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[7]Jörn Lamla, Henning Laux, Hartmut Rosa & David Strecker

Einleitung

Das Verfassen von Hand- und Lehrbüchern der Soziologie bietet dem Fach eine gute Gelegenheit, seinen angesammelten Wissensbestand zu bilanzieren, seinen Ort innerhalb der Forschungsund Disziplinen-Landschaft zu bestimmen sowie seine historische Entwicklung und nicht zuletzt seine gesellschaftliche Bedeutung kritisch zu reflektieren. Und wenn es sich – wie im vorliegenden Fall – um das Gemeinschaftswerk einer breiten Autorinnen- und Autorenschaft handelt, ist damit in der Disziplin zudem die Chance kollektiver Selbstverständigung oder Neuversammlung verbunden. Zugleich zeigt dieser Buchtypus eine fortgeschrittene Institutionalisierung des Faches und damit einhergehende Kanonisierung soziologischer Forschungsthemen und Lehrinhalte an, die von Zeit zu Zeit der Überprüfung bedürfen. Gründliche Überarbeitungen oder stetige Erweiterungen der vorhandenen, teils exzellenten Lehr- oder Handbücher bieten dafür die eine Möglichkeit; das Vorlegen eines neuen Vorschlags demgegenüber die andere. Letzteres ist die deutlich freiere Option, ist sie doch erheblich weniger durch die Rücksichtnahme auf einmal entworfene Konzepte, tradierte Schwerpunktsetzungen oder eingespielte theoretische Deutungen gebunden.

Als der Verlag vor einigen Jahren mit dem Anliegen auf uns zukam, einen solchen Prozess einzuleiten, also ein neues Handbuch für das Fach Soziologie zu konzipieren und herauszugeben, sind wir nach eingehender Prüfung zu dem Schluss gekommen, dass sich diese Mühe lohnen könnte, dass durchaus noch Bedarf an einem weiteren Versuch der Systematisierung des soziologischen Wissens- und Forschungsstandes besteht. Zwar sind im vergangenen Jahrzehnt nicht wenige soziologische Hand- und Lehrbücher erschienen, denen es mit verschiedenen Zugängen – über klassische Theorien, exemplarische Schlüsseltexte, spezielle Forschungsfelder oder alphabetische Stichwortsammlungen – durchaus gelungen ist, mehr Übersicht ins Fach zu bringen. Verloren gegangen ist aber der Ansatz, die Soziologie insgesamt, in der ganzen Vielfältigkeit ihrer aktuellen Denk- und Arbeitsweisen, in einem einzigen Buch sichtbar werden zu lassen.

Dem vorliegenden Handbuch der Soziologie liegen der Wunsch und die Idee zugrunde, diese Lücke zu schließen und einen Gesamtüberblick über den gegenwärtigen Forschungsstand des Faches anzubieten, der nicht auf die kanonische Schließung oder die schlichte Verwaltung des breiten Sachverstandes abzielt, sondern darauf, den offenen, lebendigen, darum aber keineswegs konturlosen Charakter soziologischen Denkens und soziologischer Diskussion zu präsentieren. Deshalb haben die Herausgeber dem Handbuch einen konsequent problemorientierten Zugang verordnet. Wir haben die Autorinnen und Autoren gebeten, sich mit zentralen Fragen und Herausforderungen der Disziplin auseinanderzusetzen und jeweils zu den Rändern, den umkämpften Territorien ihrer Fachgebiete oder Forschungsschwerpunkte vorzustoßen. In den ersten Teilen sind deshalb überwiegend Spannungsfelder und Konfliktlinien des soziologischen Diskurses die Grundlage einzelner Kapitel. Für den dritten Teil haben wir eine Vergleichsfolie entwickelt, um die Herausforderungen einer umfassenden Gesellschaftstheorie in allen Beiträgen präsent zu halten. Und die letzten beiden Teilen des Buches bündeln Forschungsfelder und Themencluster, [8]die es unumgänglich machen, einerseits den jeweiligen Forschungsstand zu referieren und zu reflektieren, andererseits aber zugleich die etablierten Sprachspiele einzelner soziologischer Sektionen, Schulen oder epistemischen Zirkel zu problematisieren, wenn nicht sogar zu durchkreuzen. Das Fach soll hier in seiner ganzen Pluralität und Breite zur Sprache kommen und vorgestellt werden. Auf diese Weise glauben wir, der doppelten Zielsetzung dieses Handbuches gerecht zu werden. Denn wir wollen einerseits ein systematisches Überblickswerk für Lehrende und Studierende schaffen und andererseits ein Arbeitsbuch vorlegen, das dazu einlädt, Anschlüssen, Kontroversen und Verbindungslinien zwischen den vielfältigen Themen und Ansätzen nachzugehen, um den Tendenzen einer wachsenden Fragmentierung des Faches entgegen zu wirken.

Die Überlegungen, von denen wir uns dabei haben leiten lassen, möchten wir vorab in knapper Form darlegen. Dies erscheint uns notwendig, weil der Gliederung und Aufteilung des Handbuches Auswahlentscheidungen zugrunde liegen, die naturgemäß immer auch anders möglich gewesen wären. Es gibt gewiss weitere Forschungsthemen oder Theorieparadigmen, die nicht hinreichend gewürdigt werden. Doch ging es uns bei der Anlage dieses Handbuches nicht primär darum, enzyklopädische Vollständigkeit zu erreichen oder absolute Neutralität gegenüber der theoretischen Paradigmenvielfalt zu demonstrieren. Wir wollen vielmehr bewusst ein Statement darüber abgeben, wie wir das Fach Soziologie und seine zentralen Aufgaben, Einsichten, Leistungen und Desiderate gegenwärtig und in naher Zukunft sehen. Für fatal hielten wir es, vor dessen Komplexität und Heterogenität zu kapitulieren und auf jegliche Syntheseansprüche zu verzichten, indem wir uns auf alphabetische Stichwortsammlungen oder ähnlich diskursarme Registraturen der Fachkultur zurückziehen. Keineswegs wird die Soziologie hier aus der Sicht einer bestimmten Theorieschule dargestellt und beobachtet. Die Vielfalt ihrer paradigmatischen Zugänge sehen wir vielmehr als eine wesentliche Stärke dieses Faches an. Ausgehend von ihren verschiedenen Perspektiven und Zugangspunkten bildet aber auch die ungewisse und offene Suche nach ihrer (verlorenen?) Einheit ein Motiv der Beiträge. Diese Ausrichtung gilt bereits für die Gliederung in fünf Hauptteile, denen jeweils bestimmte Orientierungsfragen zugrunde liegen, die aus unserer Sicht für eine gemeinsame Standortbestimmung des Faches leitend sein sollten.

Diese Fragen betreffen zunächst die historischen, wissenschaftstheoretischen und methodologischen Wurzeln und Grundlagen, von denen jegliches soziologische Forschen und Denken seinen Ausgang nimmt und die in ihrer Breite und Vielfalt zu kennen und zu reflektieren wir für ein professionelles Selbstverständnis als unumgänglich erachten (Teil I). Um sodann die Komplexität des Faches systematisch und strukturiert entfalten zu können, erschien es uns sinnvoll, zunächst nach den fundamentalen Kontroversen und grundlegenden Alternativen zu fragen, die sich in der soziologischen Forschung und Diskussion immer wieder zeigen und reproduzieren (Teil II). Vor deren Hintergrund haben sich verschiedene Theorieansätze herausgebildet, die für das multiparadigmatische Bild der heutigen Soziologie verantwortlich sind. Sie verweisen unserer Ansicht nach aber noch immer auf ein gemeinsames Set von Bezugsproblemen, das in seiner Konsequenz auf die Entfaltung eines umfassenden sozial- und gesellschaftstheoretischen Programms hinzielt. Wir haben uns daher für die Auswahl von acht theoretischen Grundpositionen der Soziologie entschieden, die sich in unterschiedlicher Weise, aber jeweils vollständig an der allgemeinen Aufgabenstruktur eines solchen Programms abarbeiten (Teil III). Davon zu unterscheiden sind all jene Forschungen, die überwiegend mit Bereichstheoremen arbeiten und sich um spezielle Sachprobleme und Themenfelder der Soziologie kümmern. Hier haben wir thematische Cluster gebildet, die es den Autorinnen und Autoren einerseits ermöglichen sollten, über die disziplinären Subwelten einzelner Sektionen der Standesorganisation oder traditionsreicher spezieller Soziologien hinaus- und auf spannende Fragen an inner- und interdisziplinären Kreuzungspunkten einzugehen, andererseits sollen auf diesem Wege zugleich neue Kategorien für die kollektive Wissensorganisation [9]im Fach gesucht, gefunden, erprobt und reflektiert werden (Teil IV). Vergleichbare Begriffsfelder haben wir schließlich auch für die Beiträge des letzten Teils formuliert, denen allerdings jeweils eine zentrale aktuelle Herausforderung für die innovative Weiterentwicklung der Soziologie vorangestellt worden ist: Ökologie, Gewalt, Demographie, Nebenfolgeneskalation, Sinnverlust und Öffentlichkeit zeigen als Stichworte unserer Zeit Probleme an, die das Fach Soziologie im 21. Jahrhundert vor ernsthafte Bewährungsproben stellen (Teil V).

Im Folgenden werden wir die orientierungsleitenden Fragen dieser fünf Teile in ihrer Systematik näher ausführen und damit zugleich einen Überblick über den Aufbau des Handbuches und seine 29 Beiträge geben. Den Autorinnen und Autoren, die sich mit viel Energie, Sachverstand, Neugierde und vor allem Geduld an diesem umfangreichen Projekt beteiligt haben, wollen wir an dieser Stelle ganz herzlich danken! Ihre scharfsinnigen Analysen und kompetenten Darstellungen gewähren aus unserer Sicht den Forschenden, Lehrenden, Lernenden und allen an der Soziologie sonst noch interessierten Leserinnen und Lesern einen guten Einstieg und Überblick. Zugleich ermöglichen sie tiefe selektive Einblicke in die Struktur des soziologischen Arbeitens und Wissens, ohne die vorhandenen Differenzen, Kontroversen und Meinungsverschiedenheiten zu verstellen, aber auch ohne Gegensätze und Unterschiede in den Positionen künstlich zu reproduzieren, so als wäre diese Heterogenität und Stimmenvielfalt alles, was Soziologie heute noch zu bieten hat. Dass das Fach Soziologie auch weiterhin von einer beachtlichen Kohärenz in den und hinter den Kontroversen und Gegensätzen geprägt ist, zeigen die Beiträge dieses Bandes unseres Erachtens sehr klar.

1.Warum Soziologie?

Die unter der Überschrift »Der soziologische Blick« versammelten Texte im ersten Teil des Handbuches sind so angelegt, dass sie als eine breite und allgemeinverständliche Einführung in die Grundlagen des soziologischen Denkens schlechthin gelesen werden können. Die Fundamente des Faches sind erstens historischer, zweitens wissenschaftstheoretischer und drittens methodologischer Natur, und auch wenn sich diese drei Aspekte nicht immer eindeutig voneinander trennen lassen, erweist es sich doch als hilfreich für das Verständnis des Faches, zunächst danach zu fragen, wie sich die Soziologie als akademische Disziplin historisch herausgebildet und entwickelt hat. Die konsequente Beschäftigung mit den Anfängen soziologischen Denkens und Forschens, d. h. auch mit den praktischen Situationen und gesellschaftlichen Konstellationen, in denen bestimmte soziologische Theorien, Operationsweisen und Lösungsmuster aufgekommen sind, ermöglicht dem Fach, sich bewusst der historischen Kontingenz seiner Problemstellungen und Zugangsweisen zu stellen. Am Beginn einer problemorientierten Rekonstruktion und Darstellung der Soziologie steht die Einsicht, dass sie als Disziplin selbst tiefgreifend in praktische gesellschaftliche Interdependenzen und Zusammenhänge, Krisenwahrnehmungen und Machtverhältnisse verwickelt ist. Doch was kann Soziologie über Gesellschaft wissen, wenn sie selbst nur ein Teil dieser Gesellschaft ist? Was ist die Basis dieses Wissens – und wie wirkt sie auf ihren Gegenstand, die Gesellschaft bzw. das soziale Leben zurück? Es kann als zentrales Motiv und grundlegendes Problem erkenntnistheoretischer Reflexionen innerhalb der Soziologie angesehen werden, an dieser historischen Kontingenz nicht zu verzweifeln, sondern daraus spezifisch sozialwissenschaftliche Tugenden zu machen und systematisch zu entfalten, die ihr dennoch wissenschaftlichen Halt bieten können. Nach der Behandlung dieser ›epistemologischen‹, auf die Bedingungen der Möglichkeit soziologischen Wissens gerichteten Frage geht das Handbuch im dritten Schritt auf die nicht minder komplexe und kontroverse Frage ein, wie, das heißt mit [10]welchen Erkenntnismitteln, Forschungsinstrumenten und Methoden gesichertes oder zumindest legitimierbares soziologisches Wissen schließlich geschaffen werden kann – wie soziologische Forschung also zu betreiben ist. Auf dieser Ebene der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Forschungsmethoden, insbesondere der folgenreichen historischen Gabelung zwischen quantitativer und qualitativer Sozialforschung, wird die Bewahrung der disziplinären Einheit besonders virulent. Die Beschäftigung mit dem Problemfeld der Methodologie ist auch deshalb erforderlich, weil die Wahl der Techniken und methodischen Arbeitsweisen den soziologischen Gegenstand nicht unberührt lässt, sondern folgenreich beeinflusst und formt.

Wolfgang Eßbach hat sich der ersten Frage angenommen. Er rekonstruiert in seinem historisch ausgerichteten Beitrag die soziokulturellen Ereignisse und ideengeschichtlichen Traditionsbestände, aus denen sich die Soziologie im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat und die der mit den »soziologischen Klassikern« assoziierten Gründungsphase des Faches somit noch vorausgehen. Dies wirft ein neues Licht auf die Frage, in welcher Situation die Soziologie entsteht und auf welche Problemlage sie genau reagiert. Der Beitrag informiert zugleich darüber, welche Diskurse und Personen zur Gründung, Etablierung und Weiterentwicklung des Faches beigetragen haben, und auf welche Hindernisse, Widerstände und Veränderungen sie dabei gestoßen sind. Dabei wird ebenfalls sichtbar, welche gesellschaftliche Funktion und Rolle die Soziologie zu übernehmen vermag, mit welchem Anspruch sie auftritt und wie sie sich mit anderen Disziplinen wie der Politikwissenschaft, der Ökonomie, den Naturwissenschaften oder der Sozialphilosophie verbindet oder von ihnen abgrenzt. Besonderes Augenmerk legt Eßbach in diesem Zusammenhang auf die Differenz zwischen ordnungsstabilisierenden und emanzipatorischen, auf einen Gesellschaftswandel abzielenden Kräften. Beide haben großen Einfluss auf die entstehende Soziologie und zeigen, wie tief diese Disziplin in das Machtgefüge der Gesellschaft verflochten ist.

Georg Kneer wendet sich im Anschluss daran dem zweiten Problemkomplex zu, indem er die grundlegenden wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Fragen präsentiert und diskutiert, an denen sich das Fach von seiner Gründungsphase bis heute abarbeitet. Welche Rolle spielt die Soziologie bei der Bestimmung ihres Gegenstandsbereiches? Kann sie ›neutrales‹, objektives Wissen darüber erwerben? In welchem Sinne gibt es Gesellschaft überhaupt, inwiefern gibt es Klassen oder ›die Wirtschaft‹? Entsprechen diesen Begriffen Dinge in der Wirklichkeit, wie es Positionen des Realismus behaupten, oder sind sie das Ergebnis kollektiver sprachlich-symbolischer Konstruktionsprozesse, wie konstruktivistische Positionen nahelegen? Mindestens ebenso virulent ist bis heute die Debatte darüber geblieben, welchen Erklärungsanspruch die Soziologie erheben kann: Vermag sie es, nach dem Vorbild der Naturwissenschaften gesetzmäßige, kausale Erklärungen sozialer Zusammenhänge zu liefern – oder ist sie eher auf hermeneutische Verstehensleistungen ausgerichtet und angewiesen? Ist sie eine erklärende oder eine deutende Wissenschaft? Der Autor schafft die hier geforderte Übersicht durch systematische Gegenüberstellungen und feingliedrige Differenzierungen einer Vielzahl von Beiträgen und Positionen zu den Debatten über die Bedingungen der Möglichkeit soziologischer Erkenntnis- und Wissensgenerierung.

Die epistemologischen Fragen leiten bereits über zu dem Beitrag von Alexandra Krause und Henning Laux, in dessen Fokus die Rekonstruktion der soziologischen Methodenlehre steht. Zentral ist dafür die Gabelung zwischen quantifizierenden und qualifizierenden Forschungsmethoden. Während die ersteren vor allem mit Hilfe statistischer Verfahren und Berechnungen messbare Korrelationen und Zusammenhänge zwischen sozialen Phänomenen zu ergründen suchen, streben die letzteren beispielsweise über narrative oder biographische Interviews oder ethnografische Fallstudien danach, die Sinnstrukturen der sozialen Welt verstehend und deutend zu rekonstruieren. Der Beitrag untersucht aber vor allem, wie und warum es überhaupt zu dieser Aufspaltung der Sozialforschung gekommen ist und auf welchen Prämissen, Überzeugungen und [11]Erkenntniszielen die jeweiligen Positionen beruhen. Ausgehend von dieser Markierung werden einzelne Methoden gegenstandsnah, exemplarisch und knapp vorgestellt und im Hinblick auf Komplementaritäten und Unvereinbarkeiten geprüft. Wie forschen Soziologinnen und Soziologen, welche Techniken haben sie entwickelt, um Daten über die soziale Welt zu sammeln und zu verarbeiten? Abschließend wird gezeigt, wie mithilfe von problemorientierten Triangulationsverfahren bestehende Einseitigkeiten überwunden werden können.

2.Welche grundlegenden Alternativen bestehen in der Soziologie?

Eine Möglichkeit, den internen Zusammenhang der verschiedenen methodischen Lager, epistemologischen Grundpositionen und (wissens-)politischen Strömungen der Soziologie darzustellen, besteht in der Rekonstruktion anhaltender Debatten und zentraler Konfliktlinien des Faches. Die großen Fragen, die das soziologische Feld seit vielen Jahrzehnten mit hoher Zuverlässigkeit entzweien, enthalten immer auch Hinweise auf jene Elemente, die in der Zunft Verbindungen stiften, insofern sie gemeinsame Problemhorizonte definieren. Entscheidend für die Konzeption des zweiten Teils war nun, mehrfach anzusetzen und die verschiedenen grundlegenden Problemdimensionen zu identifizieren, entlang derer stets aufs Neue Debatten darüber geführt werden, was die Soziologie im Kern ausmacht und welche alternativen Auffassungen zu dieser Frage bestehen. Diese Debatten drehen sich im Unterschied zu den im ersten Teil präsentierten formalen Zugängen zur Soziologie um solche Probleme, die den »Grundstoff« des Sozialen betreffen und damit Substanzielles darüber auszusagen gestatten, was das Soziale oder Gesellschaft sind und was nicht, woraus beide sich zusammensetzen, was sie dabei zusammenhält und in welcher Weise sie sich verändern. Es sind diese vier Kernfragen, die wir für eine Rekonstruktion der Soziologie aus der Substanz ihrer anhaltenden Kontroversen identifiziert und ausgewählt haben.

Die Texte im zweiten Teil des Handbuches geben dementsprechend einen breiten und allgemeinverständlichen Überblick über die grundbegrifflichen Weichenstellungen, mit denen in der Soziologie auf diese Grundprobleme reagiert worden ist. Anhand von vier binären Gegensatzpaaren werden fundamentale Alternativen soziologischen Denkens beleuchtet, die für die Konstitution des Faches und seine Abgrenzung zu anderen Disziplinen große Bedeutung erlangt haben, die aber auch immer wieder zu internen Reflexionen, Revisionen und Weiterentwicklungen des disziplinären Selbstverständnisses Anlass geben: Natur versus Kultur, Atomismus versus Holismus, Planung versus Evolution und Gemeinschaft versus Gesellschaft. Von Beginn an arbeitet die Soziologie mit solchen analytischen Unterscheidungen, um auf diese Weise die Komplexität des Sozialen handhabbar zu machen und dessen Grenzen zu bestimmen. Liefern solche oder verwandte Dualismen einerseits ein scheinbar stabiles Fundament für Theoriearchitekturen und Forschungsprojekte, so blieben derartige Differenzierungen andererseits doch selten ohne Widerspruch, denn sie definieren in erheblichem Maße mit, wie und worüber geforscht wird, was sagbar ist und was unsichtbar bleibt. Die kritische Inspektion des sozialtheoretischen Grundvokabulars gehört daher zu den ebenso zentralen wie unabschließbaren Aufgaben der Soziologie.

Den Auftakt macht in diesem Teil Gesa Lindemann mit einer kritischen Rekonstruktion des Natur-Kultur-Dualismus. Damit ist die vielleicht fundamentalste, jedenfalls eine lange Zeit eher unstrittige Unterscheidung der Soziologie benannt: Gesellschaft schien sich als kulturell konstituierter Zusammenhang über die bloße Natur zu erheben. Ein solches Verständnis der Soziologie von ihrem Gegenstand kommt in verschiedenen Varianten vor, etwa als normative Unterscheidung und Hierarchisierung von Natur und Kultur oder auch als historische Auffassung von einem [12]mehr oder weniger linearen Zivilisierungsprozess. Die Autorin verfolgt diese Positionen bis zu ihren philosophischen und anthropologischen Wurzeln, wodurch alternative Konzeptionen sichtbar und die scheinbar sichere Grundlage soziologischen Denkens des Sozialen erschüttert werden. Wege zu einer Neukonzeptualisierung der Natur-Kultur-Unterscheidung bahnen aber erst die konsequent methodischen Reflexionen der damit verknüpften Annahmen und Unterstellungen. Der Beitrag legt dar, inwiefern das begrifflich konstituierte Grenzregime in der Gegenwart unter Druck gerät und diskutiert, inwiefern mit Hilfe von Autoren wie Helmuth Plessner, Bruno Latour oder Philippe Descola eine empirisch gehaltvolle Bestimmung sozialer Grenzen möglich wird.

Individuum versus Gesellschaft, Handlung versus Struktur, Mikroversus Makroebene – der Gegensatz von atomistischen und holistischen Betrachtungsweisen, dem der Beitrag von Ingo Schulz-Schaeffer gewidmet ist, kennt in der Soziologie viele Ausprägungen. Diese Oppositionen spiegeln sich in Theorieschulen, methodischen Ansätzen, lebensweltlichen Überzeugungen, Lehrbüchern und sogar in der Denomination soziologischer Lehrstühle, die etwa für Mikrooder Makrosoziologie ausgeschrieben werden. Während der methodologische Individualismus das Soziale ausgehend von seinen kleinsten Atomen, den individuellen Handlungsentwürfen, deutet, geht der methodologische Holismus den umgekehrten Weg und beginnt mit den sozialen Strukturen und Tatbeständen auf der Makroebene. Der Autor beschränkt sich aber nicht auf die Gegenüberstellung der Argumente für die eine oder die andere Seite in diesem Grundlagenstreit, sondern zeigt die vielfältigen Abstufungen und Differenzierungen innerhalb dieser Lager auf, die es gestatten, auch nach Kontinuitäten und Brücken Ausschau zu halten. So behandelt Schulz-Schaeffer in seinem Quervergleich sowohl System- und Handlungstheorie als offensichtliche Gegensätze als auch interaktionistische und praxistheoretische Positionen als weniger eindeutige Ansätze. Abschließend plädiert er für die Zentralstellung eines integrativen Handlungsbegriffs, mit dessen Hilfe Einseitigkeiten von Kategorien wie Kommunikation oder Praxis überwunden und die Alternative zwischen atomistischen und holistischen Auffassungen vom Sozialen empirisch offen gehalten werden könnten.

Richtet man den Blick nicht darauf, was Gesellschaft ist bzw. nicht ist und was sie im Innersten zusammenhält, sondern auf die Frage, wie sie sich verändert und entwickelt, so tritt ein anderes Oppositionspaar in den Mittelpunkt des Interesses, dem Uwe Schimank in seinem Beitrag auf den Grund geht, nämlich die Gegenüberstellung von Planung und Evolution. Hier geht es um die Bestimmung der Motoren oder Triebkräfte des Sozialen. Lässt sich der gesellschaftliche Wandel als Fortschrittsgeschichte beschreiben, welche durch individuelle bzw. kollektive Akteure gestaltet wird? Oder muss die Gesellschaft angesichts der Kriege und Katastrophen in der Moderne als von evolutionären Dynamiken geprägt betrachtet werden? Hat der soziale Wandel eine Richtung oder ist er umkehrbar und zufällig? Welche alternativen oder vermittelnden Positionen gibt es zum Verhältnis von Intentionalität und Transintentionalität des sozialen Wandels in der Soziologie? Sowohl Evolution als auch Planung beschreiben nach Ansicht des Autors unzureichend, wie sich sozialer Wandel in der Moderne konkret vollzieht. Eingespannt zwischen diesen Polen lässt sich aber zeigen, dass sich in der Gesellschaft sukzessive eine Anspruchsreduktion und damit eine Annäherung der Gegensätze durchsetzt. Der Beitrag beschreibt die moderne Gesellschaft als eine Art »Dauerbaustelle«: Angesichts globaler Interdependenzgeflechte und -effekte werden Planungsambitionen sukzessive heruntergeschraubt, ohne es in der Praxis bei bloßer Evolution zu belassen. Die Alternativen sind dann inkrementalistische Gestaltungsansätze, das Hoffen auf Reserven an sozialer Resilienz oder Versuche der institutionellen Sicherung oder Ermöglichung von »guter« Evolution.

Lars Gertenbach schließlich rückt mit seiner Rekonstruktion des (vermeintlichen) Gegensatzes von Gemeinschaft und Gesellschaft eine basale Typologie institutioneller Formen des Sozialen in [13]den Mittelpunkt der Betrachtung, die sich als folgenreich nicht nur für die Disziplin, sondern für die politische Geschichte der Moderne überhaupt erwiesen hat. Dieses Oppositionspaar ist ein gutes Beispiel dafür, dass soziologische Begrifflichkeiten die Wirklichkeiten nicht einfach nur abbilden, sondern in durchaus erheblichem Maße auch mitbestimmen und verändern. In den Debatten, die zur Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft in der Soziologie geführt worden sind, lassen sich interessante Wendungen identifizieren. Steht das Aufeinanderprallen einer als »kalt« empfundenen Gesellschaft mit der vermeintlich »warmen« Gemeinschaft im Anschluss an Ferdinand Tönnies für Versuche, die Soziologie für das Gemeinschaftsdenken einzunehmen, erfährt diese Haltung doch auch deutliche Kritik, etwa in der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners. Durchgesetzt haben sich dagegen dynamische Begriffe von Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung, die sich zudem nicht nur als Gegensatz, sondern – wie Gertenbach exemplarisch an der Theorie der Liminalität des Ethnologen Victor Turner zeigt – ebenso als sequenzielle Phasen der Institutionalisierung des Sozialen auffassen lassen. Fragen der Verschränkung von Gemeinschaft und Gesellschaft beschäftigen die Soziologie bis heute in Debatten über Kommunitarismus und Liberalismus oder in zeitdiagnostischen Analysen post-traditionaler Vergemeinschaftung.

3.Was muss eine umfassende Theorie der Gesellschaft leisten?

Die in den vorangehenden Abschnitten vorgestellten Beiträge arbeiten die Grundfragen und zentralen Kontroversen der Soziologie mit einer vergleichenden Perspektive auf konkurrierende Theorien, Methoden und Problemdeutungen auf. Dadurch kommen auch die zentralen Gründungsfiguren des Faches immer wieder zur Sprache und werden vielfach gewürdigt. Dieser komparative Blick verdeutlicht nicht nur die anhaltende Definitionsmacht der Klassiker, sondern auch den Auslegungsspielraum, den ihre Werke für nachfolgende Generationen hinterlassen haben. Was damit nicht offenkundig wird, ist jedoch die enorme Leistung, die in den Versuchen der Nachfolger steckt, aus der breiten Erbmasse an Problemstellungen und Lösungsvorschlägen eine kohärente Großtheorie zu entwickeln. Diese Bemühungen, eine umfassende Theorie der Gesellschaft aus vorhandenen Theorieelementen zu rekonstruieren oder durch Abgrenzung davon neu zu schreiben, lassen sich nur sichtbar machen, wenn den einzelnen Ansätzen zu einem solchen Projekt ganze Kapitel gewidmet werden. Darin soll die äußerst anspruchsvolle Arbeit soziologischer Theoriekomposition aufscheinen. Auf den Vergleich solcher Theorieprojekte muss man deshalb nicht verzichten, sofern alle Beiträge sich an einen ähnlichen Aufbau halten, der zu den komplexen Argumentationsketten der sehr verschiedenen Theorien freilich in allen Fällen passen sollte.

Wir betreiben also in diesem Handbuch keine ausführliche Klassikerexegese, weil Autoren wie Max Weber oder Émile Durkheim ohnehin in nahezu jedem Handbuchbeitrag an prominenter Stelle auftauchen, und richten den Fokus stattdessen auf acht theoretische Ansätze aus dem umfangreichen Inventar der Disziplin, die sich aus unserer Sicht in besonderer Weise darum verdient gemacht haben, das volle Arbeitsprogramm einer modernen Gesellschaftstheorie auf eine je eigene, originelle Weise zu entfalten. Auch Paradigmen wie die Sozialphänomenologie oder die Ethnomethodologie sind daher nicht mit einem eigenen Aufsatz vertreten. Sie leisten zwar außerordentlich wichtige Beiträge zum Theoriediskurs, nehmen dabei aber nur einen Ausschnitt dessen in den Blick, was wir unter einer komplexen Gesellschaftstheorie verstehen. Das Programm einer solchen Großtheorie, das zugleich eine gewisse Vergleichbarkeit der vorgestellten Theorien gewährleistet, beinhaltet: a) methodologische Reflexionen über die Bedingungen der [14]Möglichkeit sozialwissenschaftlicher Erkenntnis sowie über die Position und Rolle der Sozialwissenschaften innerhalb der Gesellschaft, b) sozialtheoretische Grundkategorien und Bausteine, die für das gesamte Spektrum der Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften Geltung beanspruchen, c) Aussagenkomplexe zum spezifischen Aufbau der modernen Gesellschaft, in der Regel gestützt durch den diachronen Vergleich mit vormodernen Gesellschaften, d) empirisch gehaltvolle Befunde zur Wandlungsdynamik moderner Gesellschaft bis hin zu Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsprognosen sowie e) Pathologiediagnosen und Stellungnahmen zu Möglichkeiten und Risiken politischer Steuerung und Intervention, einschließlich der Reflexion auf die Problematik und die Begründbarkeit von normativen Aussagen und Kritik.

Die im Handbuch vorgestellten acht Paradigmen haben in der Regel einen zentralen Referenzautor, dessen Werk sich rekonstruieren und in Verbindung zu soziologischen Debatten und gesellschaftlichen Problemlagen bringen lässt. Behandelt werden die Theorien von Talcott Parsons, Niklas Luhmann, Jürgen Habermas, Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Hartmut Esser und James Coleman, Anthony Giddens sowie Bruno Latour. Die inhaltliche Darstellung der Theorien orientiert sich an den oben genannten Programmpunkten und wird zusätzlich durch wichtige Kritikpunkte sowie theoretische Innovationen ergänzt. Eine genaue Aufschlüsselung der Gliederungspunkte für alle acht Großtheorien erübrigt sich hier. Stattdessen begründen wir kurz für jede einzelne, warum wir sie aufgenommen haben und in welchem Kontext sie lokalisiert und diskutiert wird.

Axel Honneth und Kristina Lepold unterziehen das Werk von Talcott Parsons einer anerkennungstheoretisch aktualisierten Lektüre. Zu diesem Zweck skizzieren sie Parsons voluntaristische Handlungstheorie, sein strukturfunktionalistisches Systemmodell, die darauf basierende Theorie moderner Differenzierungsdynamiken und den Fortschrittsoptimismus seiner Modernisierungstheorie einschließlich der Risiken vereinseitigter Modernisierung. Parsons Werk erscheint von hier aus als idealtypisches Beispiel für eine Gesellschaftstheorie in dem von uns definierten Sinne. Seine Bedeutung als Referenztheoretiker für Luhmann, Habermas oder auch Giddens ist unübersehbar und sein Ansatz lebt in den Debatten um »multiple modernities« (Shmuel N. Eisenstadt) und die neofunktionalistischen Theorieprogramme (Jeffrey C. Alexander, Richard Münch) bis heute fort. Für Honneth und Lepold kommt der Gesellschaftstheorie von Parsons aktuelle Bedeutung vor allem deshalb zu, weil sie die Möglichkeit und Notwendigkeit zeigt, den normativen Gehalt der modernen Institutionen (kritisch) zu rekonstruieren, über den die Gesellschaftsmitglieder laufend miteinander streiten und Einvernehmen erzielen können müssen.

Angesichts der enormen Bandbreite seiner Sozial- und Gesellschaftstheorie bedarf es keiner ausführlichen Begründung, warum Niklas Luhmann Aufnahme in den Kanon dieses Handbuches findet. Wolfgang Ludwig Schneider unternimmt eine systematische Rekonstruktion von Luhmanns Schriften und geht auf Schlüsselwerke wie »Soziale Systeme«, »Gesellschaftsstruktur und Semantik« oder »Die Gesellschaft der Gesellschaft« ein. Dabei legt er nicht nur die Basiskategorien der Systemtheorie und ihre beobachtungstheoretischen Prämissen dar, sondern verdeutlicht auch exemplarisch die Theorie funktionaler Differenzierung am Fall des Wissenschaftssystems. Denn an diesem Beispiel wird sichtbar, wie Luhmann den gesellschaftlichen Ort der Soziologie als Teil dieses Funktionssystems zu bestimmen und somit auf seine methodologischen Implikationen hin zu reflektieren vermag. Zum Abschluss modifiziert Schneider in seinem Beitrag Luh-manns Projektion einer funktional differenzierten Weltgesellschaft durch neuere Diskussionen zum Thema Inklusion/Exklusion sowie zur Rolle parasitärer Netzwerke, die eine partielle Erweiterung des Programms der Theorie sozialer Systeme nahelegen.

Im Werk von Jürgen Habermas kommt das Programm einer rekonstruktiv angelegten, d. h. vielfältige Quellen und Vorarbeiten des soziologischen und philosophischen Diskurses aufnehmenden [15]und neu arrangierenden Theoriebildung voll zum Tragen, wie William Outwaithe in seinem Beitrag zu verdeutlichen sucht. Outhwaite arbeitet heraus, wie Habermas zentrale Einsichten der Disziplin zu einer Theorie des kommunikativen Handelns weiterentwickelt. Dazu gehören etwa der Historische Materialismus bei Karl Marx, Ervin Goffmans Modell des dramaturgischen Handelns, George Herbert Meads Theorie der Individuation, John L. Austins Sprechakttheorie, Jean Piagets und Lawrence Kohlbergs Entwicklungspsychologie, Max Webers Rationalisierungsthese oder Émile Durkheims Differenzierungstheorie. Einen Schwerpunkt des Beitrags bilden die Arbeiten, die Habermas seit »Faktizität und Geltung« verfasst hat, um seine Theorie auf aktuelle Herausforderungen wie die Globalisierung oder die Bioethik zu beziehen. Sichtbar werden so nicht zuletzt Kontinuitäten und Brüche zur ersten und dritten Generation der Kritischen Theorie, also zu Theodor W. Adorno, Max Horkheimer oder Walter Benjamin einerseits und zu Axel Honneth, Seyla Benhabib oder Nancy Fraser andererseits.

Als poststrukturalistische Theorieposition, die an der (archäologischen und genealogischen) Untersuchung historischer Formationen von Diskurs- und Zeichenwelten festhält und die Verstrickung der Sozial-, Kultur- und Lebenswissenschaften in das Machtgefüge der modernen Gesellschaft aufzeigt, gehört auch das Werk von Michel Foucault in dieses Handbuch. Wie der Beitrag von Sina Farzin zeigt, leistet Foucault über die Bereitstellung innovativer methodischer Werkzeuge hinaus insbesondere mit seinen Analysen der Kontrollstrukturen und Disziplinierungstechniken sowie den Studien zur Gouvernementalität der Gegenwart wertvolle Beiträge zur modernen Gesellschaftstheorie, die in den letzten Jahren immer weiter in den soziologischen Wissensbestand eingesickert sind.

Ausgehend von dem frühen, mittels ethnologischer Untersuchungen zur Gesellschaft der Kabylen gewonnenen »Entwurf einer Theorie der Praxis« beschäftigt sich Robin Celikates mit den Basistheoremen der kritischen Soziologie von Pierre Bourdieu. Demzufolge setzt Bourdieu eine Traditionslinie moderner Gesellschaftstheorie fort, die auf soziale Kämpfe zwischen Klassen abstellt und erweitert diese mit einer kultursoziologischen Analyse symbolischer Klassifizierungen. Konzepte wie Habitus, Praxis und Feld stehen im Zentrum aktueller Diskussionen über das Programm einer praxeologischen bzw. relationalen Sozial- und Gesellschaftstheorie. Darüber hinaus deckt sein Werk mit Selbstreflexionen des soziologischen Blicks, Analysen zum Geschlechterkonflikt, zeitdiagnostischen Thesen zur Ökonomisierung der Gesellschaft sowie deren politischer Wendung zu einer Kritik der neoliberalen Invasion wiederum alle Stufen des allgemeinen Theorieprogramms ab. Als kritischer Anschluss werden vor allem die Arbeiten um Luc Boltanski und Laurent Thévenot einbezogen, die den »doppelten Bruch« problematisieren, den Bourdieu gegenüber den Illusionen des Common Sense für unvermeidbar halte, der aber die reflexiven Kompetenzen des Alltagslebens unterschätze.

Clemens Kroneberg setzt sich in seinem Beitrag mit den Rational-Choice-Ansätzen auseinander. Neben den handlungs- und spieltheoretischen Grundlagen des Ansatzes wird das »Makro-Mikro-Makro-Modell« zur Erklärung sozialer Tatbestände präsentiert (James Coleman, Hartmut Esser) sowie der Fokus auf die Folgen und Dynamiken aggregierter individueller Entscheidungen gerichtet, in Anlehnung an Mancur Olsons Kollektivgutproblem. Kroneberg nutzt seinen Beitrag nicht zuletzt für ein Plädoyer, in dem er die Theorien der rationalen Wahl gegen klassische Einwände verteidigt, gesellschaftstheoretische Abstraktionen ablehnt und stattdessen für deduktiv-nomologische Erklärungen mittlerer Reichweite votiert.

Mithilfe des Bauplans einer komplexen Gesellschaftstheorie lässt sich auch der Strukturationsansatz von Anthony Giddens sehr gut rekonstruieren, wie Jörg Oberthürs Beitrag zeigt. Mit seinem Theorem der doppelten Hermeneutik zielt Giddens auf die Besonderheiten sozialwissenschaftlicher im Unterschied zu naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Und mit der Unterscheidung von [16]Sozialtheorie und Soziologie kennzeichnet er selbst Theorieaufgaben mit unterschiedlichem Generalisierungsanspruch, um die Diskontinuitäten zwischen vormoderner und moderner Gesellschaft identifizieren zu können. Die Wandlungsdynamik der Moderne gleiche inzwischen einer Fahrt mit dem »Dschagannath-Wagen«, sei also kaum mehr zu kontrollieren und erzeuge massive Folgeprobleme, so dass die Soziologie gefordert ist, verbliebene politische Handlungsoptionen zu finden und freizulegen. Abschließend geht Oberthür auch auf zentrale Kritiken und Weiterentwicklungen des Strukturationsansatzes ein, etwa auf Theorien reflexiver Modernisierung.

Schließlich werden im Handbuch auch die Arbeiten von Bruno Latour behandelt. Ausgehend von Latours wissenschaftssoziologisch ausgerichteten Laborstudien zeigt Henning Laux in seinem Beitrag, wie Latour seinen Ansatz im Laufe der Jahre sukzessive zu einer vollwertigen Gesellschaftstheorie ausgebaut hat. Ausgehend von seinem Unbehagen mit dem konstitutionellen Gefüge der Moderne (»Wir sind nie modern gewesen«), formuliert Latour eine Zeit- und Pathologiediagnose (»unkontrollierte Produktion von Hybriden«) und darauf bezogene Überlegungen zur Politik und zur Erneuerung demokratischer Öffentlichkeit (»Parlament der Dinge«). Von hier aus entwickelt er mit der Akteur-Netzwerk-Theorie ein sozialtheoretisches Vokabular, das Studien zu verschiedenen Feldern der Gesellschaft anleitet (u. a. Politik, Recht, Ökonomie, Kunst, Religion). Diese Befunde überführt er schließlich in eine »Soziologie der Existenzweisen«, die eine neuartige Differenzierungstheorie darstellt, mit deren Hilfe nicht nur eine alternative Bestimmung der modernen Gesellschaft, sondern auch eine »diplomatische Soziologie« möglich werden soll. Diese kann dazu beitragen, der planetarischen Bedrohung durch den anthropogenen Klimawandel entgegenzutreten.

4.Was erforschen Soziologinnen und Soziologen?

Die Beiträge im vierten Teil des Handbuches geben eine breite und allgemeinverständliche Einführung in traditionelle und zeitgenössische Untersuchungsfelder der Soziologie. Die Erkenntnisse der hier vorgestellten »Bindestrich-Soziologien« bilden ein unverzichtbares Material für die im vorangegangenen Abschnitt exemplarisch vorgestellten Gesellschaftstheorien. Zwischen den Speziellen Soziologien und der Allgemeinen Soziologie besteht dennoch kein unilinearer Zusammenhang; beide befruchten sich vielmehr wechselseitig. Denn ebenso wie allgemeine Überlegungen zur Reproduktion und zum Wandel sozialer Ordnung ohne die Berücksichtigung konkreter Forschungsergebnisse spekulativ blieben, erweisen sich umgekehrt der Zuschnitt und die Gewichtung der einzelnen Untersuchungsfelder als selber theorieabhängig. So spiegelt sich zwar die geläufige Auffassung, im Prinzip lasse sich jedes Thema soziologisch studieren, in der langen Liste disziplinärer Untergliederungen; gleichwohl hat sich die Forschungsintensität historisch ausgesprochen ungleich verteilt und sind gerade die historisch gewachsenen Kernbereiche durch grundlegende Kontroversen geprägt. Die wissenschaftlichen Netzwerke, die sich der systematischen Erforschung gesellschaftlicher Teilbereiche und spezifischer soziologischer Themenfelder widmen, differenzieren sich mithin sowohl in Abhängigkeit von der Struktur der analysierten Gesellschaftsformation als auch entlang konkurrierender sozialtheoretischer Paradigmen. Um die soziologische Forschung in ihrem umfassenden, umstrittenen, unabgeschlossenen und gleichwohl historisch gewachsenen Charakter zu präsentieren, kommen die etablierten Teilbereiche der Disziplin wie die Rechtssoziologie, die Wirtschaftssoziologie, die Kultursoziologie usw. in Einzelbeiträgen zu Wort, für die wir Cluster aus verwandten, institutionell jedoch regelmäßig separierten Themen gebildet haben, die von den Autorinnen und Autoren dieses Abschnitts in ihrem Zusammenhang diskutiert werden, ohne dabei auf eigene Positionierungen zu verzichten.

[17]Den Auftakt macht Paula-Irene Villa, deren Beitrag zu den Feldern »Körper, Geschlecht und Sexualität« die Bedeutung des Natur-Kultur-Dualismus veranschaulicht und aufzeigt, wie diese Unterscheidung im Alltagsverständnis und vor allem in der soziologischen Reflexion brüchig geworden ist. Der Beitrag skizziert die institutionelle Etablierung und den Forschungsstand von Körpersoziologie, Geschlechtersoziologie und Soziologie der Sexualität sowie deren Verhältnis zueinander aus dem in der Disziplin verbreiteten Selbstverständnis, dem zufolge soziologische Forschung darauf zielt, alltagsweltliche Überzeugungen zu hinterfragen. Wie lassen sich die Naturalisierung von Körper, Geschlecht und Sexualität erklären? Welche Konstruktionsprozesse liegen diesen mit welchen Folgen zugrunde? Diskutiert werden, nicht zuletzt mit Blick auf die empirische Forschung, gleichermaßen die praxeologische Perspektive auf die soziale Hervorbringung des vermeintlich Vorsozialen und die Rolle, die gesellschaftlichen Strukturen dabei zukommt. Ein abschließender Ausblick auf die Intersektionalitätstheorie unterstreicht, dass die einzelnen soziologischen Untersuchungsfelder alles andere als hermetisch gegeneinander abgegrenzt sind und von den entsprechenden Forschungen Impulse ausgehen, die neue Perspektiven, konzeptuelle Innovationen und paradigmatische Verschiebungen in anderen gesellschaftswissenschaftlichen Forschungsfeldern anstoßen.

Die Bereiche der Sozialisationsforschung, der Bildungs- und der Familiensoziologie skizzieren Hans-Peter Müller, Erika Alleweldt und Jochen Steinbicker aus sozialstruktureller Perspektive: Welche Funktionen haben Sozialisation, Bildung und Familie für die Reproduktion sozialer Ungleichheit? Die verkürzende Unterscheidung zwischen Mikro- und Makroebene überwindend, zeichnet der Beitrag zunächst die auch institutionell weit vorangeschrittene Ausdifferenzierung dieser ausgesprochen umfangreichen Teildisziplinen im deutschen sowie im internationalen Kontext nach. Vorgestellt wird der Vergesellschaftungsprozess entlang der Forschungen zu Sozialisationsinstanzen und -kontexten, zu Lebensphasen und zu den Dimensionen und Effekten von Sozialisation. Die besondere Bedeutung der primären Sozialisation findet mit Blick auf die Veränderungen des Verständnisses und der Struktur von Familie ebenso Berücksichtigung, wie die Rolle und der Wandel der Bildung unter dem Gesichtspunkt der sekundären Sozialisation thematisiert werden. Die Diskussion der Wissensbestände dieser soziologischen Untersuchungsfelder liefert Hinweise dafür, dass die zentrale Frage nach der Reproduktion sozialer Ordnung nicht ohne klassentheoretische Konzepte und ideologiekritische Überlegungen beantwortet werden kann.

Die normative Regelung gesellschaftlicher Ordnung bildet den Gegenstand des nachfolgenden Beitrags, in dem Susanne Krasmann das sozialwissenschaftliche Wissen zu »Recht, Norm und Sicherheit« diskutiert. Im Vordergrund steht dabei die Spezifik des Rechts. Wie wirken rechtliche Normen? Was unterscheidet sie von anderen sozialen Normen? Anders als z. B. die Moral lässt sich das moderne Formalrecht nur im Zusammenhang mit der Staatsgewalt verstehen. Von diesem Ausgangspunkt her thematisiert der Beitrag zunächst unterschiedliche sozialwissenschaftliche Ansätze zum Zusammenhang von Recht und Ordnung. Das Spektrum der hierfür relevanten Überlegungen reicht von anthropologischen über liberale, sozialkonstruktivistische und materialistische bis hin zu poststrukturalistisch inspirierten Perspektiven. Ganz im Sinne des disziplinären Selbstverständnisses, alltagsweltliche Illusionen kenntlich zu machen, dienen die Widersprüchlichkeiten des Rechts im Verhältnis zu Gewalt, Ordnung, Gerechtigkeit usw. als Leitgesichtspunkte der Darstellung. Systematisch werden diese hinsichtlich der Legitimität sowie der Legalität des Rechts diskutiert und schließlich mit Blick auf den Wandel des Strafrechts und dessen zunehmende Funktionalisierung für Sicherheitszwecke ausgeführt.

Zu den ältesten Teilbereichen der Disziplin zählt neben der Rechts- auch die Wirtschaftssoziologie. Letztere steht im Fokus des Beitrags von Christoph Deutschmann zu »Wirtschaft, Arbeit und Konsum«. Die Aufgabe der Wirtschaftssoziologie wird anhand der Infragestellung der klassischen [18]Arbeitsteilung mit den Wirtschaftswissenschaften umrissen, der zufolge diese die Logik wirtschaftlichen Handelns und jene die soziokulturellen Kontextfaktoren betrachtet. Gegen die modelltheoretischen Annahmen der Wirtschaftswissenschaften zeichnet Deutschmann nach, dass die von der vorherrschenden neoklassischen Theorie als ahistorisch unterstellte ökonomische Handlungsrationalität selbst ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung ist, das man zu dem in seiner Wirkungsweise und Dynamik nur verstehen kann, wenn die institutionellen Einbettungen der Wirtschaft nicht als deren äußerlicher Rahmen, sondern als ihre ambivalenten und instabilen Hervorbringungen konzipiert werden. Wirtschaftssoziologische Forschung ziele darauf, die mit der räumlichen sowie sozialen Entgrenzung der Märkte freigesetzte Dynamik zu erfassen, die die gesamte Gesellschaft, das Arbeitsleben und den Konsum inklusive der markteinbettenden Institutionen, Organisationen, Netzwerke und Leitbilder einem fortlaufenden Veränderungsdruck aussetzen.

Auch der anschließende Beitrag stellt die herkömmliche Scheidung und Entgegensetzung von Wirtschaft und Kultur, von Materiellem und Symbolischem in Frage. Die Kultursoziologie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend verändert. Diese Transformationen manifestieren sich am augenfälligsten in der Entstehung der Cultural Studies. Unter dem Titel »Kultur, Medien und Technik« erläutert Scott Lash, wie weitgehend unsere Lebensform und ihre medialen Kommunikationsweisen heute technologisch durchdrungen sind. In der Folge nehmen gesellschaftliche Zusammenhänge zunehmend einen verselbstständigten, systemischen Charakter an. Der Beitrag fragt nach den kulturellen Grundlagen dieser Entwicklung, die ganz in der Tradition kultursoziologischen Denkens in den gesellschaftlich vorherrschenden, aber kontingenten Rationalitätsmustern identifiziert werden: einer Kontexten gegenüber unsensiblen, kategorisierenden theoretischen Vernunft und einer individualistischen Zweckrationalität. Lash ruft dagegen die antike Erörterung des Technikbegriffs in Erinnerung und findet in diesem Zusammenhang bei Aristoteles die Alternative einer pragmatistischen, produktiven Vernunft, die sich gegen die neoliberale Vereinnahmung unserer technischen Kultur wenden lässt.

Auch das Themencluster »Wissen, Sprache und Macht« wird aus einer kulturtheoretischen Perspektive vorgestellt, die Bedeutungsfragen nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit den materiellen Aspekten des Sozialen erörtert. Sven Opitz und Ute Tellmann skizzieren zunächst, wie sich das kulturtheoretische Paradigma der Soziologie als Bedeutungswissenschaft durch strukturalistische, wissens- und wissenschaftssoziologische Impulse in Abgrenzung zur Hermeneutik entwickelt und die Disziplin für poststrukturalistische Einflüsse geöffnet hat. Sodann stellt der Beitrag dar, wie diese Mittel zur Erforschung von Prozessen der Bedeutungsproduktion für soziologische Machtanalysen der Formierung kollektiver Identitäten fruchtbar gemacht werden. Mit postkolonialen, hegemonietheoretischen, gendertheoretischen, affekttheoretischen und netzwerkanalytischen Ansätzen kommen dabei insbesondere solche Impulsgeber zur Sprache, die derzeit noch jenseits des disziplinären Mainstreams liegen.

Die Politische Soziologie im engeren Sinne thematisiert Hauke Brunkhorst mit Blick auf die Forschungsfelder »Nationalstaat, Demokratie und Solidarität«. Die Ordnungsmuster, entlang derer Gesellschaften sich politisch strukturieren, werden in diesem Beitrag über den Begriff der Solidarität eingeführt. Bei diesem handle es sich nicht etwa um eine auf Freundschaft beruhende soziale Beziehung oder ein ähnlich geartetes affektuelles Band, sondern, wie am römischen Zivilrecht belegt wird, um einen formalen Rechtsbegriff, der die Verbindung von Fremden ermöglicht. Dessen Synthese mit dem egalitären Universalismus des Christentums habe eine Verrechtlichung des Republikanismus und schließlich eine Demokratisierung der politischen Gewalt in die Wege geleitet, als deren zentrales Problem sich bald die Beherrschung des kapitalistischen Systems herausgestellt habe. Eine im Sozialstaat als soziale Gerechtigkeit organisierte gesellschaftliche [19]Solidarität hänge vor allem von starken Gewerkschaften und einem etablierten Parlamentarismus ab. Im Zuge von Europäisierungs- und Globalisierungsprozessen müssen beide durch andere Mechanismen ergänzt, können aber nicht ersetzt werden. So führt der Blick auf den Zusammenhang von Recht, Solidarität und Demokratie zu den in der politiksoziologischen Forschung vordringlichen Fragen nach den zivilgesellschaftlichen Akteuren und Organisationen, den politischen Institutionen und den nationalen, inter-, trans- und supranationalen Strukturen, die die Spannung zwischen Demokratie und Kapitalismus zu mildern in der Lage waren, heute unter Druck geraten und teilweise zusammengebrochen sind.

Der Befund, dass vertikale soziale Ungleichheiten gegenwärtig zunehmen, stellt auch den Ausgangspunkt des Beitrags von Klaus Dörre zur Sozialstrukturanalyse dar. Unter dem Titel »Prekarität, Achsen der Ungleichheit und Sozialstruktur« skizziert der Beitrag zunächst entlang der zentralen makrosoziologischen Kategorien zur Beschreibung sozialer Ungleichheit die Zurückdrängung klassentheoretischer Konzeptionen durch individualisierungstheoretische Ansätze, die der gegenwärtigen Lage nicht angemessen seien. Als Alternative dazu wie auch zu den früheren Begrifflichkeiten, die der gegenwärtigen Lage ebenfalls nicht gerecht werden, ist in den vergangenen Jahren das Konzept der Prekarität als Schlüsselkategorie der Sozialstrukturanalyse ausgearbeitet worden. Dörre stellt den Verlauf der Diskussion, die begrifflichen Innovationen sowie empirische Forschungsergebnisse vor, bettet das Konzept in den theoretischen Rahmen der Intersektionalitätsforschung ein und widmet sich den Herausforderungen, die sich daraus ergeben, die Strukturierung sozialer Ungleichheit aus der Perspektive gesellschaftlicher Unsicherheit in den Blick zu nehmen.

5.Bedarf es einer neuen Soziologie?

Die zentralen Herausforderungen, mit denen die Soziologie heute konfrontiert ist, bilden das Thema des fünften und letzten Abschnitts dieses Handbuchs. Wie die Beiträge zu den etablierten soziologischen Untersuchungsfeldern und Teildisziplinen verdeutlichen, sind diese ausnahmslos im Wandel, sowohl aufgrund wissenschaftsinterner Dynamiken und theoretischer Impulse wie auch aufgrund gesellschaftlicher Transformationsprozesse, die nach neuen Beschreibungskategorien, Deutungsansätzen und explanativen Theoremen verlangen. Der durch die Konfrontation konkurrierender Perspektiven vorangetriebene Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis berührt häufig jedoch nicht die Grundannahmen und paradigmatischen Selbstverständlichkeiten der jeweiligen Forschungsfelder oder gar der Disziplin insgesamt. Nicht jede unvorhergesehene gesellschaftliche Entwicklung stellt die Soziologie vor eine fundamentale Herausforderung, doch einige lassen sich nicht mit dem bestehenden Forschungsinstrumentarium oder durch kleinere begriffliche Anpassungen und theoretische Fortentwicklungen verständlich machen. Die Herausgeber haben sechs gesellschaftlich virulente Problemfelder identifiziert, zu denen die Beiträge einen allgemeinverständlichen Einblick entlang der Frage geben, inwiefern jüngere soziale Entwicklungen und Ereignisse noch innerhalb der vorhandenen sozialwissenschaftlichen Paradigmen adäquat erfasst werden können oder aber die Soziologie ihre bisherigen Grenzen überschreiten muss, um ihrer gesellschaftlichen Funktion gerecht zu werden, einen relevanten Beitrag zur Aufklärung gesellschaftlich drängender Problemkonstellationen zu leisten.

Der Beitrag von Bernd Sommer und Harald Welzer widmet sich dem Feld ökologischer Herausforderungen, die einstweilen vorrangig mit Blick auf den Klimawandel und unter naturwissenschaftlichen und technischen Gesichtspunkten konzipiert werden. Gegen diese Auffassung wird in doppelter Hinsicht die wechselseitige Abhängigkeit der Entwicklung natürlicher und [20]sozialer Zusammenhänge hervorgehoben. Einerseits sind Naturereignisse nur im Kontext gesellschaftlicher Ordnungen herausfordernd, andererseits haben Lebensformen Auswirkungen auf natürliche Systeme, deren Regulierung notwendigerweise diese Lebensformen tangiert und deswegen nicht rein technisch erfolgen kann. Die Einsicht in den Zusammenhang von Klima- und Gesellschaftswandel führt zu der Überlegung, dass es sich bei Ersterem lediglich um ein Symptom menschengemachter Ressourcenknappheiten handelt, deren Ursache in der gewaltigen Zunahme umweltbeeinflussender menschlicher Aktivitäten seit der Industrialisierung zu finden ist und die dem energieintensiven Modell der expansiven Moderne Grenzen setzen. Die Soziologie steht damit vor der Aufgabe, die Möglichkeiten einer alternativen Moderne auszuloten, die bestandsfähige Lebensstile ermöglicht.

So wie die moderne Gesellschaft bislang durch ihre Wachstumslogik gekennzeichnet ist, so ist sie auch durch ihre staatliche Organisation geprägt. Die moderne Gesellschaft ist staatlich organisierte Gesellschaft. Die staatliche Funktion, Gewalt zu monopolisieren, bedeutet mithin, dass sich die moderne Gesellschaft einerseits als weitgehend gewaltfrei darstellt, andererseits aber die Mittel der Gewaltanwendung potenziert hat. Der als solcher mittlerweile nicht mehr umstrittene grundlegende Wandel moderner Staatlichkeit berührt deswegen auch die gesellschaftliche Rolle und Funktion der Gewalt. Steht die Soziologie vor der Herausforderung, mit der Kopplung von Staat und Gesellschaft auch die Verknüpfung von Gewalt und Staat zu überwinden? Diese Frage diskutiert David Strecker, der die sozialwissenschaftliche Forschung zu Begriff, Phänomen und Erklärung der Gewalt skizziert, um am Wandel von Krieg und Terrorismus sowie der gewalteinhegenden zivilisierenden Funktionen klassischer Staatlichkeit die Ordnungsfixiertheit der klassischen Soziologie zu problematisieren und Perspektiven für eine gesellschaftstheoretisch inspirierte, integrative Gewaltforschung zu umreißen.

Auch Stephan Lessenich problematisiert in seinem Beitrag zur Demographie die Nachwirkungen der Orientierung der frühen Soziologie an der Bewältigung von Krisen und der Herstellung sozialer Ordnung. Die Dramatisierung des demographischen Wandels im Begriff der »alternden Gesellschaft« ist ein Mechanismus, die soziale Wirklichkeit zu strukturieren und zu ordnen, erzeugt aber selber wieder Unsicherheiten, nämlich über die Folgen, die Entwicklungsrichtung und den Umgang mit dieser Ordnung. Der Beitrag zeichnet diesen sich selbst unterminierenden Ordnungsimpuls an den Bereichen Alter, Migration und Multikulturalismus nach. Die gesellschaftliche Inklusion der Alten erzeugt die neue Grenze gegenüber den nicht mehr Aktivierbaren, die Mobilisierung transnationaler Arbeitskräfte die Exklusion unerwünschter Migranten und Migrantinnen und die Assimilation ethnischer Minderheiten die Kategorie der Integrationsunwilligen. Das Studium demographischer Entwicklungen weise deswegen auf die Notwendigkeit einer Selbstkritik der auf Ordnungsschaffung abzielenden Soziologie hin, die besser daran täte, Vergesellschaftungsprozesse in ihrem offenen und ambivalenten Charakter zu untersuchen.

Ulrich Beck und Hartmut Rosa diskutieren ebenfalls unvorhergesehene Effekte gesellschaftlicher Entwicklungen. Unter dem Titel »Eskalation der Nebenfolgen« fragen sie nach jenen Phänomenen, die sich aus räumlichen und zeitlichen Steigerungen, der Kosmopolitisierung und Beschleunigung sozialer Beziehungen ergeben und die Überwindung des methodologischen Nationalismus erfordern. Dabei halten sie sowohl am Gesellschaftsbegriff wie auch an klassischen Erklärungsansprüchen der Soziologie fest und grenzen sich damit von alternativen globalisierungstheoretischen Ansätzen ab, nämlich von system-, weltsystem-, netzwerk- und komplexitätstheoretischen Konzeptionen. Demgegenüber zeichneten sich die Theorien der Weltrisikogesellschaft, der reflexiven Modernisierung und der sozialen Beschleunigung durch den Fokus auf die Dynamisierung der modernen Gesellschaft aus, deren Nebenfolgen die Stabilisierungen dieser Formation unterminieren.

[21]In der Erfahrung des Sinnverlustes hat schon die frühe Soziologie eine grundlegende Herausforderung erkannt. Dabei handelt es sich um einen in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Umbruchserfahrungen zwar fluktuierenden, im Grunde gleichwohl scheinbar bestandsfesten Topos der Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften. Entsprechend skizziert Christel Gärtner, wie dieses Problem die Disziplin im historischen Wandel immer wieder neu beschäftigt. Strukturell in der wachsenden Pluralisierung der Muster der Lebensführung und dem gesteigerten Bewusstsein der Kontingenz gesellschaftlicher Traditionsbestände begründet, wird die Diagnose des Sinnverlustes typischerweise in Krisenzeiten formuliert. Der Beitrag stellt entsprechende Diskurse exemplarisch vor, um darin unterschiedliche Modelle der Sinnkonstruktion zu identifizieren, deren Ausgestaltung in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Kontexten dargestellt wird. Für die Religionssoziologie und die klassische Gesellschaftstheorie mit ihren zentralen Annahmen zum Säkularisierungsprozess ergibt sich die Herausforderung, das Verhältnis von Religion und Moderne in nicht reduktionistischer Weise und entlang komplexer, gegenläufiger Prozesse neu konzipieren zu müssen.

Der abschließende Beitrag dieses Handbuchs ist der Selbstreflexion der Soziologie auf ihre gesellschaftliche Rolle gewidmet. Zur Klärung der gesellschaftlichen Relevanz soziologischer Gesellschaftskritik erörtert Jörn Lamla das Verhältnis der Soziologie zur Öffentlichkeit. Der Beitrag sichtet zu diesem Zweck die Konzeption der Public Sociology, die zeitdiagnostische Kapitalismuskritik, Ansätze der Kritischen Theorie und der kritischen Soziologie. All diese Ansätze sehen sich in unterschiedlicher Weise mit einstweilen ungeklärten Schwierigkeiten konfrontiert, hinsichtlich der professionellen Maßstäbe der Disziplin und der Problematik, die Standards der Kritik bzw. die kritische Position zu begründen. Bleibt die Soziologie in einem Fall zu bescheiden, so erhebt sie sich ein andermal über die in ihren Illusionen gefangenen Gesellschaftsmitglieder oder aber ihre Begriffe geraten zu schwammig. Am ehesten lasse sich das Wechselspiel von Sozialwissenschaften und sozialer Praxis ausgehend von den rekonstruktiven Zugängen zur Kritik entfalten, wie abschließend am pragmatistischen Modell des Demokratischen Experimentalismus umrissen wird, zu dessen Fortentwicklung und Kritik der Beitrag einlädt.

Die Herausgabe eines Handbuches der Soziologie ist ein Mammutunternehmen, das sich über einen beträchtlichen Zeitraum erstreckt hat und an dem zahlreiche Personen mitgewirkt haben. Wir möchten uns abschließend nicht nur bei den über 30 Autorinnen und Autoren der Einzelbeiträge noch einmal ganz herzlich bedanken, sondern auch bei Katharina Saalfeld und David Reum, die uns als studentische Hilfskräfte bei der redaktionellen Bearbeitung der Texte unterstützt haben, sowie bei Sigrid Engelhardt, die uns mit der gewohnten Umsicht organisatorisch geholfen hat. Seitens des Verlages hat Sonja Rothländer das Projekt mit großer Geduld und ebensolchem Engagement über mehrere Jahre begleitet. Auch dafür möchten wir uns an dieser Stelle vielmals bedanken. Ein persönlicher Dank geht schließlich noch an Christine, Hannah, Linus und Mila.

Handbuch der Soziologie

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