinden wir die vertragstheoretische Herleitung des Sozialen vor allem mit Thomas Hobbes und seinem Hauptwerk Leviathan (vgl. Hobbes 1980 [1651]: 112 ff., 155 ff.), Durkheim bezieht sich hingegen vorwiegend auf vertragstheoretische Überlegungen von Jean-Jacques Rousseau und Herbert Spencer. Gegen die Vorstellung, dass das Soziale seinen Ursprung und seine Grundlagen in der Übereinstimmung der Interessen von Individuen hat, die in Verträgen ihren Ausdruck findet, argumentiert Durkheim,

daß jede Interessenharmonie einen latenten oder einfach nur vertagten Konflikt verdeckt. Denn wo das Interesse allein regiert, ist jedes Ich, da nichts die einander gegenüberstehenden Egoismen bremst, mit jedem anderen auf dem Kriegsfuß, und kein Waffenstillstand kann diese ewige Feindschaft auf längere Zeit unterbrechen. Das Interesse ist in der Tat das am wenigsten Beständige auf der Welt. Heute nützt es mir, mich mit Ihnen zu verbinden; morgen macht mich derselbe Grund zu Ihrem Feind. Eine derartige Ursache kann damit nur zu vorübergehenden Annäherungen und zu flüchtigen Verbindungen führen. (Durkheim 1988 [1893]: 260)

Wenn die Interessen der Beteiligten die einzige Grundlage der Einhaltung von Verträgen wären, dann wären Verträge nicht besonders haltbar und auf keinen Fall ein denkbares Fundament sozialer Ordnung. Vielmehr ist es Durkheim zufolge so, »daß der Vertrag, wenn er eine bindende Kraft besitzt, diese der Gesellschaft verdankt. […] Jeder Vertrag setzt […] voraus, daß hinter den vertragschließenden Parteien die Gesellschaft steht, die einzugreifen bereit ist, um den von diesen Parteien eingegangenen Verpflichtungen Respekt zu verschaffen.« (ebd.: 165) Die inhärente Instabilität von Vereinbarungen, deren einzige Grundlage die Interessen der Beteiligten ist, hat zur Konsequenz, »daß der Vertrag sich nicht selber genügt; er ist nur möglich dank einer Reglementierung des Vertrags, die sozialen Ursprungs ist« (ebd.: 272). Es ist also »nicht alles […] vertraglich beim Vertrag« (ebd.: 267; vgl. ebd.: 450). Diese Formulierung aufgreifend, spricht Talcott Parsons von dem »nicht-vertraglichen Element im Vertrag« (Parsons 1968 [1937]: 319).3

Talcott Parsons ist es auch, der Durkheims Überlegungen systematisiert und zu einem ausgearbeiteten Argument gegen die Möglichkeit einer atomistischen Erklärung der sozialen Ordnung aus individuellen Interessen weiterentwickelt. Parsons bezieht sich dabei vor allem auf die Überlegungen von Thomas Hobbes, was schon damit beginnt, dass er die Frage, wie in einer Gemeinschaft von Akteuren, die in ihrem Handeln eigene Ziele verfolgen, soziale Ordnung möglich ist, als das Hobbes’sche Problem bezeichnet (Parsons 1968 [1937]: 94, 314, 357): In Abwesenheit einer normativen Ordnung und unter der Bedingung, dass die Akteure danach streben, eigene Ziele zu realisieren, wäre ein Zustand des Krieges aller gegen alle die notwendige Folge. Alle Akteure würden zwangsläufig danach streben, durch List oder Gewalt Macht über andere Akteure zu gelangen, um sich diese im Interesse ihrer eigenen Ziele dienstbar zu machen (vgl. ebd.: 92; Hobbes 1980 [1651]: 112 ff.). Eine rein utilitaristische, d. h. auf individuellen Nutzenerwägungen beruhende Gesellschaft wäre also »chaotisch und unstabil, weil sie sich mangels Beschränkungen im Gebrauch von Handlungsmitteln – insbesondere von Gewalt und Betrug – notwendig in einen grenzenlosen Machtkampfverwandeln würde« (Parsons 1968 [1937]: 93 f.). Hobbes zufolge gibt es nur einen möglichen Ausweg aus diesem Problem: In Form eines Gesellschaftsvertrags, d. h. eines Vertrages »eines jeden mit einem jeden« (Hobbes 1980 [1651]: 155), einigen [102]sich die Gesellschaftsmitglieder aus eigenem Interesse darauf, »ihre natürliche Freiheit an eine hoheitliche Autorität abzugeben, die ihnen im Gegenzug Sicherheit garantiert, also Schutz gegen gewaltsame oder betrügerische Angriffe durch andere« (Parsons 1968 [1937]: 90; vgl. Hobbes 1980 [1651]: 155 f.).

Das zentrale Problem dieser Lösung ist, dass jene zentrale Autorität dem Einfluss des interessengeleiteten Handelns der Akteure entzogen sein muss, um unter den genannten Bedingungen soziale Ordnung garantieren zu können. Dann aber kann sie in ihrer Entstehung und in ihrem Fortbestand nicht utilitaristisch – also als Resultat von individuellen Nützlichkeitsüberlegungen – erklärt werden, wie es Hobbes vorschlägt.4 Dieser Einwand, der in großer Klarheit in Richard Münchs Rekonstruktion der Handlungstheorie Parsons’ dargelegt wird (vgl. Münch 1982: 35–37), führt Parsons zu dem Schluss, dass es auf einer strikt utilitaristischen Grundlage keine Lösung für das Problem der sozialen Ordnung gibt (Parsons 1968 [1937]: 93).

Aus der Tatsache, dass Gesellschaften mit hinreichend stabiler sozialer Ordnung existieren, folgt im Umkehrschluss dann, dass die Individuen ihre Ziele nicht ausschließlich auf der Grundlage ihrer jeweiligen Nutzenüberlegungen bestimmen. Denn aus der Existenz sozialer Ordnung folgt, dass die Akteure gemeinsame Ziele verfolgen, diese Gleichgerichtetheit kann nach dem zuvor Gesagten aber nicht Ergebnis individueller Nutzenüberlegungen sein. Erklärbar wird die Existenz sozialer Ordnung dagegen, wenn man annimmt, dass die Ziele der Akteure gar nicht so individuell zweckbezogen generiert werden wie Hobbes und andere Vertragstheoretiker unterstellen, sondern unter dem Einfluss gemeinsamer Wertorientierungen. Diese Annahme, so Parsons, »eröffnet einen Weg, die Grundlage gesellschaftlicher Ordnung als ›immanent‹, im Charakter der Gesellschaft selbst angelegt, zu interpretieren« (Parsons 1968 [1937]: 238). Dies wiederum entspricht genau der Auffassung Durkheims, dass die Allgemeinheit sozialer Phänomene ihren Ursprung im Kollektiv hat und nicht in den Individuen: Das soziale Leben ist »unmittelbar aus dem kollektiven Sein abzuleiten« (Durkheim 1984 [1895]: 203), und zwar »deshalb, weil das soziale Leben der besonderen Formung entspringt, der die einzelnen Psychen vermöge der Tatsache ihrer Assoziation unterliegen und aus der eine neue Existenzform entsteht« (ebd.).

Die Annahme der gesellschaftlichen Vorgegebenheit normativer Strukturen ruft allerdings den Einwand hervor, dass man sich damit der Möglichkeit begibt, die Entstehung der – in ihrer Existenz dann immer bereits vorausgesetzten – normativen Zusammenhänge zu erklären. Um die Entstehung normativer Strukturen zum Gegenstand soziologischer Theoriebildung machen zu können, müsse man, so James S. Coleman, mit einer Handlungstheorie beginnen, die von Individuen ausgeht, welche sich »unbeeinträchtigt von Normen und völlig eigennützig verhalten« (Coleman 1991: 38). Dann aber bleibt das Hobbes’sche Problem weiterhin ein Problem, für das nach einer atomistischen Lösung gesucht werden muss.

Ein Lösungsweg, der von Coleman (1991: 350 ff.) vorsichtig beschritten und von Hartmut Esser (2000: 316 ff.) sehr optimistisch aufgegriffen worden ist, beruht darauf, das Hobbes’sche Problem als ein Problem der Bereitstellung von Kollektivgütern zu reformulieren. Kollektivgüter (oder öffentliche Güter) sind dadurch definiert, dass sie auch von denen genutzt werden können, die zu ihrer Bereitstellung nicht beitragen. Akteure, die profitieren ohne beizutragen, werden als Trittbrettfahrer bezeichnet. Die soziale Ordnung, also etwa der Umstand, dass man sich darauf verlassen kann, dass Verträge eingehalten werden, ist in diesem Sinne ein Kollektivgut. Das [103]Hobbes’sche Problem ist somit ein Trittbrettfahrer-Problem: Für jeden Einzelnen ist es unter individuellen Nutzengesichtspunkten am vernünftigsten Trittbrettfahrer zu sein. Dann aber kommt es gar nicht erst zur Produktion von Kollektivgütern bzw. zur unweigerlichen Zerstörung eines jeden Kollektivgutes, das aus welchen Gründen einmal existiert. Die Sanktionen, die eingeführt werden, um Akteure vom Trittbrettfahren abzuhalten, lassen sich als Kollektivgüter zweiter Ordnung fassen. Denn die Wirkung der Sanktionen kommt ja ebenfalls allen und auch denen zugute, die sich an den Sanktionskosten nicht beteiligen. Das Sanktionsproblem, also das Problem der Sicherstellung der Sanktionierung, ist dementsprechend das zugehörige »Trittbrettfahrerproblem zweiter Ordnung« (Coleman 1991: 350). Coleman argumentiert nun, dass »das Sanktionsproblem weniger kostenaufwendig [ist] als das ursprüngliche Problem« (ebd.: 352), weil den Sanktionskosten ja auch ein Nutzen gegenübersteht, nämlich der Nutzen des Kollektivgutes erster Ordnung, dessen Existenz durch die Sanktionierung sichergestellt wird. Dies rechnet sich dann gegebenenfalls auch aus der Perspektive des individuellen Akteurs, dann nämlich, wenn sich genügend Nutznießer des Kollektivgutes erster Ordnung darauf einigen, sich die Sanktionskosten zu teilen. Eine solche Einigung aber, so Coleman, »ist von der Existenz sozialer Beziehungen zwischen den Nutznießern abhängig« (ebd.: 353). Sie ist mit anderen Worten eine soziale Bindung, die jeder einzelne Beteiligte auch gegen einen größeren individuellen Vorteil durchhalten muss, den er als Trittbrettfahrer erzielen könnte. So führen auch diese Überlegungen letztlich nicht zu einer Lösung des Hobbes’schen Problems allein auf der Grundlage des normfreien und eigennützigen Akteurs (vgl. auch Schulz-Schaeffer 2007: 161 f., Anm. 81).

Die vorangegangenen Überlegungen für eine holistische Erklärung sozialer Phänomene stützen sich vor allem auf eine negative Beweisführung, um zu begründen, dass man von dem immer bereits gesellschaftlich geprägten Individuum ausgehen müsse: auf den Nachweis der Unmöglichkeit, soziale Ordnung auf der Grundlage normfreien, individuell eigennützigen Handelns zu erklären. Es bleibt dabei unerklärt, wie diese vorgängige gesellschaftliche Prägung der Individuen ihrerseits entstanden ist.

Eine solche Erklärung bietet George Herbert Mead an. Seiner Auffassung nach ist die gesellschaftliche Geprägtheit der Individuen ein Produkt der Evolution, ein evolutionäres Erbe, das die Menschheit in modifizierter Form aus dem Tierreich übernimmt: Allgemein ist es von Vorteil, so Mead, wenn Lebewesen einer Art zusammenarbeiten, weil sie sich auf diese Weise besser schützen und ernähren und den Nachwuchs besser aufziehen können. Deshalb bilden sich bereits bei recht einfachen Lebewesen zum Teil recht komplexe Formen der Zusammenarbeit heraus wie dies etwa in Insektengesellschaften der Fall ist. Um ihr Verhalten erfolgreich koordinieren zu können, brauchen die Tiere dabei den Sinn ihres Handelns nicht zu verstehen und müssen dementsprechend auch kein Bewusstsein besitzen (vgl. Mead 1968 [1934]: 56). Die Verhaltensweisen der Einzelindividuen sind zunächst vielmehr über einfache Reiz-Reaktions-Mechanismen miteinander gekoppelt. Der »grundlegende Mechanismus, durch den der gesellschaftliche Prozess angetrieben wird«, so Mead (1968 [1934]: 52), »ist der Mechanismus der Geste, der die passenden Reaktionen auf das Verhalten der verschiedenen individuellen Organismen ermöglicht, die in einen solchen Prozeß eingeschaltet sind. […] Gesten sind Bewegungen des ersten Organismus, die als spezifische Reize auf den zweiten Organismus wirken und die (gesellschaftlich) angemessene Reaktion auslösen.« Auf diese Weise wird individuelles Verhalten zu Verhaltenszusammenhängen verknüpft, welche Mead als gesellschaftliche Handlungen bezeichnet. Die Gesten haben dabei die Funktion, »Reaktionen der anderen hervorzurufen, die selbst wiederum Reize für eine neuerliche Anpassung werden, bis schließlich die endgültige gesellschaftliche Handlung zustande kommt« (ebd.: 83).

Im Laufe der evolutionären Entwicklung werden aus Gesten signifikante Symbole, also sprachliche Äußerungen und andere sinnhafte Zeichenhandlungen, über die dann in menschlichen [104]Gesellschaften die Koordination der gesellschaftlichen Handlungen erfolgt. Dabei behält das signifikante Symbol aber die Funktion der Geste, einzelne Handlungen zu gesellschaftlichen Handlungen zu verketten. Und so wie der Sinn der Tiergesten in den gesellschaftlichen Handlungen liegt, die mit ihrer Hilfe zustande kommen, so leitet sich auch der Sinn der signifikanten Symbole aus den gesellschaftlichen Handlungen ab, die die Individuen zustande bringen, indem sie sich in ihrem Verhalten an diesen Symbolen orientieren. Ebenso wie das reizgesteuerte Verhalten der Tiere sind deshalb auch die durch signifikante Symbole gesteuerten menschlichen Handlungsweisen »sinnlos außerhalb der gesellschaftlichen Handlungen, in die sie eingebettet sind und aus denen sie ihre Signifikanz ableiten« (ebd.: 130). Daran ändert für Mead auch der Umstand nichts, dass dieser Sinn nun als Sinn vorliegt, auf den die Individuen bewusst reflektieren können: »Es gibt einen gemeinsamen Lebensprozeß seitens aller Mitglieder der Gemeinschaft, der mit Hilfe von Gesten abläuft. Die Gesten sind bestimmte Stadien innerhalb dieser kooperativen Tätigkeit, die den ganzen Prozeß lenken. Beim Auftreten von Geist wurde dieser Prozeß lediglich bis zu einem gewissen Grad in das Verhalten des Einzelnen hereingenommen.« (ebd.: 231).

Sicherlich ist Meads funktionalistisch-evolutionstheoretische Betrachtung menschlicher Handlungszusammenhänge überholt. Man wird kaum noch ernsthaft behaupten wollen, dass menschliche Handlungszusammenhänge ihre Existenz dem Umstand verdanken, dass sie den Überlebenserfolg der Gattung verbessern. Der bleibende Wert der Überlegungen Meads besteht vielmehr darin, dass sie eine Erklärung der Entstehung sowohl der Gesellschaft wie des Individuums bieten, die vermeidet, das eine voraussetzen zu müssen, um das andere erklären zu können: Wenn sinnhaftes individuelles Handeln sich sukzessiv aus dem gestengesteuerten Verhalten heraus entwickelt hat, mittels dessen Tiere ihr Zusammenwirken koordinieren, dann bedeutet dies erstens, dass sich ein durch bewusstlose Reiz-Reaktions-Mechanismen hervorgebrachter gesellschaftlicher Zusammenhang schrittweise in einen durch gemeinsam geteilte Sinnstrukturen gewährleisteten gesellschaftlichen Zusammenhang verwandelt. Und es bedeutet zweitens, dass das bewusstseinsfähige menschliche Subjekt selbst ein Produkt dieses Wandlungsprozesses ist. Dementsprechend ist es dann auch nicht mehr erforderlich, die Entstehung gesellschaftlicher Ordnung aus einem Anfangszustand normfreier, eigennütziger Akteure zu erklären. Einen solchen Anfangszustand hat es nie gegeben, sondern einen Prozess der sukzessiven Ablösung von Instinkten und Prägungen durch normative Regulierungen und andere sinnhafte Verhaltenssteuerungen, einen Prozess, währenddessen auch die Möglichkeit des individuell eigennützigen Handelns erst entstanden ist (vgl. Mead 1968 [1934]: 267, 279 f.).

Meads Auffassung, dass Einzelhandlungen nicht für sich existieren, sondern als Bestandteile von gesellschaftlichen Handlungen entstehen, von denen sich ihre jeweilige Bedeutung ableitet, ist im symbolischen Interaktionismus aufgegriffen und auf das Verhältnis von Handlung und Interaktion übertragen worden. Die Aussage lautet nun: Handlungen sind stets in Interaktionen eingebettet und beziehen daraus ihre jeweilige Bedeutung. Anselm Strauss zufolge ist dies die inzwischen allgemein geläufige Sichtweise:

wenn Sozialwissenschaftler ihre Forschungen durchführen, setzen sie gewiss voraus, dass das Handeln in Interaktionen und in Sinnsysteme eingebettet ist. Nur die wenigen Theoretiker, die über das Handeln an sich schreiben (so wie Weber, Schütz und Parsons) tendieren dazu, mit der Handlung zu beginnen, mit einer separaten Insel des Handelns; nicht mit der Annahme, dass Interaktion das vorgeordnete, zentrale Konzept ist, und auch nicht mit der Annahme, dass es ein analytisches Artefakt darstellt, das Handeln von der Interaktion zu trennen. Natürlich handelt eine Person […], aber diese jeweiligen Handlungen sind eingebettet in ein Netzwerk von Interaktionen. (Strauss 1993: 25)

[105]Der evolutionstheoretische Begründungszusammenhang spielt hier keine Rolle mehr, die Abge-leitetheit der Bedeutung von Handlungen aus dem Interaktionszusammenhang gewinnt vielmehr den Stellenwert eines empirischen Grundsachverhalts. Es gibt, so Strauss, »jedenfalls nach der sehr frühen Kindheit so gut wie kein Handeln, bei dem die Handlung von der Interaktion getrennt ist« (ebd.: 22). Weil menschliches Handeln empirisch gesehen ganz überwiegend im Kontext der Interaktion mit anderen Menschen erfolgt, ergibt sich auch die Bedeutung des Handelns dann jeweils erst im Kontext des betreffenden Interaktionszusammenhanges. Dieser Grundsachverhalt wird im symbolischen Interaktionismus dahingehend verallgemeinert, dass alle Sinnmuster und Sinngehalte, die der natürlichen wie der sozialen Welt ihre von den Akteuren wahrgenommene Bedeutung verleiht, interaktiv erzeugt sind: »Für den symbolischen Interaktionismus sind Bedeutungen«, so Herbert Blumer (1973 [1969]: 83 f.), »soziale Produkte, sie sind Schöpfungen, die in den und durch die definierenden Aktivitäten miteinander interagierender Personen hervorgebracht werden.«

Ähnlich wie der Interaktionismus vertritt auch die Praxistheorie die Auffassung, dass das »Ganze« des Handlungszusammenhanges dem »Atom« der Einzelhandlung vorausgeht. Die Begründung dafür, dass soziale Praktiken und nicht Einzelhandlungen »die kleinste Einheit der sozialwissenschaftlichen Analyse« (Reckwitz 2004: 318) sind, entspricht der eben präsentierten Argumentation: Die Bedeutung einer Handlung liefert die soziale Praxis, in die die jeweilige Tätigkeit eingebettet ist. So wird beispielsweise die kreisende Bewegung eines Holzlöffels in einem Kochtopf erst im Rahmen einer bestimmten Kochpraxis, die dieser Tätigkeit einen spezifischen Sinn verleiht, zur Handlung des Umrührens. »Folglich setzt die Handlung die betreffende Praxis voraus. Tatsächlich ist sie ein Moment der Praxis.« (Schatzki 2002: 96) Mit dieser Sichtweise setzt sich die Praxistheorie ebenso wie der Interaktionismus von einem atomistischen und individualistischen Handlungsbegriff ab (Reckwitz 2004: 320 f.).

Die Praxistheorie ähnelt dem Interaktionismus auch darin, dass die Praktiken als soziale Produkte betrachtet werden. Eigenständigkeit gegenüber interaktionistischem Denken gewinnt die Praxistheorie vor allem dadurch, dass sie diesen sozialen Produktionsprozess als einen Prozess ansieht, der sich ohne die bewusste Aufmerksamkeit der Akteure, gleichsam hinter ihrem Rücken vollzieht. Jede soziale Praxis ist aus praxistheoretischer Perspektive eine gemeinsame Gepflogenheit, die im stillschweigenden Wissen und Können der Beteiligten verankert ist. Dementsprechend bildet das gemeinsam geteilte stillschweigende Wissen und Können die unexplizierte Grundlage, die dem menschlichen Denken und Handeln ihren Sinn verleiht (vgl. Taylor 1995: 174; Schatzki 2001: 2 f.). Diese Position findet ihr theoretisches Fundament in der Überlegung von Ludwig Wittgenstein, dass es unmöglich ist einer expliziten Regel zu folgen, wenn man nur die Regel selbst kennt (und alle weiteren Regeln, die festlegen, wie die erste Regel (und alle weiteren Regeln) angewendet werden). Denn jede weitere Regel, die Fragen der Anwendung der ersten Regel regelt, ruft selbst wieder entsprechende Fragen hervor. Tatsächlich, so Wittgenstein, stützt man sich, wenn man einer expliziten Regel folgt, immer auf Gebräuche und Gepflogenheiten, die der Regel erst ihren spezifischen Sinn verleihen. »Darum ist ›der Regel folgen‹ eine Praxis.« (Wittgenstein 1984 [1953]: 345)

Menschliches Verhalten nach dem Modell des bewussten und absichtsvollen Handelns erfassen zu wollen, ist aus praxistheoretischer Perspektive Ausdruck eines intellektualistischen Fehlschlusses (vgl. Reckwitz 2003: 290). Mit der Betonung des überwiegend impliziten und inkorporierten Charakters menschlichen Wissens und Könnens, verfolgen praxistheoretische Autoren das Anliegen, dieser Vorgehensweise zu Leibe zu rücken. Dieses Anliegen steht bereits im Zentrum der praxistheoretischen Überlegungen von Pierre Bourdieu. Bourdieu zufolge ist menschliches Verhalten wesentlich durch die Fähigkeit gekennzeichnet, »unabsichtlich und ohne bewußte [106]Befolgung einer ausdrücklich als solcher postulierten Regel sinnvolle und geregelte Praktiken hervorzubringen« (Bourdieu 1992: 99). Diese Fähigkeit führt Bourdieu auf sozialisatorische Prägungen zurück, die sich im Einzelnen als Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensdispositionen niederschlagen und zusammen den Habitus der Person bilden. Sie bilden ein stillschweigendes, ein implizites Wissen und Können, das die Akteure befähigt »jenseits ausdrücklicher Reglementierung und des institutionalisierten Aufrufs zur Regel geregelte Praktiken und Praxisformen hervorzubringen« (Bourdieu 1979: 215).

In Gestalt der Habitus-Feld-Theorie entwickelt Bourdieu aus seinen praxistheoretischen Grundüberlegungen eine holistische Sichtweise gesellschaftlicher Reproduktion, die über die Annahme eines Vorrangs von Handlungszusammenhängen gegenüber Einzelhandlungen weit hinausgeht: Die Dispositionen des Habitus sind sedimentierte Formen früheren Handelns und Erlebens in Gestalt dauerhaft eingeprägter Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, welche die Akteure dazu disponieren, ihre Welt ganz selbstverständlich und nicht weiter reflexionsbedürftig in einer bestimmten Weise zu interpretieren und in einer entsprechenden Weise zu agieren. Sie formieren sich als Wiederspiegelung der objektiven Bedingungen der sozialen Lage der Akteure, als »mit diesen Bedingungen objektiv vereinbare und ihren Erfordernissen sozusagen vorangepaßte Dispositionen« (Bourdieu 1987: 100). Dadurch sind die Akteure zugleich auch habituell dazu disponiert, solche Praktiken zu produzieren, die es ihnen erlauben, sich in der jeweiligen sozialen Position, in der sie sich befinden, nicht nur zurechtzufinden, sondern auch zu Hause zu fühlen, was die Reproduktion der bestehenden gesellschaftlichen Struktur begünstigt: »Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte nach den von der Geschichte erzeugten Schemata« und gewährleisten damit »die Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen« (ebd.: 101). Es ist klar: Den Habitus als sozial erzeugtes Erzeugungsprinzip des Sozialen zu reklamieren heißt, Soziales durch Soziales zu erklären.

3.Argumente für den Atomismus

Der in den letzten hundert Jahren wirkungsgeschichtlich einflussreichste Vorschlag eines atomistischen Erklärungsprogramms in den Sozialwissenschaften ist sicherlich der methodologische Individualismus Max Webers, demzufolge soziale Phänomene »›individualistisch‹, d. h.: aus dem Handeln der Einzelnen« (Weber 1972 [1922]: 9) zu erklären seien. Der Einfluss der sozialtheoretischen Grundannahmen auf den Erklärungsstil zeigt sich bei Weber deutlich. Er begründet die »›individualistische‹ Methode« (ebd.) ausdrücklich damit, dass seine handlungstheoretische Grundlegung der Soziologie eine Erklärung sozialer Phänomene aus dem Verstehen des individuellen Handelns erfordere:

Handeln im Sinn sinnhaft verständlicher Orientierung des eignen Verhaltens gibt es für uns stets nur als Verhalten von einer oder mehreren einzelnen Personen. Für andre Erkenntniszwecke mag es nützlich oder nötig sein, das Einzelindividuum z. B. als eine Vergesellschaftung von ›Zellen‹ oder einen Komplex biochemischer Reaktionen, oder sein ›psychisches‹ Leben als durch (gleichviel wie qualifizierte) Einzelelemente konstituiert aufzufassen. Dadurch werden zweifellos wertvolle Erkenntnisse (Kausalregeln) gewonnen. Allein wir verstehen dies in Regeln ausgedrückte Verhalten dieser Elemente nicht. Auch nicht bei psychischen Elementen, und zwar: je naturwissenschaftlich exakter sie gefaßt werden, desto weniger: zu einer Deutung aus einem gemeinten Sinn ist gerade dies [107]niemals der Weg. Für die Soziologie (im hier gebrauchten Wortsinn, ebenso wie für die Geschichte) ist aber gerade der Sinnzusammenhang des Handelns Objekt der Erfassung. (ebd.: 6)

Weber begründet die individualistische Methode der Erklärung sozialer Phänomene mit einem grundlegenden Unterschied zwischen sozialwissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Erklärungen: Für naturwissenschaftliche Forschung bildet demnach die beobachtende Erklärung das gegenstandsangemessene Vorgehen (vgl. ebd.: 8). Die sozialwissenschaftliche Forschung darf sich darauf nicht beschränken. Sie muss vielmehr die »Mehrleistung der deutenden […] Erklärung« (ebd.) erbringen. Denn naturwissenschaftliche Phänomene sind erklärt, wenn man die Regeln ihres Ablaufes kennt und gegebenenfalls funktionale Zusammenhänge benennen kann. »Aber an diesem Punkt«, so Weber (ebd.: 7),

beginnt erst die Arbeit der Soziologie (im hier verstandenen Wortsinn). Wir sind ja bei sozialen Gebilden‹ (im Gegensatz zu ›Organismen‹) in der Lage: über die bloße Feststellung von funktionellen Zusammenhängen und Regeln (›Gesetzen‹) hinaus etwas aller Naturwissenschaft (im Sinn der Aufstellung von Kausalregeln für Geschehnisse und Gebilde und der ›Erklärung‹ der Einzelgeschehnisse daraus) ewig Unzugängliches zu leisten: eben das ›Verstehen‹ des Verhaltens der beteiligten Einzelnen, während wir das Verhalten z. B. von Zellen nicht ›verstehen‹, sondern nur funktionell erfassen und dann nach Regeln seines Ablaufs feststellen können.

Aus der handlungstheoretischen Perspektive Webers bestehen soziale Phänomene aus dem Zusammenwirken des Handelns von Einzelindividuen. Alle sozialen Gebilde sind »lediglich Abläufe und Zusammenhänge spezifischen Handelns einzelner Menschen« (ebd.: 6). Dieses Handeln versteht er als ein subjektiv sinnhaft motiviertes Verhalten, als ein Verhalten also, das stattfindet oder unterbleibt, weil der oder die Handelnde(n) mit ihm einen bestimmten Sinn verbinden oder nicht verbinden. Die Formulierung von Regeln, die den Ablauf eines sozialen Phänomens beschreibt, oder seine Verortung in einem funktionalen Zusammenhang reichen deshalb nicht aus, um das Phänomen zu erklären. Denn die betreffende Regelmäßigkeit oder den funktionalen Zusammenhang zu kennen, heißt nicht, dass man deshalb zugleich auch schon weiß, warum die involvierten Akteure in einer Weise handeln, die im Zusammenwirken der Beteiligten zu dieser Regelmäßigkeit oder jenem funktionalen Zusammenhang führt. Diese Frage kann erst das deutende Erklären beantworten. Stets beginnt deshalb, so Weber (1972 [1922]: 9), »die entscheidende empirisch-soziologische Arbeit erst mit der Frage: welche Motive bestimmten und bestimmen die einzelnen […] Glieder dieser ›Gemeinschaft‹, sich so zu verhalten, daß sie entstand und fortbesteht

Im Bereich der Naturphänomene stellt sich die entsprechende Frage danach, was die jeweils betrachteten Elemente motiviert, sich so zu verhalten wie sie sich verhalten, dagegen ganz offenkundig nicht, weshalb die Naturwissenschaften sich auf das beobachtende Erklären beschränken können. Umgekehrt ist die Beobachtung von Regelmäßigkeiten und funktionalen Zusammenhängen für die Soziologie Weber zufolge keineswegs unwichtig, sondern kann als Vorarbeit (vgl. Weber 1972 [1922]: 9) etwa dazu dienen, den Blick des Forschers auf die wichtigen Aspekte des zu erklärenden Zusammenhangs zu lenken (vgl. ebd.: 7).

Nun fällt auf, dass Webers methodologischer Individualismus sich in einer wesentlichen Hinsicht von der atomistischen Gegenposition unterscheidet, gegen die Durkheim, Parsons, Mead [108]und viele andere argumentiert haben. Jene atomistische Gegenposition führt das Soziale ja nicht auf subjektiv sinnhaftes Handeln insgesamt zurück, sondern auf eine besondere Form subjektiv sinnhaften Handelns: auf das am individuellen Vorteil sinnhaft orientierte Handeln. Gegen diese Position verweisen Durkheim und Parsons auf vorgängige normative Fundamente des sozialen Zusammenlebens, welche die Handlungsorientierungen der Individuen prägen. Damit ist jedoch keineswegs gesagt, dass diese normativen Strukturen sich unabhängig vom sinnhaften Handeln der Individuen zur Geltung bringen. Ganz im Gegenteil: Das »Kollektivbewusstsein« Durkheims, die Wertorientierung in der voluntaristischen Handlungstheorie von Parsons oder die gesellschaftlichen Handlungen Meads sind gesellschaftlich vorgegebene Sinnmuster, die sich im sinnhaften Handeln der Akteure verwirklichen – nur eben so, dass die Individuen sich ihnen kaum entziehen können. Auf der anderen Seite verengt Weber die Handlungsgründe subjektiv sinnhaften Handelns keineswegs auf Motive individueller Interessenverfolgung, sondern behandelt auch normorientiertes Verhalten als subjektiv sinnhaftes Handeln – besonders deutlich im Idealtypus des wertrationalen Handelns.

Es stellt sich deshalb die Frage, wie das gleiche Phänomen, das bei Durkheim, Parsons und anderen das zentrale Argument gegen die Möglichkeit einer atomistischen Herleitung des Sozialen bildet, nämlich die gesellschaftliche Strukturierung individueller Handlungsorientierungen, als Gegenstand einer atomistischen Erklärung des Sozialen reklamiert werden kann, wie dies bei Weber geschieht. Die phänomenologische Soziologie von Alfred Schütz (und Thomas Luckmann) bietet eine Antwort auf diese Frage an, die jedoch, wie ich gleich zeigen will, eher geeignet ist, die Problemstellung des Verhältnisses von Atomismus und Holismus in der Soziologie klarer herauszuarbeiten als sie zu lösen.

Alfred Schütz hält das atomistische Erklärungsprogramm Max Webers für eine der zentralen Grundlegungen der Soziologie überhaupt. »Niemals vorher«, so Schütz (1974 [1932]: 14), »war das Prinzip, die ›Welt des objektiven Geistes‹ auf das Verhalten Einzelner zu reduzieren, dermaßen radikal durchgeführt worden, wie in Max Webers Gegenstandsbestimmung der verstehenden Soziologie als einer Wissenschaft, welche die Deutung des subjektiven (nämlich des durch den oder die Handelnden gemeinten) Sinns sozialer Verhaltensweisen zum Thema hat.« Daran anknüpfend sieht Schütz seine eigene Aufgabe darin, dieses Erklärungsprogramm grundbegrifflich weiter auszuarbeiten und zu klären, wie subjektiver und wie intersubjektiver Sinn entsteht. Zur Klärung dieser Fragen bedient sich Schütz der von Edmund Husserl entwickelten Methode der phänomenologischen Reduktion und wendet sie auf die Analyse der Konstitution von Sinn im Bewusstsein an. Diese Analyse beruht darauf, von allen Gegebenheiten der Wirklichkeit radikal abzusehen, wie sie sich dem menschlichen Individuum mehr oder weniger unproblematisch als Tatsachen der natürlichen oder sozialen Welt darstellen, und allein auf die Bewusstseinsprozesse selbst zu blicken, die diese Wirklichkeitswahrnehmung hervorbringt (vgl. ebd.: 47 f., 55 f.). Schütz stellt sich mit anderen Worten ein wahrnehmungs- und bewusstseinsfähiges Individuum vor, für das die Wirklichkeit noch nicht sinnhaft konstituiert ist, das also über keine Konzepte und Begriffe verfügt, sodass die Wirklichkeit begriffslos und unbegriffen an ihm vorbeizieht. Die Frage lautet dann: Wie gelingt es diesem »einsamen Ich«, das in einem »Erlebnisstrom« zunächst nur »unabgegrenzte, ineinander stetig übergehende Erlebnisse« (ebd.: 68) registriert, daraus sinnhafte Erfahrungen zu bilden. Dazu, so die Antwort von Schütz, muss sich das Bewusstsein in der Erinnerung einer Phase des Erlebnisstroms zuwenden. Durch diese reflexive Zuwendung wird aus einer solchen Phase ein abgegrenztes Erlebnis (vgl. ebd.). Sinnhafte Erfahrungen entstehen, wenn das Bewusstsein derart abgegrenzte Erlebnisse miteinander in Beziehung setzt. Alfred Schütz und Thomas Luckmann (1984: 13) formulieren dies wie folgt:

[109]Wenn das Ich auf seine eigenen Erfahrungen […] zurückblickt, hebt es sie aus der schlichten Aktualität des ursprünglichen Erfahrungsablaufs heraus und setzt sie in einen über diesen Ablauf hinausgehenden Zusammenhang. […] Ein solcher Zusammenhang ist ein Sinnzusammenhang; Sinn ist eine im Bewußtsein gestiftete Bezugsgröße, nicht eine besondere Erfahrung oder eine der Erfahrung selbst zukommende Eigenschaft. Es geht vielmehr um die Beziehung einer Erfahrung und etwas anderem. Im einfachsten Fall ist dieses andere eine andere als die aktuelle, so z. B. eine erinnerte Erfahrung. Die gerade vergangene Erfahrung, deren Erlebnisevidenz noch nachhallt, wird mit Bezug auf jene nur erinnerte als gleich, ähnlich, entgegengesetzt usw. erfasst. (vgl. auch Schütz 1974 [1932]: 69, 104; Schütz/Luckmann 1979: 38, 81; Luckmann 1992: 31)

Mit diesen Überlegungen will Schütz bzw. wollen Schütz und Luckmann nicht behaupten, dass die Sinngebilde, die den Wissensbestand des Einzelnen ausmachen, seinen subjektiven Wissensvorrat also, ausnahmslos von ihm selbst erzeugt wurden. Denn im empirischen Normalfall wird das Bezugsschema, durch welches das aktuelle Erlebnis zu einer sinnhaften Erfahrung wird, »etwas Verwickelteres als eine einzelne Erfahrung sein: ein Erfahrungsschema, eine höherstufige Typisierung, eine Problemlösung oder Handlungsrechtfertigung« (Schütz/Luckmann 1979: 315) – ein Auslegungsschema also, das aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat stammt. Dementsprechend wird von den Autoren durchaus betont, dass »der subjektive Wissensvorrat nur zum Teil aus ›eigenständigen‹ Erfahrungs- und Auslegungsresultaten besteht, während er zum bedeutenderen Teil aus Elementen des gesellschaftlichen Wissensvorrats abgeleitet ist« (ebd.: 314). Nichtsdestoweniger sind Schütz und Luckmann der Auffassung, dass trotz »dieser empirischen Priorität des gesellschaftlichen Wissensvorrats gegenüber jedem beliebigen subjektiven Wissensvorrat« (ebd.: 314 f.) eine »grundsätzliche Priorität des subjektiven Wissenserwerbs« (ebd.: 315) besteht:

Den Ursprung des sozialen Wissensvorrats, genauer, der Elemente, die den sozialen Wissensvorrat bilden, kann man nur in subjektiven Erfahrungen und Auslegungen suchen. Dies bedeutet aber, daß in letzter Konsequenz der gesellschaftliche Wissensvorrat auf ›eigenständige‹ Erfahrungen und Auslegungen zurückverweist – so sehr auch die Situationen, in denen die Erfahrungen und Auslegungen stattfinden […] durch ›faktische‹ soziale Gegebenheiten bedingt sein mögen. (ebd.)

Damit ein Stück ursprünglich subjektiv generierten Sinns zu einem Element des gesellschaftlichen Wissensvorrates werden kann, muss es zuerst in intersubjektiv geteilten Sinn überführt werden, dann in Objektivationen gespeichert und schließlich institutionell verfestigt werden. Die Entstehung intersubjektiven Sinns lässt sich Schütz zufolge nicht auf der Grundlage der phänomenologischen Analyse des einsamen Ich erklären. Sie erfordert die Einführung von Zusatzannahmen: Um die subjektiven Bewusstseinsvorgänge wechselseitig auf eine Weise zu verstehen, dass gemeinsam geteilter Sinn entsteht, müssen die Beteiligten demnach zutreffend von der Unterstellung ausgehen, dass der jeweils andere die Wirklichkeit grundsätzlich so wahrnimmt und sinnhaft so deutet wie man selbst (Generalthese der wechselseitigen Perspektiven, vgl. Schütz/Luckmann 1979: 88 f.). Durch Objektivationen – insbesondere durch Objektivationen in Sprache – werden die auf dieser Grundlage erzeugten intersubjektiven Bedeutungen ablösbar von der direkten Interaktionssituation ihrer Generierung (vgl. Berger/Luckmann 1969: 39). Wenn dieser Entstehungsprozess in Vergessenheit gerät und die Individuen mit unhinterfragter [110]Selbstverständlichkeit auf das betreffende Sinnelement rekurrieren, ist es zum institutionalisierten Bestandteil des gesellschaftlichen Wissensvorrates geworden (vgl. ebd.: 65).

Folgt man dieser Argumentation, dann ist jede sinnhafte Strukturierung der Sozialwelt ein Resultat ursprünglich subjektiver Sinnbildung. Nicht nur soziale Institutionen, in denen die egoistischen Handlungskalküle der Individuen in institutionell verfestigter Form zum Ausdruck kommen, sind also letztlich nur methodologisch individualistisch zu erklären. Gleiches gilt in entsprechender Weise für die Entstehung der normativen Strukturen des Sozialen. Wir haben es dementsprechend hier mit einer Ausweitung des atomistischen Erklärungsprogramms über das vertragstheoretische Denken hinaus auf alle sozialen Gebilde und deren jeweilige Sinngrundlagen zu tun. Beantwortet dies die zuvor aufgeworfene Frage, wie normativ strukturiertes Handeln als Gegenstand einer atomistischen Erklärung des Sozialen reklamiert werden kann, wie dies bei Weber geschieht? Die Antwort scheint mir in doppelter Hinsicht »Nein« zu lauten, wobei der eine Einwand die Vorgegebenheit des gesellschaftlichen Wissensvorrates betrifft und der andere dessen Gegebenheitsweise als institutionalisiertes Wissen.

Schütz und Luckmann sind der Auffassung, dass »die Vorgegebenheit eines gesellschaftlichen Wissensvorrats und die ›Sozialisierung‹ subjektiver Wissenselemente ausgeklammert werden« könnten, »ohne daß dadurch die Grundformen des subjektiven Wissenserwerbs verzeichnet« würden (Schütz/Luckmann 1979: 315; vgl. ebd.: 154 ff.). Subjektiver Wissenserwerb wäre mit anderen Worten grundsätzlich auch dann möglich, wenn es keinen vorgegebenen gesellschaftlichen Wissensvorrat gäbe. Was aber sind die Konsequenzen dieser Überlegung? Empirisch betrachtet wächst jedes Gesellschaftsmitglied in einer Umgebung auf, in der es auf eine Fülle vorgegebener Elemente des gesellschaftlichen Wissensvorrats stößt. Es dürfte dementsprechend, wenn überhaupt, ein seltener Ausnahmefall sein, dass subjektive Sinnbildung ohne Bezugnahme auf ein gesellschaftlich vorgeprägtes Auslegungsschema erfolgt. Auch wenn die sinnhafte Einordung des aktuellen Erlebnisses in den Sinnzusammenhang selbstverständlich eine subjektive Bewusstseinsleistung ist, lässt sich die erfolgte Sinnbildung aus diesem Bewusstseinsprozess allein nicht erklären. Die Berücksichtigung des Einflusses des vorgegebenen Auslegungsschemas muss hinzukommen, ein holistisches Element der Erklärung also.

Damit ist noch nicht unbedingt gesagt, dass sich dieser Einfluss hinter dem Rücken der Akteure geltend macht. Denn wir wollen den Individuen die Fähigkeit ja nicht grundsätzlich absprechen, über den Sinn vorgegebener Sinngehalte sinnhaft reflektieren zu können. Wenn die gesellschaftlich vorgegebenen Sinnmuster allerdings in Form institutionalisierten Wissens vorliegen, ist diese Möglichkeit des subjektiv sinnhaften Nachvollzugs begrenzt. Denn institutionalisiertes Wissen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass die Individuen es mit fragloser Selbstverständlichkeit als gültig ansehen und demnach über den Sinn dieses Sinns gerade nicht reflektieren. Hier haben wir es dementsprechend in der Tat mit Sinnmustern zu tun, deren Wirkung auf das Denken und Handeln der Akteure sich hinter deren Rücken vollzieht – ein Einfluss des gesellschaftlichen Ganzen auf die Teile, der sich mit den Mitteln atomistischer Erklärung kaum angemessen erfassen lässt.

4.Atomismus und Holismus

Dem atomistischen Erklärungsprogramm der handlungstheoretischen Soziologie geht es darum, die Erklärungsmöglichkeiten zu ergreifen, die sich aus dem Umstand ergeben, dass menschliches Handeln sinnhaft gesteuertes Verhalten ist. Dieses Anliegen hat Hartmut Esser mit dem folgenden Ausspruch sehr schön auf den Punkt gebracht: »Nicht die Konventionalregel des Grußes nimmt […] den Hut vom Kopf, sondern immer nur ein Akteur, der dafür seine Gründe hat.« [111](Esser 1993: 96) Esser sieht aber auch, dass die aktuelle Sinnbildung des Individuums durchaus hochgradig durch bestehende Sinnmuster strukturiert sein kann. Dann, so Esser (1999: 355), »reagieren menschliche Akteure – wie konditionierte Tauben oder Ratten – ganz spontan, intuitiv und automatisch darauf – und zwar in der Weise, wie das bis dahin in ähnlichen Situationen gelernt worden ist und üblich war«.

Einige soziologische Ansätze sehen es als ausgemacht an, dass die Sinnbildung, die für die Strukturierung des Sozialen verantwortlich ist, sich wesentlich hinter dem Rücken der Akteure vollzieht. Dann reduziert sich das Handeln in der Tat im Wesentlichen auf die konditionierte Reaktion und der menschliche Akteur ist mit Blick auf die Hervorbringung sozialer Phänomene nicht viel mehr als ein »kultureller Depp« (vgl. Garfinkel 1967: 68). In diese Richtung gehen insbesondere die Praxistheorie und die soziologische Systemtheorie. Im Fall der Praxistheorie liest sich das dann so:

Für die Praxistheorie ist es nicht die vorgebliche Intentionalität, sondern die wissensabhängige Routinisiertheit, die das einzelne ›Handeln‹ ›anleitet‹; dies schließt teleologische Elemente nicht aus, die Praxistheorie betrachtet diese jedoch nicht als explizite und diskrete ›Zwecke‹ oder ›Interessen‹, sondern als sozial konventionalisierte, implizite Motiv/Emotions-Komplexe, die einer Praxis inhärent sind, in die die einzelnen Akteure ›einrücken‹ und die sie möglicherweise als ›individuelle Interessen‹ umdefinieren. (Reckwitz 2003: 293)

Und in der Sache ganz ähnlich urteilt Niklas Luhmann: »Beobachter können das Handeln sehr oft besser auf Grund von Situationskenntnis als auf Grund von Personenkenntnis voraussehen, und entsprechend gilt ihre Beobachtung von Handlungen oft, wenn nicht überwiegend, gar nicht dem Mentalzustand des Handelnden, sondern dem Mitvollzog der autopoietischen Reproduktion des sozialen Systems.« (Luhmann 1984: 229)5 Andere soziologische Ansätze plädieren dagegen dafür, soziale Phänomene durchgängig als Effekte eines im Kern bewusst und rational reflektiert sinnhaften Handelns von Individuen zu rekonstruieren. Diese Sichtweise wird – in der Tradition des vertragstheoretischen Denkens und des methodologischen Individualismus – am entschiedensten von Vertretern der Theorie rationaler Handlungswahl vertreten (vgl. z. B. Coleman 1991: 13–27).

Im Gegensatz zu beiden Gruppen solcher Ansätze ist die Soziologie als empirische Wirklichkeitswissenschaft gut beraten, die Frage, ob und in welchem Maße ein soziales Phänomen auf eigenständige subjektive Sinnbildung zurückgeht oder durch vorgegebene gesellschaftliche Sinnmuster hervorgebracht wird, nicht konzeptuell vorzuentscheiden. Soziologische Theoriebildung sollte den Sozialforscher vielmehr in die Lage versetzen, empirisch von Fall zu Fall überprüfen zu können, zu welchen Anteilen die atomistische oder die holistische Erklärungsrichtung zur Erklärung des interessierenden sozialen Phänomens beiträgt. In der Soziologie sollte es also nicht »Atomismus versus Holismus« (oder umgekehrt) heißen, sondern Atomismus und Holismus.

Der wahrscheinlich bekannteste Versuch, die atomistische und die holistische Erklärungsrichtung nicht als einander ausschließende Alternativen, sondern als einander ergänzende Betrachtungsweisen zu erfassen, ist das von Anthony Giddens vorgeschlagene Konzept der Dualität von Struktur. Mit diesem Begriff bezeichnet Giddens, »daß gesellschaftliche Strukturen sowohl durch das menschliche Handeln konstituiert werden, als auch zur gleichen Zeit das Medium dieser Konstitution sind« (Giddens 1984: 148). Seine konzeptionelle Ausarbeitung dieses wechselseitigen [112]Bedingungs- und Ermöglichungszusammenhangs von Handlung und Struktur weist eine deutliche Nähe zur praxistheoretischen Argumentation auf: Giddens zufolge existieren soziale Gebilde in Gestalt reproduzierter sozialer Praktiken. Soziale Strukturen besitzen dementsprechend keine eigenständige Existenz jenseits des Handelns der Akteure. Vielmehr gilt, »daß Struktur, als raum-zeitliches Phänomen, nur insofern existiert, als sie sich in solchen Praktiken realisiert und als Erinnerungsspuren, die das Verhalten bewußt handelnder Subjekte orientieren« (Giddens 1992: 69). In der holistischen Erklärungsrichtung wird das individuelle Handeln durch die bereits bestehenden sozialen Praktiken angeleitet. In der atomistischen Erklärungsrichtung ist es das Handeln der Akteure, durch das diese Praktiken hervorgebracht werden. Nun ist Giddens im Einklang mit praxistheoretischem Denken zudem der Auffassung, dass das Handeln der Akteure zumeist im Modus des »praktischen Bewusstseins« erfolgt (vgl. ebd.: 73), d. h. als Handeln auf der Grundlage stillschweigenden Wissens (vgl. ebd.: 36, 431), und dass die Praktiken typischerweise die Gestalt von Routinen und Gewohnheiten haben. Um dem Eindruck entgegenzuwirken, dass seine Konzeption der Dualität von Struktur am Ende doch darauf hinausläuft, dass sich die Struktur hinter dem Rücken der Akteure in deren Handeln durchsetzt, betont Giddens ganz ausdrücklich die Bewusstheit menschlichen Handelns: Auch das Handeln im Modus des praktischen Bewusstseins ist seinem Verständnis nach ein bewusstes Handeln, dessen Gründe der Akteur anzugeben in der Lage wäre, wenn er gefragt würde. Nur ist der Handlungssinn den Beteiligten eben in der Regel stillschweigend klar, sodass kein Erläuterungsbedarf besteht (vgl. ebd.: 55 ff.).

An diesem Punkt zeigen die Überlegungen von Giddens allerdings eher das Problem und den Lösungsansatz auf, als selbst bereits eine befriedigende Lösung vorzuweisen: Als Lösungsansatz bietet es sich an, mit dem sozialtheoretischen Grundbegriff der Handlung bzw. des Handelns zu operieren. Denn das Handeln, verstanden als ein sinnhaftes Verhalten, kann sowohl in der Form des bewusst sinnhaften und des durch eigenständige Sinnbildung motivierten Handelns vorkommen (und begrifflich gefasst werden) wie auch in der Form des durch vorgegebene Sinnmuster sinnhaft strukturierten Handelns. Im letzten Fall kann die Sinngebung des Handelns dann auch ohne Beteiligung der bewussten Aufmerksamkeit des Akteurs erfolgen. Mit dem Handlungsbegriff liegt also ein sozialtheoretischer Grundbegriff vor, der dem Begriff der Praxis, der Kommunikation und der Interaktion darin überlegen ist, dass auf seiner Grundlage atomistische wie auch holistische Erklärungen sozialer Phänomene angefertigt werden können (vgl. Schulz-Schaeffer 2010). Das Problem besteht darin, das bewusste und das stillschweigende Handeln einerseits begrifflich trennscharf genug zu halten (was Giddens nicht gelingt), um mit den Begriffen die atomistische wie die holistische Formierungsrichtung des Sozialen erfassen zu können. Anderseits gilt es, beide Formen des Handelns in einen einheitlichen theoretischen Bezugsrahmen zu bringen.

Ein Ansatz einer integrativen Handlungstheorie, der diese Zielsetzung verfolgt, ist das von Hartmut Esser vorgeschlagene Modell der Frame-Selektion (vgl. Esser 2001: 259 ff.). Dieses Modell, so Esser (2003: 360), dient dazu,

neben den ›rationalen‹ Anreizen und Erwartungen, auch die ›mentalen Modelle‹ der Menschen, ihre Weltbilder, Vorstellungen, Erwartungserwartungen und die kulturellen ›kollektiven Repräsentationen‹ in die soziologischen Erklärungen einzubeziehen und damit den (subjektiven) ›Sinn‹, den die Menschen mit ihrem Tun, nicht immer ›bewusst‹ freilich, verbinden und über den sie die Situationen mehr oder weniger fest ›definieren‹.

Mit dem Modell der Frame-Selektion greift Esser die in der Sozialpsychologie entwickelten Dual-Process-Modelle auf (vgl. Chaiken/Trope 1999), wobei er sich insbesondere an einem [113]dieser Modelle, dem so genannten MODE-Modell orientiert (vgl. Fazio 1990; Fazio/Towles-Schwen 1999). Die Dual-Process-Modelle resultieren aus experimentell gewonnenen empirischen Befunden der Sozial- und Kognitionspsychologie. Diese Befunde besagen, dass die Situationswahrnehmung und Handlungsorientierung der Versuchspersonen durch zwei komplementäre kognitive Fähigkeiten erzeugt wird: Auf der einen Seite sind sie in der Lage, die sich wiederholenden bzw. stabilen Merkmale ihrer natürlichen und sozialen Umwelt schnell und mühelos wahrzunehmen. Diese Form der Wahrnehmung erfolgt auf der Grundlage kognitiver Repräsentationen, mentaler Modelle, die automatisch und ohne Beteiligung der bewussten Aufmerksamkeit der Akteure aktiviert werden (vgl. Bargh 1999). Sie versorgt die Akteure in der jeweiligen Situation mit einem Wissen darüber, was wann, wo und von wem zu erwarten ist, und sorgt dafür, dass die Wirklichkeit von ihnen als sinnvoll geordnet und vorhersehbar erfahren wird (vgl. Macrae/Bodenhausen 2000: 94). Dieser Form der Wahrnehmung steht auf der anderen Seite die Fähigkeit gegenüber, für Unerwartetes sensibel zu sein, zu erkennen, wenn die automatisch aktivierten Situationsdeutungen und Handlungsmuster nicht passen, um dann auf der Grundlage bewusster Situationswahrnehmung und eigenständiger Sinnbildung zu einer Situationsdeutung und einem Handlungsplan zu gelangen (vgl. Fazio 1990: 89 ff.). Der Kern der Dual-Process-Modelle und ebenso auch der Kern des Modells der Frame-Selektion besteht darin, den Wechsel zwischen diesen beiden Formen der Wahrnehmung – bzw. die Art und Weise, wie sie sich ergänzen, überlagern oder miteinander konkurrieren – konzeptionell zu erfassen. Der Umstand, dass nach wie vor eine Mehrzahl unterschiedlicher Dual-Process-Modelle nebeneinander bestehen, aber auch die Weiterentwicklungen und aktuellen Diskussionen über das Modell der Frame-Selektion (vgl. z. B. Schulz-Schaeffer 2008) zeigen, dass an diesem Punkt noch Diskussionsbedarf besteht.

Die Bemühungen um eine integrative Handlungstheorie setzen konzeptionell direkt an dem Schalthebel an, dessen Stellung darüber entscheidet, ob für das interessierende soziale Phänomen eine atomistische oder eine holistische Erklärung bevorzugt werden sollte: Wenn die Situationsdeutung und die Bildung der Handlungsorientierung sich als automatischer Prozess vollzieht, in dem der Handelnde stillschweigend auf gesellschaftlich vorgegebene Sinnmuster rekurriert, ist die holistische Erklärungsrichtung vorzuziehen. In diesem Fall gilt es, Soziales durch Soziales zu erklären. Denn das Handeln wird hier viel eher durch ein Wissen darüber erklärt, welche vorgeprägten Sinnmuster der gesellschaftliche Wissensvorrat für welche Situationen bereithält, als durch ein deutendes Verstehen des subjektiven Handlungssinns der Akteure (welches im Übrigen ja auch nichts anderes als eben dies zum Vorschein bringen könnte). Dort, wo dem Handeln eine eigenständige Sinnbildung und bewusste Handlungsplanung zugrunde liegt – sei es, weil der gesellschaftliche Wissensvorrat kein passendes Sinnmuster zur Bewältigung der betreffenden Situation bereitstellt (oder dem Akteur das diesbezügliche Wissen fehlt), sei es, weil ein entsprechendes Sinnmuster subjektiv sinnhaft überformt oder ergänzt wird – kommt es dagegen auf das deutende Verstehen des subjektiven Handlungssinns an. In dem Maße, in dem der Sinn, den die Akteure ihrem Wahrnehmen und Handeln zugrunde legen, von ihnen aus gesellschaftlich vorgeformten Sinnmustern übernommen werden, verlangen die resultierenden sozialen Phänomene nach einer holistischen Erklärung. In dem Maße, in dem der Sinn, den die Akteure ihrem Wahrnehmen und Handeln zugrunde legen, von ihnen bewusst sinnhaft subjektiv generiert wird, können die resultierenden sozialen Phänomene angemessen nur atomistisch erklärt werden. Die beiden Erklärungsrichtungen schließen sich dabei in keiner Weise wechselseitig aus. Dies umso weniger, als im empirischen Normalfall damit zu rechnen ist, dass die aktuelle Sinnbildung menschlicher Akteure sich in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen aus beiden Quellen zugleich speist.

[114]Literatur

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1»Dasjenige, was so zusammengesetzt ist, daß das Ganze eines ist, nicht wie ein Haufen, sondern wie die Silbe, ist nicht nur seine Elemente. Die Silbe nämlich ist nicht einerlei mit ihren Elementen (Buchstaben), das ba ist nicht einerlei mit b und a […]; denn nach der Auflösung ist das eine nicht mehr, z. B. […] die Silbe, die Sprachelemente (Buchstaben) aber sind noch […]. Also ist die Silbe etwas außer diesen« (Metaphysik Buch VII, Kap. 17, Abschnitt 1041b, zit. nach der Ausgabe Aristoteles 1980: 77).
2In den Worten Durkheims: »Die bestimmende Ursache eines soziologischen Tatbestands muß in den sozialen Phänomenen, die ihm zeitlich vorangehen, und nicht in den Zuständen des individuellen Bewußtseins gesucht werden.« (Durkheim 1984 [1895]: 193)
3Die deutschen Übersetzungen der zitierten englischsprachigen Publikationen sind meine Übersetzungen.
4Dieser Einwand ist in ähnlicher Form bereits von Durkheim erhoben worden: »Darüber hat weder Hobbes noch Rousseau das Widerspruchsvolle an der Annahme bemerkt, daß das Individuum selbst der Urheber einer Maschine sein soll, deren wesentliche Rolle darin besteht, ihren Urheber durch Zwang zu beherrschen und einem Zwang zu unterwerfen.« (Durkheim 1984 [1895]: 202)
5Für die Hilfe beim Wiederauffinden dieses Zitats danke ich Pascal Geißler.
Handbuch der Soziologie

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