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[24][25]Wolfgang Eßbach

Die historischen Quellen soziologischen Denkens: Aus welchen Traditionen entwickelt sich die Soziologie?

1.Die Soziologie vor der Soziologie

Seit wann gibt es Soziologie? Welches Datum soll man fixieren, um diese Frage zu beantworten? Wählt man den Zeitpunkt, an dem das Wort Soziologie zum ersten Mal auftaucht, oder den Moment, an dem es zur Selbstbeschreibung des eigenen Denkens benutzt wird? Gilt das Datum, an dem die ersten Lehrstühle für Soziologie eingerichtet werden, oder der Zeitpunkt, an dem Soziologie nicht nur nebenbei, sondern als Hauptfach mit einem eigenen Universitätsabschluss studiert werden kann? Und wer darf überhaupt von sich behaupten, dass er wie ein Soziologe arbeitet? Unabhängig von den Antworten auf die hier gestellten Fragen – man wird Autoren und Werke ausschließen und ins außersoziologische Nichts verbannen, mögen sie noch so sehr unser Wissen über Gesellschaft gefördert haben. Es gilt daher, zunächst den Blick auf die Machttechniken zur Disziplinierung von Disziplinen zu lenken.

Zu den geistlosesten Machttechniken in diesem Felde gehören etwa solche, die zur Soziologie nur Beiträge rechnen, die von fachlich korrekt ausgebildeten Soziologen geschrieben und in Peer-Reviewed-Zeitschriften für Soziologie in den letzten fünf Jahren in englischer Sprache erschienen sind. Wer so vorgeht, für den bildet alles andere eine mehr oder weniger dubiose Peripherie, ist Randgebiet oder ist veraltet und gilt als Tradition.

Zur Disziplinierung von Disziplinen können auch stille Abkommen zwischen Fächern führen, bei denen die Traditionsmasse nach der Devise aufgeteilt wird: Adam Smith bekommen die Ökonomen, Herbert Spencer die Soziologen, Alexis de Tocqueville die Politologen. Was die Tradition angeht, so haben sich die Politologen mit ihrer verbreiteten Facheinteilung »Vergleichende Regierungslehre«, »Internationale Beziehungen« und eben »Politische Theorie« den Löwenanteil der Tradition der europäischen Gesellschaftslehren gesichert, indem sie die »Politische Philosophie« von Platon bis Habermas zu ihrer Fachidentität zählen.

Komplexer ist die Machttechnik, einzelne Figuren der Vergangenheit zu Klassikern der Soziologie zu promovieren. Aber wer entscheidet über solche Promotionen? Geht es nach der Häufigkeit der Zitationen, die über Social Sciences Citation Index oder Arts & Humanities Citation Index festzustellen sind? Ist es ein Konsens, der über Generationen unter Soziologen tradiert und in Curricula und Prüfungsordnungen immer wieder bestätigt wird? In welchem Verhältnis steht die Wissenschaftsgeschichte der Soziologie mit ihren neuen Erkenntnissen zum eingeübten Ensemble des Kanons der Klassiker?

Der pädagogische Nutzen von Listen mit Klassikernamen für die Lehre zur Einführung in die Soziologie steht außer Frage. Doch vermischt sich dieses einfache Anliegen mit der zweischneidigen Debatte um die Identität der Soziologie. Eigentlich ist Identität nichts Besonderes, jedes Phänomen hat seine Identität. Probleme bereiten diejenigen, die von Identitätsängsten geplagt sind. Wo Selbstbewusstsein fehlt, muss Identität her, und der kindliche Wunsch nach [26]schützenden Gründervätern findet bei den zu Klassikern erhobenen starken Heroen der Soziologie seine Erfüllung.

Machttechnisch interessant wird es, wenn man sich derartige Listen genauer ansieht. In der pädagogisch durchaus lobenswerten Liste der Website »50 Klassiker der Soziologie« finden sich beispielsweise Robert Michels, aber nicht Georges Sorel; Arnold Gehlen, aber nicht Max Scheler; Marcel Mauss, aber nicht Claude-Lévi Strauss; Pierre Bourdieu, aber nicht Edgar Morin. Für jeden, der hier zum Klassiker promoviert wurde, gibt es eine diskutable Alternative. Die Exklusion hat freilich eine implizite Logik. Die Ausgeschlossenen gehören zu der Sorte von Wissenschaftlern, die nicht nur für die Soziologie Bedeutendes geleistet haben, sondern auch für Fächer jenseits eng gefasster soziologischer Fachgrenzen.

Wenn man sich von den Machttechniken zur Disziplinierung von Disziplinen verabschiedet und nach sinnvollen Wegen einer Soziologie vor der Soziologie sucht, stellt man rasch fest, dass in der Vergangenheit Autoren über Ordnungen menschlichen Zusammenlebens und den Wandel dieser Ordnungen nachgedacht und geschrieben haben, die sich heutigen Facheinteilungen entziehen. In Europa sind es zwei Formen geistiger Arbeit gewesen, die einen bemerkenswerten Fundus von Kenntnissen und Erkenntnissen über die Sozialität des Menschen geschaffen haben: einmal das Bestreben, das verstreute Wissen Einzelner oder verschiedener Gruppen zu sammeln und zu ordnen, zum anderen das bohrende Nachfragen in Angelegenheiten, die bisher fraglos hingenommen wurden. Für die eine Form steht der Typus des Gelehrten oder Universalgelehrten, für die andere der des Philosophen, wobei sich bei vielen Autoren auch beides mischen kann. Wir unterscheiden drei Wege, mit diesem Fundus umzugehen.

1. Historische Quellen soziologischen Denkens sind aufzudecken, wenn man sich daran macht, die Theorien und Problemlösungen zu rekonstruieren, die Gelehrte und Philosophen für die Fragen entwickelt haben, auf die alle menschlichen Gesellschaften seit Anbeginn eine Antwort suchen: Menschen mussten sich ernähren, mit dem Wetter zurechtkommen und ihre Wohnungen bewohnbar halten. Sie mussten irgendwie miteinander auskommen und den Nachwuchs so erziehen, dass er in die Gruppe integriert werden konnte. Sie mussten die Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit des Körpers akzeptieren und diesen schließlich bestatten. Sie mussten zur Kenntnis nehmen, dass Männer und Frauen existieren und dass Generationen kommen und gehen. Sie mussten anerkennen, dass es fette und magere Jahre gibt und dass Feuer, Überschwemmung oder Dürre vieles wieder zunichtemachen konnten. Und sie mussten mit übel gesonnenen Menschen rechnen, mit feindlichen Gruppen, gegen die man Krieg führte, oder mit einzelnen, die in der Gruppe existierten und sich nicht fügen wollten.

Was z. B. bei Aristoteles über soziale Klassen, bei Augustinus über den gerechten Krieg, bei Thomas von Aquin über die Arbeitsteilung, bei Machiavelli über das Absterben veralteter Institutionen, bei Montaigne über das Streben nach einem gesellschaftlichen Gleichgewicht, bei Hobbes über Gewalt, Macht und Herrschaft, bei Hegel über Liebe, Ehe und Familie zu lesen ist, hat nicht nur soziologische Relevanz. Wer sich damit auseinandersetzt, kann zudem Grundfiguren des Denkens über Gesellschaft entdecken, die in der Folge wieder und wieder überschrieben wurden. Kurz gesagt: Man kann zu fast allen Fragen, die sich auf das Zusammenleben von Menschen beziehen, bei Gelehrten und Philosophen früherer Jahrhunderte kluge Einsichten und interessante Argumentationen finden. Was den gedanklichen Zugriff angeht, sind sie bisweilen sogar überzeugender als heutige soziologische Ansätze.

2. Ein anderer Weg, historische Quellen soziologischen Denkens aufzusuchen, besteht darin, die heute verwendeten Grundbegriffe auf ihre geschichtliche Befrachtung hin zu befragen. Auf diese Weise lässt sich prüfen, ob der Begriff noch das trifft, was er treffen soll. Alle Sprache registriert und verwandelt Sachverhalte, sie ist rezeptiv und produktiv. Von der amititia zur Freundschaft, [27]von der communitas zur Gemeinschaft, von der societas zur Gesellschaft, von der Polis zum Staat verändert sich einiges. Es kann geschehen, dass Wort und Sache in einem bestimmten Zeitraum deckungsgleich bleiben. Es kann aber auch geschehen, dass das Wort gleich bleibt, die Sache sich aber ändert, oder umgekehrt: Das Wort ändert sich, und die Sache bleibt gleich. Schließlich können Sache und Wort so auseinanderdriften, dass die alten Zuordnungen unverständlich werden (Koselleck 2006). Die Alternative zu dieser Art einer diachronen Begriffsgeschichte besteht in einer ideengeschichtlichen Forschung, die bei der Nutzung von historischen Quellen soziologischen Denkens mehr auf den historischen Kontext achtet als auf den einzelnen Text oder eine einzelne Aussage. Denn die Klassiker danach zu befragen, was sie zur Idee der Gesellschaft, der sozialen Ordnung, der Funktion der Familie usw. gesagt haben, kann zu dem Mythos führen, dass eine kohärente Lehre vorliegt, wo es sich doch nur um zusammengestückelte Aussagen handelt, die im konkreten Kontext eine ganz andere Funktion hatten (Skinner 2010).

3. Wenn es um die historischen Quellen soziologischen Denkens geht, kann man drittens auch den Blick auf historische Paradigmen der redundanten Denkformen und Sprachspiele lenken, die in allen Bereichen des Wissens in einem Zeitraum von mittlerer Dauer ihre Anwendung finden. Hier ließe sich von politischen Sprachen im Sinne von John G. A. Pocock sprechen, von den verbreiteten Arten, etwas zu problematisieren oder nicht, von den Konventionen der Rhetorik, dem Stil der Plausibilisierung und dem Sortiment von Vokabeln, das eingesetzt wird (Pocock 2010).

Eine solche Analyse lässt sich auch mit Blick auf eine historische Diskursanalyse erweitern, wie wir sie Michel Foucault für die Grammatik, die Klassifikation der Lebewesen und für die Analyse der Reichtümer verdanken, bevor sich das Wissen in Disziplinen der empirischen Felder »Arbeit«, »Leben« und »Sprache« ausdifferenziert hat (Foucault 1974). Auf dieser Ebene von Denkrahmen, bei Foucault episteme genannt, geht es nicht mehr um Autoren, sondern um mögliche Subjektpositionen und Gegenstandsfelder, die die Ordnung des Diskurses zulässt oder nicht.

Alles in allem: Soziologie vor der Soziologie bereitet einige Mühe und bedarf besonderer Anstrengungen, weil Soziologie ein spätes Fach ist, gerade mal gut 100 Jahre alt. Hinzu kommt, dass Soziologen nicht so vorgehen können wie etwa Physiker oder Chemiker, die in den Schriften von Gelehrten und Philosophen früherer Zeit exakt zwischen wahren Einsichten und horrendem Unsinn unterscheiden können, weil für sie der heutige Stand des Wissens maßgeblich ist. In der Soziologie verbietet sich dieses einfache Verfahren. Denn wenn es z. B. um die Validität von Aussagen über Blei geht, so nehmen wir an, dass sich dieser Reinstoff seit langer Zeit nicht verändert hat und das Wachstum des richtigen Wissens und die Bestimmung der Irrtümer auf dem Weg des Experiments gesichert werden kann. Bei Menschen, in Gesellschaft lebend, ändern sich die Dinge. So verfährt denn auch die soziologische Erforschung der Wissenschaftsgeschichte der Naturforschung nach dem Symmetrieprinzip, das lautet: Wahrheit und Irrtum der Wissenschaft einer Zeit sollen mit denselben Begriffen, Ursachen, Faktoren – d. h. eben symmetrisch – erklärt werden. Newtons Irrtümer und seine Durchbrüche sollten gerechterweise mit dem gleichen Maß gemessen werden, weil man sonst den offenen Charakter von Wissenschaft, bei dem ja gerade nicht von vornherein feststeht, was spätere Generationen gebrauchen und anerkennen können und was nicht, grundsätzlich verfehlt (Bloor 1991).

Sich mit den historischen Quellen soziologischen Denkens zu befassen, ist gerade in Deutschland auch aus politischen Gründen von Bedeutung. Denn im Selbstbewusstsein hiesiger Bürger fehlt eine verlässliche politische Konzeption mythischen Charakters, die helfen könnte, im Fluss der Ereignisse, der Krisen und Glücksmomente wieder zur Ruhe zu kommen. Helmuth Plessner hat daran erinnert, dass das Parlament in England, die bürgerliche Emanzipation in Frankreich, die erste bürgerliche Republik in Holland nicht einfach nur wichtige historische Ereignisse und [28]Prozesse darstellten, sondern es sich jeweils um nationale »Grundmythen« handelt. Plessner bemerkt dazu: »Uns fehlt eine solche Grundmythe und infolgedessen eine spezifisch bindende Tradition. Gerade deshalb sind wir das Volk der Geschichte geworden.« (Plessner 1982: 255)

Auch wenn seit 1945 unser historisches Bewusstsein auf Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust konzentriert ist – für alle Gesellschaften gilt, dass sie zur Bewältigung ihrer Krisen die guten Geister der Vergangenheit zu Hilfe rufen und den Beistand der Ahnen in Ritualen von Erinnerungskultur erbitten. Für die Krise Europas gilt dies Erfordernis heute in besonderem Maße, geschichtslose Selbstherrlichkeit kann sich dieser Kontinent im Unterschied zu den USA nicht leisten. Denn dort kann man sich auf andere Mythen verlassen und wie Huckleberry Finn auf die Bildungsangebote der Witwe Douglas reagieren: »After supper she got out her book and learned me about Moses and the Bulrushers, and I was in a sweat to find out all about him; but by and by she let it out that Moses had been dead a considerable long time; so then I didn’t care no more about him, because I don’t take no stock in dead people.« (Twain 1885: 2)

Wir beschränken uns in diesem Beitrag auf die Soziologie vor der Soziologie und behandeln das Denken der Gesellschaft bis zu jenem Moment, an dem die heute als Gründerväter der Soziologie gefeierten Autoren Émile Durkheim, Georg Simmel, Max Weber, Vilfredo Pareto, George Herbert Mead u. a. ihre Arbeit aufnehmen.

2.Entdeckung der Gesellschaft

Die Entstehung von Soziologie zum Ende des 19. Jahrhunderts ist mit dem eigenartigen Vorgang der Entdeckung der Gesellschaft untrennbar verbunden. Dies meint nun nicht, dass unsere ferneren Vorfahren sich nicht bewusst gewesen wären, dass Menschen in Gesellschaft leben. Sie wussten sehr wohl, dass Menschen, so wie sie ihr Leben führen, einander brauchen. Es war völlig selbstverständlich, dass, wie der Grieche Aristoteles schrieb, der Mensch ein zoon politikon ist – ein Tier sicherlich, aber ein solches, das sich zu einer politisch-gesellschaftlichen Lebensform erheben kann. Die Entdeckung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert bezeichnet jenen Vorgang, mit dem eine alte Selbstverständlichkeit von gesellschaftlich-gemeinschaftlicher Seinsweise brüchig wird und Gesellschaft als ein Problem erscheint, für das es neue Lösungen zu finden gilt. Soziologen haben die Gesellschaft nicht aus heiterem Himmel entdeckt, sondern unter einem düsteren Himmel den Aufruhr ihrer Zeit erfahren und sich als soziales Problem versucht verständlich zu machen. Von daher steht soziologische Arbeit immer unter »Zeitdruck« im mehrfachen Sinne. Die Zeit ist zu knapp für das gemächliche Ausreifen der Forschungsergebnisse, und die Zeit bedrückt mit ihren ideologischen Verblendungen ebenso wie mit ihren Ratlosigkeiten.

Gegen diese historische Situierung der Entdeckung der Gesellschaft könnte jemand mit gutem philosophischen Sinn einwenden: Menschen haben doch immer dieselben Probleme gehabt. Dies ist eine sehr ehrenwerte und auch weise Auffassung. Wenn man auf einen hohen Berg steigt und in der klaren Luft einsam stehend über die Welt nachdenkt, wird man wohl zu solchen Auffassungen kommen. Aber unten in den Tälern und Niederungen, da wo sich Soziologinnen und Soziologen aufhalten, stellen sich die Dinge anders dar. Hier gibt es schon ewige Grundprobleme, aber es gibt vor allem Probleme, die auf den Nägeln brennen, angesichts derer man die nicht so relevanten Probleme und Prioritäten durchaus zeitweise vergessen kann. Im 19. Jahrhundert ist das Problem Gesellschaft ein auf den Nägeln brennendes Problem. Denn die lebensweltlichen Gewissheiten der frühen Moderne fallen einem vierfachen Angriff zum Opfer: der Revolutionierung der Politik, der Monetarisierung der Beziehungen, der Industrialisierung der Arbeit und der Autonomisierung der Kunst.

[29]Revolutionierung der Politik: Mit der Französischen Revolution, die 1789 beginnt und deren Ideen der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sich in der Folgezeit in der Welt auszubreiten beginnen, geht die lange Dauer einer in Stände gegliederten Gesellschaft zu Ende. Das große Muster sozialer Differenzierung war, wenn man den Blick auf den indo-europäischen Kulturkreis eingrenzt, bis dahin erstaunlich konstant. Die historischen Erzählungen berichten von der Vollkommenheit der Gliederung der Gesellschaft in drei Hauptfunktionen: 1. dem göttlichen Gesetz, das zur Ordnung zurückführt, 2. dem bewehrten Arm, der mit Gewalt zum Gehorsam zwingt, und 3. der Fruchtbarkeit der Arbeit, der Fülle und der Feste. Die vollkommene Gesellschaft teilt sich in drei Stände: Geistlichkeit, Adel und Dritter Stand. Der dem Adel entstammende und vom Bischof gesalbte Monarch bildet die Spitze des ständisch gegliederten Gemeinwesens.

Diese trifunktionale Ideologie war historisch nicht unangefochten. Gegenüber der Vollkommenheit der Dreiteilung wird geltend gemacht, dass der Friede der Ordnung nur ein oberflächlicher Schein sei, während in Wahrheit die Gesellschaft von einem geheimen Krieg durchzogen sei, der sie in nur zwei Lager teile. Jedes Individuum würde sich mit dem Offenbarwerden der fundamentalen binären Spaltung der Gesellschaft auf einer Seite finden. Unter dem Ansturm dieser Kritik am Trifunktionalismus brach das alteuropäische Ständesystem zusammen.

Der Vorgang ist am klassischen Beispiel der Französischen Revolution gut zu beobachten. Die berühmte Kampfschrift von Emmanuel Sieyès zeigt lehrbuchartig die Dramatik der Umstellung vom Trifunktionalismus zur Binarität. Der Dritte Stand ist demnach jetzt eine »vollständige Nation«. In ihr gibt es nur zwei Typen von Arbeiten: private und öffentliche. Das alles kann der Dritte Stand leisten. Der Rest, die »Privilegierten«, d. h. Adel und Geistlichkeit, sind überflüssig (Sieyès 1968: 56). Das politische Ordnungsgefüge wurde unter die Imperative »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder der Tod« gestellt, sodass ein junger Anarchist schreiben konnte: »So lange der menschliche Geist nicht seiner Freiheit und ungebundenen Selbstentwicklung überlassen ist, so lange können wir auch nicht sagen, er habe ein Dasein, das seiner würdig wäre.« (Bauer 1842: 9)

Monetarisierung der Beziehungen: Die Ursprünge des Geldes reichen weit zurück. Auch Märkte, auf denen Güter gehandelt wurden, gab es schon lange. Entscheidend ist: Die großen Beschränkungen, denen die europäischen Märkte noch im 18. Jahrhundert unterlagen, fielen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Stück für Stück weg, so dass sich die Menschen in Europa erstmals mit einem System weitgehend sich selbst regulierender Märkte konfrontiert sahen. Im 19. Jahrhundert musste man schon sehr blind sein, wenn man nicht sehen wollte, wie alle sozialen Beziehungen in den Strudel der ökonomischen Rationalität gezogen wurden, wie auch die ehrwürdigsten Güter der Gesellschaft und der Kultur plötzlich einen Preis bekamen, verkäuflich und käuflich wurden. Die Geldwirtschaft und das Rentabilitätsbewusstsein durchdrangen so sehr die zwischenmenschlichen Beziehungen und das Verhältnis zu Dingen, dass ein anonymer Zeitgenosse feststellte: »Vermögen, Reichtum, Nutzen, Erwerb, Geld – das gilt über alles. Es ist zwar wohl immer geschätzt worden, allein doch nur als Repräsentant der Dinge; jetzt gilt aber der Repräsentant mehr als das Repräsentierte, und die Sachen und Dinge sind bloß Repräsentanten des Geldes geworden.« (Anonym 1834: 47)

Industrialisierung der Arbeit: Die Geschichte der Industrie hat einen langen Vorlauf. Maschinen, mit denen die Körperkräfte des Menschen gesteigert werden konnten, kannte man schon in der Antike. Die Nutzung von Wind und Wasser in der Mühlentechnologie blühte im Mittelalter. Der spätmittelalterliche Bergbau stellte ein Mikromodell der Industrialisierung dar. Es gab zu dieser Zeit ein Ensemble von technischen und sozialen Strategien, die von hier aus in andere industrielle Bereiche eingedrungen sind. Ohne die Lösung der Energiekrise des 18. Jahrhunderts, [30]d. h. ohne den durch die Entfaltung des Bergbaus möglichen Übergang vom Holz zur Kohle, wäre die industrielle Revolution undenkbar gewesen. Die fossile Energie ermöglichte der Dampfmaschinen-Technologie ihren Siegeszug.

Für die Ausbreitung von Maschinen war der Zeitpunkt entscheidend, an dem Maschinen oder einzelne ihrer Module mehr und mehr maschinell erzeugt werden konnten. In der Fabrik stieg daraufhin der Anteil des »toten Kapitals« der Maschinen gegenüber »dem lebendigen Kapital« der Arbeiter. Die technischen Innovationen und die Ausbreitung neuer Maschinen ließen den Unternehmer Robert Owen feststellen: »Die Dampfmaschine und die Spinnmaschine haben jedoch mit ihren Folgeerscheinungen, den zahllosen mechanischen Erfindungen, so viel Unheil über die Gesellschaft gebracht, dass dieses nun weitaus den Segen überwiegt, den sie gebracht haben. […] Die allgemeine Ausbreitung der Fabriken über das ganze Land erzeugt einen neuen Charakter in seinen Bewohnern. […] Der Unternehmer betrachtet die Beschäftigten als bloße Instrumente für seinen Gewinn, während die Arbeiter einen grob gewalttätigen Charakter erwerben.« (Owen 1970: 55 f.)

Autonomisierung der Künste: An Festtagen, wenn die Arbeit ruhte, war Zeit für die Kunst des einfachen Volkes, die herrschenden Schichten hatten dagegen mehr Muße und Mittel für die Repräsentation ihres Ranges und die Feier ihren Lebensstils in Architektur, Bildender Kunst, Musik und Literatur. Die Künstler standen im Dienst der Kirche und des Adels oder waren selbst Angehörige der Oberschicht. Mit der Genese eines bürgerlichen Publikums wuchs sehr langsam die Zahl der Künstler, die ihre Werke auf einem Markt anbieten konnten. Damit erweiterten sich die Chancen für ästhetische Distinktionen, die Stoff für die Kunstdiskussion werden konnten. Sie bezog sich mehr und mehr auf den Wert der Kunst an sich, auf ihre schöpferische Originalität und ihre Kühnheit, sich vom Gewöhnlichen abzuheben. Diese Autonomisierung der Künste führte zu Prozessen kunstinterner Normbildung und der überraschenden innovativen Überschreitung ästhetischer Normen. Charles Baudelaire hat diese Autonomie der Kunst 1855 auf den Punkt gebracht: »Der Künstler hängt nur von sich selbst ab. Er verspricht den kommenden Jahrhunderten nur seine eigenen Werke. Er bürgt nur für sich selbst. Er stirbt ohne Nachkommen. Er war sein König, sein Priester und sein Gott.« (Baudelaire 1983: 234)

Stimmen aus dem 19. Jahrhundert, die die vier Prozesse: der Revolutionierung der Politik, der Monetarisierung der Beziehungen, der Industrialisierung der Arbeit und der Autonomisierung der Künste als etwas grundstürzend Neues erfahren haben, ließen sich mühelos zu einem Riesenchor erweitern. Aus den verschiedensten Perspektiven taucht Gesellschaft als Problem auf: Die Idee der ungebundenen Selbstentwicklung bedroht die soziale Bindung. Das Geld macht Beziehungen käuflich. Die Maschinen führen zu verelendeten und gewalttätigen Arbeitern, die Künstler definieren sich als absolut autonom. – Gesellschaft in dem Sinne, dass Menschen einander brauchen, dass sie ihr Handeln in eine Ordnung bringen müssen – diese alte Vertrautheit bricht. Das Einander-Brauchen funktioniert ganz unsozial als bloßes Ausnutzen. Viele denken sich als Gegenüber der Gesellschaft. Gegen Gesellschaft wird Freiheit, Eigennutz und Autonomie gefordert und praktiziert. Gesellschaft erscheint so als eine Art Nichtgesellschaft oder als Auflösung der Gesellschaft, als gesellschaftliches Chaos – und das ist vielen unheimlich. In einer paradoxen Selbstwahrnehmung sprechen die Menschen davon, dass es gesellschaftliche Kräfte sind, die die Gesellschaft bedrohen.

Mit der Entdeckung der Gesellschaft als einem fraglich gewordenen Phänomen im 19. Jahrhundert bilden sich drei Optionen heraus, deren Erbschaften in die Soziologie eingehen und bis heute Imaginationen ihrer Wirksamkeit stimulieren. Zum einen ist das der Wille zu einer stabileren Sozialordnung, zum anderen der Wille zu einer besseren Gesellschaft, drittens schließlich der Wille zu einer informativen Selbstdarstellung der Gesellschaft.

[31]3.Die Stabilität der sozialen Ordnung: Staat, Polizei, Selbstregulation

Der moderne Staat: Eine dramatische Herausforderung für die Stabilität sozialer Ordnung waren die über 200 Jahre währenden europäischen Glaubenskriege in Folge der Reformation. Diese Kriege haben unsere Moderne tief geprägt. Religiöse Reformbewegungen kannte man seit langem. Entscheidend war, dass die religiösen Abweichler Herrscher fanden, die den reformierten Glauben zu ihrer Sache und damit zur Glaubenspflicht für ihre Untertanen machten. Die Glaubenskriege waren somit zugleich Staatenbildungskriege. In der neuen Form des Territorialstaats sollten alle einer Konfession angehören. Der gesellschaftstheoretische Grundsatz lautete: religio vinculum societatis (Jede Gesellschaft braucht eine einheitliche Religion für ihren Zusammenhalt). Dissidenten mussten auswandern, und die Gläubigen, die keinen Staat ihrer Konfession fanden, verschlug es in diesen Kriegen an die Peripherie entweder in den Osten Europas oder – weit erfolgreicher – über den Atlantik nach Nordamerika, um dort eine Gesellschaft auf der Basis der Religionsfreiheit zu errichten.

In Frankreich vertrat der im Glaubenskrieg zeitweise inhaftierte Jean Bodin folgende These: Um trotz konfessioneller Zwietracht, die in religiös erregten Zeiten stets von Neuem aufbrechen konnte, friedlich zusammenzuleben, reiche es nicht, Familien und Gruppen sich selbst zu überlassen. Vielmehr sei eine absolut unabhängige oberste vernünftige Gewalt nötig: »Summa potestate ac ratione moderata.« (Bodin 1591: I, 1) Die maßgebliche Modellvorstellung für eine solche souveräne Macht entwickelte ein anderer Glaubenskriegsgeschädigter: Thomas Hobbes ging davon aus, dass die Natur nicht nur, wie man in der Antike meinte, dafür gesorgt habe, dass jedem das Naturgemäße zur Erfüllung seiner Bedürfnisse gegeben sei, sondern dass im Naturzustand jeder den Anspruch auf alles ihm überhaupt Erreichbare geltend mache. »Sooft daher zwei ein und dasselbe wünschen, dessen sie aber beide nicht zugleich teilhaftig werden können, so wird einer des andern Feind, und um das gesetzte Ziel, welches mit der Selbsterhaltung immer verbunden ist, zu erreichen, werden beide danach trachten, sich den andern entweder unterwürfig zu machen oder ihn zu töten.« (Hobbes 1978: 113 f.) Dieser Krieg aller gegen alle ist nur zu beenden, wenn die Menschen einen Vertrag darüber schließen, auf Gewalt zu verzichten und diese einer souveränen Macht als Monopol zu übertragen.

Die moderne Polizei: Die Stabilität sozialer Ordnung bedarf nicht nur grundlegender, den inneren Frieden wahrender verfassungsrechtlicher Formen. Nicht minder wichtig sind Erhalt, Pflege und Förderung gesellschaftlicher Teilbereiche, die sich der moderne Staat zur Aufgabe gemacht hat. Zu den historischen Quellen der Soziologie gehört gleichgewichtig die Kameralwissenschaft, die so genannte »Policeywissenschaft«. Die Staatswirtschaftslehren befassten sich mit der Frage, welches Wissen benötigt wird, um das Ziel zu erreichen, das J. H. G. von Justi so beschrieben hat: »Der Endzweck der Policey ist demnach, durch gute innerliche Verfassungen die Erhaltung und Vermehrung des allgemeinen Vermögens des Staats zu bewirken.« (Justi 1759: 6) Wir haben es hier mit einer Polizei zu tun, die die Steigerung der kollektiven und individuellen Kräfte der Staatsmitglieder zum Endzweck hat. Diese Polizei kümmert sich um Erhaltung und Vermehrung und befasst sich nicht zuerst mit dem Verhältnis von Volk und Herrscher, sondern mit der Bevölkerung. Sie ist der prominente Gegenstand der Staatswissenschaft.

Es geht um die Personen, die ein Staatsgebiet bevölkern, und hieran schließt sich eine Reihe von Fragen an, die zur Anlage von Wissensbeständen führen. Beschäftigt man sich mit der Bevölkerung, gerät zunächst ihre Fruchtbarkeit in den Blick. Wie hoch ist die Geburtenrate, wie hoch die Sterblichkeit? Dann geht es um die Zusammensetzung: Wie viele Frauen gibt es, wie viele Männer? Wie sieht es mit der Zusammensetzung nach Generationen aus? Welches Alter erreichen [32]die Personen? Bevölkerung lässt sich auch unter dem Gesichtspunkt der Produktivität betrachten: Wie steht es um Art und Verteilung der Berufe, des Zusammenhangs von Berufen und zu ihnen gehörigen Ressourcen, die Art der Qualifikationen, des Gelernt-Habens und der Ausbildung. Auch Fragen der Sicherheit, der Regenerierung, der Produktivität, Fragen nach Gesundheitszustand, Krankheitshäufigkeit, Ernährungszustand, Wohnverhältnisse, Kleidung u. a. m. stellen sich im Hinblick auf die Bevölkerung.

Aus der Tradition der Polizeiwissenschaft haben sich bis heute zwei Formen der Wissensvermehrung in der Soziologie erhalten: 1. die Statistik, denn ohne Zahlen sind Aussagen über die Bevölkerung nicht möglich. Wie viele Personen gibt es im jeweiligen Staat? Wie viele leben, wie viele sterben? Womit beschäftigen sie sich? Welche Ausbildung haben sie? Statistik ist eine unentbehrliche Hilfswissenschaft für die quantitative Sozialforschung in der Soziologie geworden. 2. der Lagebericht, denn Zahlen können täuschen. Also muss man die Dinge direkt in Augenschein nehmen. Die Inspektoren reisen im Lande herum, beobachten, besichtigen, führen Gespräche, vernehmen die verschiedenen Parteien, hören Lob und Tadel. Sie notieren sich die Klagen sowie das, was ihnen stolz als Errungenschaft präsentiert wird. Sie gewinnen einen Eindruck; sie machen sich ein Bild von der Lage, ordnen die Informationen; sie recherchieren und schreiben Lageberichte. Diese Berichte zur Lage, die auf direkter Beobachtung und direkter Nachfrage beruhen, finden sich bis heute in der Soziologie als qualitative Sozialforschung. Gegen die Statistik des Belgiers Adolphe Quételet, der für Kollektive Normalverteilungen und Durchschnittwerte errechnete, beharrte Fréderic Le Play darauf, die Familie als Erhebungseinheit zu nehmen und diese auch vor Ort aufzusuchen, was er als Professor an einer Bergbauschule ausgiebig praktizierte. Die Edition »Ouvriers européens« enthält Untersuchungen zu 36 Arbeiterfamilien, die in Inspektorenmanier teilnehmend beobachtet worden waren (Le Play 1855).

Die Selbstregulation moderner Gesellschaft: Neben den staatszentrierten Perspektiven konnte man sich in der Krise des 19. Jahrhunderts auch auf solche Traditionen beziehen, die die Stabilität sozialer Ordnung als eine begriffen, die sich eigentätig aus dem sozialen Leben von selbst ergeben würde. So hatte Michel de Montaigne schon früh die Erfahrung gemacht, »daß die Gesellschaft letztlich stets verschweißt bleibt und zusammenhält, koste es, was es wolle. In welche Lage man die Menschen auch versetzt – auf der Stelle ordnen sie sich unter Schieben und Drängen zu vierlei Schichten übereinander: so wie lose Dinge, die man aufs Geratewohl in einen Sack wirft, von selber sich verbinden und auf vielfältige Weise zusammenfügen – und besser oft, als Kunstfertigkeit sie zu ordnen vermöchte.« (Montaigne 21998: 480 f.)

Gegen die Idee, dass die Stabilität sozialer Ordnung nur durch einen starken Staat zu garantieren sei, hat Charles-Louis de Secondat, der unter dem Namen Montesquieu berühmt wurde, auf dem Wege eines Gesellschaftsvergleichs aufgezeigt, dass die Vielfalt sozialer Ordnungen immer das Ergebnis mehrerer Faktoren ist. Es spielt eine Rolle, wie Wetter und Boden beschaffen sind, denn davon hängt ab, wie die Ernährungsgrundlage, Eigentumsverhältnisse und die Bedürfnisse der Menschen aussehen. Entscheidend sind die konkreten Umstände (circonstances), mit denen der Mensch als flexibles Wesen (être flexible) umzugehen gelernt hat (Montesquieu 1900: II).

Für die Vorstellung einer Selbstregulation sozialer Ordnung bildete die Orientierung an materiellen Interessen einen idealen Ausgangspunkt. Für Adam Smith ist es der Tausch, der das Interesse des einen mit dem des anderen verbindet. Der »Hang zu tauschen, zu verhandeln und eine Sache gegen eine andere auszuwechseln« (»to truck, barter and exchange one thing for another«) gehört für Smith zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen: »Kein Mensch sah jemals einen Hund mit einem anderen einen gütlichen und wohlbedachten Austausch eines [33]Knochen gegen einen andern machen.« Wenn der Hund etwas haben möchte, so tauscht er nicht, sondern er »sucht auf tausenderlei Weise sich seinem bei Tische sitzenden Herrn bemerklich zu machen, wenn er etwas zu fressen haben will. Ein Mensch bedient sich bisweilen derselben Künste bei seinen Mitmenschen, und wenn er kein anderes Mittel kennt, sie zu bewegen, daß sie nach seinem Wunsche handeln, so sucht er durch jede mögliche knechtische und schweifwedelnde Aufmerksamkeit ihre Willfährigkeit zu gewinnen.« Aber in »einer zivilisierten Gesellschaft befindet er sich zu jeder Zeit in dem Falle, die Mitwirkung und den Beistand einer großen Menge von Menschen zu brauchen, während sein ganzes Leben kaum hinreicht, die Freundschaft von ein paar Personen zu gewinnen.« (Smith 1846: 24f)

Die Angewiesenheit auf die Hilfe vieler Mitmenschen ergibt sich aus der Arbeitsteilung, die sich in zivilisierten Gesellschaften herausgebildet hat. Für Adam Smith geht die Spezialisierung der Berufe auf den Hang zum Tauschen zurück. Der Einzelne bindet sich mit seiner Spezialität an den anderen, d. h. er macht sich für andere nützlich. Wenn ein jeder die Eigenliebe des anderen zu seinen Gunsten zu interessieren vermag und dem anderen zeigen kann, dass er seinen eigenen Nutzen davon haben kann, wenn er für ihn tut, was er von ihm haben will, dann entsteht ein Zusammenhang, der durch die Eigenliebe den Altruismus fördert. »Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Humanität, sondern an ihre Eigenliebe, und sprechen nie von unseren Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen.« (Smith 1846: 26)

4.Eine bessere Gesellschaft

Im 19. Jahrhundert wird Gesellschaft als eine fragliche Angelegenheit entdeckt. Gesellschaftslehren, die Fragen der Herrschaft, der Polizei und der Selbstregulation ins Zentrum setzen, orientieren sich an der Idee einer stabilen Sozialordnung. Was aber, wenn die Idee Platz greift, dass die Gesellschaft von Grund auf neu organisiert werden muss oder dass es eine geschichtliche Progression hin zu einer neuen Gesellschaft gibt, auf die vertraut werden kann oder die zu beschleunigen ist?

Der Traum von einer besseren Gesellschaft findet sich schon in den Idealgesellschaften und Idealstaaten, die Autoren seit der Antike entworfen haben. Das beginnt in Griechenland bei Plato und durchzieht fortan das abendländische Denken. Thomas Morus verdanken wir den Terminus Utopie. Die Autoren von Utopien verfahren konstruktivistisch. Entworfen werden andere Lebensformen, die das überbieten, was die bestehende Gesellschaftsform bietet. Der utopische Konstruktivist spielt das, was ihm wichtig ist, gedanklich durch: Wie wird die Ernährung aussehen, wie der Häuserbau, wie die Zeitregelung, wie die Erziehung, wie die Müllabfuhr und so weiter? Alles muss passen, so dass sich jeder vorstellen kann, dass es besser sei, in dieser Art zu leben, als im jeweiligen Jetzt-Zustand.

Die bessere Gesellschaft muss aber nicht auf eine utopische Insel verlegt werden, sie kann auch als eine besondere Phase im Leben von Völkern geschichtlich situiert werden, als ein goldenes Zeitalter, als Blüte einer Kultur oder als zu erwartender Höhepunkt. So hat Ibn Khaldūn (1332–1406) aus der Erfahrung der Konfrontation von Gesellschaften unterschiedlichen Typs im südlichen Mittelmeer ein zyklisches Geschichtsbild gezeichnet. Nomadische Lebensweisen kennen eine starke Solidarität; mit dem Eintritt in differenziertere urbane Lebensweisen wird der Zusammenhalt jedoch schwächer. Es kommt zu Zerfallserscheinungen, die Gesellschaft ist Eroberungen durch einen von außen kommenden Nomadenstamm hilflos ausgeliefert, den [34]freilich über kurz oder lang dasselbe Schicksal ereilen wird (Khaldūn 1992). Je nach der Selbstpositionierung in einem solchen Ablaufschema kann ein Gesellschaftszustand als besser oder schlechter erscheinen.

Das zyklische Geschichtsbild von Giambattista Vico ist wie viele Denkweisen dieser Art am menschlichen Lebenslauf im Sinne der natürlichen Entwicklung des menschlichen Geistes orientiert und zielt auf eine wiederkehrende Struktur der Gesellschaftsgeschichte von Aufstieg, Fortschritt, Zustand, Verfall und Ende, um dann von Neuem seinen Lauf zu nehmen. Vicos Modell ist in der Hauptsache der Geschichte Roms abgelesen. Nach dessen Untergang kehrt die Stufe heroischer Barbarei im Mittelalter wieder, nicht als identische Wiederholung, sondern bereichert durch die vorausgegangene Entwicklung (Croce 1927). Während Vico seine Sympathie für die heroische Zeit der Kindheit der Kulturen voller Fantasie und Poesie nicht verbarg, projiziert der Marquis de Condorcet den Idealzustand der Gesellschaft in die Zukunft, in der das Menschengeschlecht, neun Epochen durchlaufend, auf einen Zustand der Vollkommenheit zueilt. Die Perfektibilität des Menschen verläuft bei ihm in einer linearen Zeit, die bessere Gesellschaft ist die jeweils nächste (Condorcet 2010).

Mit den Umbrüchen der Französischen Revolution wird die Sehnsucht nach einer ganz neuen Gesellschaft enorm verstärkt. Frankreich entwickelt sich zur Brutstätte von Gesellschaftslehren, deren Leuchtkraft bis heute ausstrahlt. Bei Saint-Simon und seinen Jüngern ist früh schon das Ensemble der postrevolutionären Konstellation präsent, das für das Denken der Gesellschaft im 19. Jahrhundert bestimmend geworden ist: die Idee der Industriegesellschaft, die Arbeiterfrage, der Feminismus und das Ziel einer Ersetzung der Herrschaft von Menschen über Menschen durch eine Verwaltung von Sachen, deren oberste Leitung der Wissenschaft zukommt. Einer der Sekretäre Saint-Simons, Auguste Comte (1798–1857), hat dieser neuen Wissenschaft ihren Namen gegeben: »Soziologie«. Die Soziologie ist die Königin des neuen wissenschaftlichen Zeitalters, in dem die Menschen in der Lage sind, ihr Zusammenleben nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zu organisieren.

Die Ideen für eine bessere Gesellschaft gehen dann freilich in verschiedene Richtungen. Comte erfindet die Soziologie als Krönung der positivistischen Wissenschaft, die wie eine Kirche organisiert wird, und legt sich vor seinem Tod 1857 den Titel Le Fondateur de la Religion Universelle. Grand-Prètre de l’Humanité zu. Andere Schüler Saint-Simons wie Barthélemy Prosper Enfantin sahen die Befreiung der Frau und die Abschaffung der Ehe als Königinnenweg zu einer besseren Gesellschaft. Schließlich verstärken die Saint-Simonisten den anschwellenden Strom von Gesellschaftslehren, die die soziale Frage, insbesondere das Elend der Arbeiter fokussieren und die bessere Gesellschaft in einem Sozialismus, Kommunismus oder Anarchismus realisieren wollen.

Verwissenschaftlichung und Fortschritt der Gesellschaft: Die von Comte gestiftete Menschheitsreligion ist der Schluss der Entwicklung des menschlichen Geistes, der in allen Gebieten des menschlichen Wissens drei Phasen durchläuft: die theologische, die metaphysische und die wissenschaftliche. Sein berühmtes Drei-Stadien-Gesetz reflektiert die Korrelation von gesellschaftlicher Organisation und geistigem Zustand. Dem Aberglauben der theologischen Phase, die vom Fetischismus über den Polytheismus bis zum Monotheismus reicht, korrespondiert die Theokratie als soziale Organisationsform, die militärisch geprägt ist. In der metaphysischen Phase sucht der menschliche Geist nicht mehr nach göttlichen Ursachen für Dinge, die er sich nicht erklären kann, sondern konstruiert Abstrakta – Wesenheiten, denen tatsächliche Kräfte und Qualitäten zugesprochen werden können. In sozialer Hinsicht korrespondiert diese Phase mit der Entwicklung des Rechts sowie mit der Krise des Rechts, die in die Revolution münden wird und die sie [35]auch darstellt. Die Entwicklung des menschlichen Geistes finalisiert sich schließlich im positiven Stadium, in dem Ordnung und Fortschritt miteinander versöhnt sind. In diesem »endgültigen Stadium rationaler Positivität« ist die Einbildungskraft ständig der wissenschaftlichen Beobachtung untergeordnet (Comte 1994: 15).

Dieser Positivismus hat viele Wissenschaftler beflügelt, insbesondere in Frankreich, dem ersten Land, in dem Soziologie sich als Fach an Universitäten etablieren konnte. Der Prozess ist mit dem Namen Émile Durkheim (1858–1917) verbunden, der wie kaum ein anderer Wert auf die wissenschaftliche Autonomie der Soziologie gegenüber anderen Fächern gelegt hat.

Parallele Entwicklungen einer Positionierung der Wissenschaft von der Gesellschaft im Rahmen der Evolution des menschlichen Geistes und seiner sozialen Einrichtungen finden sich auch in England. Einflussreich wurde die synthetische Philosophie Herbert Spencers. Ihr Ziel war es, alles verfügbare Wissen in einer universalen Entwicklungslehre zu integrieren (Spencer 1901). Seine Definition von Entwicklung lautet: Entwicklung führt von unzusammenhängender Gleichartigkeit zu zusammenhängender Ungleichartigkeit. Es handelt sich um ein universales Entwicklungsgesetz, das für Himmelskörper, Organismen und Gesellschaften gleichermaßen gilt und für dessen Nachweis Spencer zehn Bände plant und diese in 35 Jahren auch bis auf die geplante Seitenzahl fertigstellt (ein Vergleich zu Luhmanns Zeitplanung bietet sich an).

Bemerkenswert ist die Wendung, die er der Formel vom »Kampf ums Dasein«, die er vor Darwin prägte, gab. Dieser Kampf ist kein letztes Prinzip oder Endzweck, sondern ein Mittel, mit dem sich Gesellschaft als ein Aggregat von Individuen entwickelt. Soziale Aggregate, die voneinander abhängig werden, z. B. zwei gleichartige, aber getrennte Siedlungen, werden in der Entwicklung zu einer Einheit mit innerer Differenzierung. Gesellschaftliches Wachstum durch Integration, Desintegration und höhere Integration vollzieht sich entsprechend der evolutiven Bewegung von unzusammenhängender Gleichartigkeit zu zusammenhängender Ungleichartigkeit. Die Theorie funktionaler Differenzierung ist bei Spencer voll ausgebildet.

Für Spencer ist jede Gesellschaft ein organisiertes Ganzes, an dessen Entwicklung auch diejenigen mitarbeiten, die dagegen sind oder ahnungslos, und das sind die meisten. Wie bei anderen in dieser Zeit auch, kann mit dem Organismusmodell die Erfahrung der ungesellschaftlichen Gesellschaftlichkeit entfesselter Marktgesellschaften theoretisiert und eine Perspektive der Erlösung aus den Übeln gegeben werden. Die Fülle sozialer Konflikte und Spannungen, die schwankenden Ungleichheiten der Lebenslagen können als organische Wachstumskrisen interpretiert werden. Dass Teile einer Gesellschaft ungleich werden, dass soziale Bindungen zerreißen, – diese Phänomene der Auflösung von Gemeinschaftlichkeit in entfesselten Marktgesellschaften werden als Signale einer Krise wahrgenommen werden, die jedoch nur eine Etappe auf der evolutiven Stufenleiter darstellt. Damit gewinnt der ungesellschaftliche Egoismus der Wirtschaftssubjekte eine zusätzliche Bedeutung. Darin kommt nicht nur ein utilitaristisches Streben nach Glück zum Ausdruck, sondern im Organismus der Gesellschaft stellt Egoismus ein Indiz des Wachstums dar. Wachstum heißt eben Ungleichgewicht, heißt aber zugleich Höherentwicklung und Ausdifferenzierung von Funktionen. Alle Rätsel finden in der Entwicklung ihre Lösung und alle Erlösung aus den Übeln einer zerrissenen Gegenwart geschieht durch Entwicklung.

Während Spencer die Praxis des Manchester-Kapitalismus als Weg zu einer besseren Gesellschaft befürwortete, war die Theorie der gesellschaftlichen Evolution von Kulturen des Amerikaners Lewis Henry Morgan wegen ihrer Idee eines Urkommunismus für Sozialisten attraktiv (Morgan 1891). Die Evolution von der ersten Stufe der »Wildheit«, in deren Jäger- und Sammlergesellschaften eine auf Kollektiveigentum basierende matriarchale Organisation vorherrschte, über die Stufe der »Barbarei«, die eine patriarchale, auf dem Privateigentum basierende Organisation [36]von Agrikultur und Viehhaltung kannte, zur »Zivilisation«, deren Kennzeichen Städtebau und Schrift sind, ist für Morgan ein Curriculum, das alle Völker absolvieren.

Morgans Unterscheidung zwischen einer »Societas«, die auf familialen Beziehungen, und einer »Civitas«, die auf Privateigentum beruht, inspirierte auch Ferdinand Tönnies. In der Jugendschrift der Soziologie in Deutschland, wie Max Weber Gemeinschaft und Gesellschaft von Ferdinand Tönnies genannt hat, werden nicht nur zwei grundlegende Sozialformen des Menschen, nämlich eben Gemeinschaft und Gesellschaft, unterschieden, sondern Tönnies lässt damit zugleich in einer historischen Reihe das Zeitalter der Gesellschaft auf das der Gemeinschaft folgen (Tönnies 1979). In den ersten Fassungen nannte er das Buch eine Studie zum Naturrecht. Mit Thomas Hobbes hatte sich Tönnies zuvor intensiv auseinandergesetzt. Wichtig wurde für Tönnies dann insbesondere eine von Henry Maine vorgenommene Differenzierung: Soziale Beziehungen, die auf Verträgen beruhen, sind grundlegend unterschieden von der Zuneigung in Familie, Nachbarschaft und Freundschaft (Maine 1917).

Die Geschlechterfrage: Morgans These von einer matriarchalen Organisation frühester Gesellschaften hat insbesondere die europäische Frauenbewegung fasziniert. Ihr kam im Anschluss an Morgans Forschungen Friedrich Engels mit seiner viel gelesenen Schrift Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats entgegen (Engels 1975). Aber auch Auguste Comte gab seiner Soziologie eine enthusiastische feministische Wende, die seine Kollegen irritierte. Neben der wissenschaftlichen Vernunft, die die Ordnung der Dinge aufzeigt, und der Aktivität, die handelnd Fortschritt erzeugt, hat Comte schließlich als drittes Element dem femininen Gefühl eine besondere Funktion zugeschrieben. Dem Bündnis von wissenschaftlicher Grundlage und aktivem Fortschritt fehle »eine hinreichende Vertretung des höchsten menschlichen Regulators. Er kann nur gemäß einem Element, das ihm direkt eigen ist, wie das philosophische Element der Vernunft eigen ist und das populäre der Aktivität, würdig seine Stelle einnehmen. Dies ist das grundlegende Motiv des unumgänglichen Hinzufügens der Frauen zur erneuernden Koalition, sobald als ihre Tendenzen und Bedürfnisse ziemlich klar werden.« (Comte 2004: 248) So steht im positivistischen Gebet »Liebe als Prinzip, Ordnung als Grundlage und Fortschritt als Ziel« die Frau an erster Stelle (Comte 2004: 333).

John Stuart Mill hat das Motiv, das Comte dazu bewegt hat, in den Hausandachten zur Verehrung der »Göttin Gesamtmenschheit« die »Mutter, die Gattin und die Tochter, als die Sinnbilder der Vergangenheit, der Gegenwart und Zukunft, und als die Erweckerinnen der drei socialen Gefühle Verehrung, Liebe und Güte« anzubeten, in der Liebesbeziehung Comtes zur Clothilde de Vaux gesehen (Mill 1968: 106 f.). Im Unterschied zu Comte hat Mill seine Verehrung von Harriet Taylor nicht so weit getrieben. Dennoch ist bekannt, wie sehr sich unter ihrem Einfluss die weiteren Auflagen seiner Principles of Political Economy sozialistischen Auffassungen annäherten. Mill schrieb seiner angebeteten Harriet geniale Qualitäten zu, Tugenden des Geistes und des Herzens »unparalleled in any human being he had known or read of« (Waentig 1924: XI). Die Grundgedanken des Essays über die Freiheit habe Harriet entwickelt – so die devote Widmung der Schrift. Hinzuzunehmen ist Mills berühmte Streitschrift zur Emanzipation der Frau (Mill 2012). Trotz aller Differenzen in den Konzepten des Positivismus liegen Mills »Seelenfreundin« Harriet Taylor und die »angelique influence« Clothildes auf Comte nah beieinander.

Ihre gemeinsame Quelle ist die Saint-Simonistische Schule. Beiden galt die Befreiung der Frau und die Emanzipation des Fleisches als eine »cause sainte«. Die bisexuelle Gottesvorstellung von »Mapah« (Gott als Vater und Mutter) und die androgyne Anthropologie von »Evadam« ließen sich in der Gruppe dann doch nicht konfliktfrei in moralische Maximen umsetzen (Salomon-Delatour 1962). Man stritt sich, ob zwischen »unveränderlichen« Charakteren, für [37]die die Ehe gut ist, und den »veränderlichen«, für die eine promiskuitive Lebensweise angemessen ist, unterschieden werden soll, und einigte sich schließlich, es vorläufig bei der Ehe und der Möglichkeit der Scheidung zu belassen. Die endgültige Entscheidung wird der erwarteten »Femme-messie« zugewiesen.

Der ebenfalls zu Schule Saint-Simons gehörende Olinde Rodriguez erklärt: »Ich erwarte zuversichtlich die Offenbarung der ersten Frau, die an der Spitze der Lehre stehen wird; der befreiten, der freien Frau, der Priesterin für die Zukunft steht es zu, das Gesetz des Anstands, den Kodex der Züchtigkeit zu offenbaren.« (Kool/Krause: 161) Die Saint-Simonisten unternehmen auf der Suche nach der »Femme-messie« eine Orientreise nach Ägypten zu den Wirkstätten der sagenhaften Königin von Saba. Diese Pilgerfahrt war zugleich eine wissenschaftliche Expedition, auf der die Bekämpfung von Seuchen erforscht wurde und Barthélemy Prosper Enfantin den Plan des Suez-Kanals entwarf, den der spätere Konsul Ferdinand de Lesseps realisierte. Die Erfahrungen, die die Krankenschwester Suzanne Voilquin bei ihrem Versuch, muslimische Frauen zur Wissenschaftsreligion zu bekehren, gemacht hat, könnten heute wieder auf Interesse stoßen (Voilquin 1978).

Es sind aber nicht nur Männer, die für die Verbesserung der Lage der Frauen kämpfen. Mary Wollstonecraft war nicht nur die Mutter von Mary Shelley, der Autorin des Klassikers der Weltliteratur Frankenstein oder Der moderne Prometheus und nicht nur die Gattin an der Seite von William Godwin, der in jeder Geschichte des Anarchismus einen herausragenden Platz einnimmt, sie publizierte 1790 A Vindication of the Rights of Men, in dem sie gegen Edmund Burkes Kritik an der Französischen Revolution Stellung bezog. Zwei Jahre später erschien A Vindication of the Rights of Woman, in der sie rhetorisch kraftvoll argumentierend aufzeigt, wie schlecht vorbereitet und in Illusionen befangen Frauen ins Leben gehen und wie wichtig es ist, dass sie zu unabhängigen Selbstdenkerinnen werden, deren Wert nicht in der äußeren Erscheinung begründet ist (Wollstonecraft 2009). Es dauerte, bis der Kampf der »Blaustrümpfe« für die Gleichberechtigung von Mann und Frau, der Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte, einige Erfolge aufweisen konnte.

Harriet Martineau redigierte Texte von Auguste Comte so, dass sie lesbar wurden (Hoecker-Drysdale 1998). Ihr eigenes Interesse richtete sie jedoch mehr darauf, wie der Positivismus methodisch gewendet werden konnte. How to Observe Morals and Manners, 1834 auf der Überfahrt nach Nordamerika geschrieben und 1838 publiziert, ist die erste Schrift überhaupt zur soziologischen Methodologie und Methode (Martineau 1989). Die große Studie Society in America ist nach ihrem Regelbuch erarbeitet. Untersuchungsbereiche sind kollektive Werte, Institutionen und der Alltag in den USA (Martineau 2009).

Die saint-simonistische Verbindung der Frauen- und der Arbeiteremanzipation hat Jenny Poinsard d’Héricourt (1809–1875) ernst genommen (Arni/Honegger 1998). Dies bringt sie in eine Frontstellung gegen Comte und seine Art, der Frau in der Theorie eine erhöhte Sonderstellung zuzuweisen und sie zugleich als Priesterinnen für den häuslichen Wissenschaftskult aus der Öffentlichkeit zu entfernen. In ihrem gesellschaftskritischen Hauptwerk von 1860 La femme affranchie zeigt sie, dass Frauen längst schon im Gefüge der modernen Industriegesellschaft einen Platz haben, aber keine entsprechenden Rechte (Héricourt 1860). Streitpunkt wird auch das Verhältnis von Biologie und Soziologie. In Comtes Hierarchie der Wissenschaften von der Astronomie bis zur Soziologie und später Psychologie bildet die Biologie die Grundlage, auf der sich aufsteigend die Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft entfaltet, weil der Unterschied von Mann und Frau als erstes soziales Verhältnis definiert wird.

D’Héricourt, selbst als Hebamme und Ärztin tätig, greift mit Scharfsinn die dogmatischen epistemologischen Vorraussetzungen der Klassifikation der Geschlechter an, insbesondere auch gegen Pierre-Joseph Proudhon, dessen egalitäre Ideen sich nur auf Männer bezogen. Die Argumente, [38]die d’Héricourt gegen Geschlechterklassifikationen ins Feld führt, dürften auch noch übermorgen aktuell sein: »Wir formulieren keine Klassifikation, weil wir keine haben und weil wir keine haben können; es sind keine Grundlagen dazu vorhanden. Eine biologische Induktion erlaubt es uns zwar, die Existenz einer Geschlechterklassifikation anzunehmen. Es ist jedoch gegenwärtig unmöglich, daraus ein Gesetz abzuleiten. Was Weiblichkeit wirklich ist, könnte erst nach einem oder zwei Jahrhunderten gleichartiger Erziehung und rechtlicher Gleichheit erkannt werden.« (Arni/Honegger 1998: 80)

Der Sozialismus: Zum Pathos des wissenschaftlichen Fortschritts, zum Kampf für die Rechte der Frau gesellten sich die Ideen der vielgestaltigen sozialistischen Bewegungen für eine bessere Gesellschaft. Noch beim Soziologentag 1928 in Zürich musste der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie erklären, dass Soziologie und Sozialismus nicht dasselbe seien. Die sprachliche Nähe war und ist verfänglich und wird die Soziologie wohl auch in Zukunft im Guten wie im Bösen mit allen historischen und aktuellen Bestrebungen verbinden, die unter den Überschriften Kommunismus, Sozialismus, Anarchismus eine bessere Gesellschaft als die bestehende wollen.

Die bessere Gesellschaft erscheint bei manchen Autoren in der Erfahrung der fraglich gewordenen Gegenwartsgesellschaft als eine notwendige Konsequenz der geschichtlichen Entwicklung überhaupt. Andere Autoren wollen nicht länger auf die Idealgesellschaft warten. Sie schlagen vor, einfach mit der neuen Ordnung in kleinem Maßstab lokal anzufangen, nach der Devise: »Werden wir aus Staatsbürgern der alten Ordnung zu Genossen einer Neuen Gemeinschaft! Gründen wir Genossenschaften, Landkommunen, Gemeinschaftsprojekte, in denen es gerecht zugeht.« Im 19. Jahrhundert blüht der Genossenschaftssozialismus in seinen vielfältigsten Formen. Wieder andere wollen sich damit nicht bescheiden, sie fordern den revolutionären Sturz der alten Ordnung und den revolutionären Aufbau einer neuen. Im 19. Jahrhundert steigt die Konjunktur eines revolutionär-eliminatorischen Sozialismus. – Schließlich, vor dieser Alternative zurückschreckend, konzentrieren sich andere auf eine rein defensive Position. Im Gewerkschaftssozialismus entstehen Vereine und Verbände, in denen sich die von den gesellschaftlichen Umbrüchen betroffenen Handwerker und Arbeiter zusammenschließen, um ihre Interessen zu verteidigen. Zwischen diesen vier Möglichkeiten changiert die Diskussion im 19. Jahrhundert und weit darüber hinaus, vielleicht sogar in die Gegenwart hinein, in Nischen, in denen sich die Sehnsucht nach einer besseren Gesellschaft erhält.

Die Soziologie hat auch einen beachtlichen Teil des Erbes dieser Art, für eine neue Gesellschaft einzutreten, aufgenommen. Am wenigsten von der revolutionär-eliminatorischen Seite, obwohl an die Schriften von Georges Sorel zu erinnern ist, in denen Zusammenhänge von Mythos und Gewalt in revolutionären Bewegungen durchdacht wurden, bevor sie im 20. Jahrhundert eine blutige Spur hinterlassen haben (Sorel 1981).

Wichtiger wurde die genossenschaftliche Seite. Wer lernen möchte, wie attraktiv solidarische Lebensformen sein können, tut gut daran, die Schriften von Charles Fourier (1772–1837) in die Hand zu nehmen (Fourier 2006). Man findet dort Vorschläge für eine neue Gesellschaft, in der zu leben als eine wahre Wonne erscheint. Von Fourier kann man nicht groß genug denken, denn er hat Lösungen für zwei Dauerprobleme menschlicher Gesellschaften gefunden, für die Frustration und die Repression. Die fantastische Kühnheit seiner Vorschläge ist bis heute unübertroffen, insbesondere wenn es um die Frage »Wer macht mit wem was wie lange leidenschaftlich gern zusammen« geht. Man könnte darin die Hauptfrage aller Gesellschaftswissenschaft sehen.

Die gewerkschaftliche Seite kämpft um die Erforschung und Förderung der Kräfte, die für eine grundlegende Änderung der Gesellschaft eintreten oder die gegenüber negativen Entwicklungen [39]ein Gegengewicht bilden wollen. Im 19. Jahrhundert war dies die Arbeiterbewegung, das Proletariat. Die Trias von Soziologie, sozialer Frage und Sozialismus war bis weit in den Anfang dieses Jahrhunderts hinein eine spontane Assoziation, der sich niemand entziehen konnte. Heute ist es nicht mehr so einfach, Bewegungen zu identifizieren und zu gewichten. In unserer Gegenwartsgesellschaft gibt es viele Bewegungen, bei denen nicht ohne Weiteres erkennbar ist, was sie sind: Single-purpose movements, so etwas wie neue soziale Bewegungen oder vielleicht gar keine Bewegungen, sondern seltsame Oberflächenspiele, deren Sinn noch nicht geklärt ist.

Weltgeschichtlich wirksam wurde die Gesellschaftstheorie, die Karl Marx (1818–1883) entwickelt hat. Sein Grundgedanke, dass aus den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft freie, solidarische und menschenwürdige Formen menschlichen Zusammenlebens hervorgehren könnten, hat viele Intellektuelle und Politiker in ihren Bann gezogen. Es waren drei sehr verschiedene Themen, die Marx gebündelt hat: Erstens geht es ihm um eine Philosophie der Freiheit. Hegel hatte formuliert, dass Geschichte Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit ist. Marx verbindet dies mit dem Terminus Emanzipation. Sie geschieht freilich nicht gleichsam geschichtsautomatisch, sondern muss von den Unterdrückten erkämpft werden. Dazu kommt zweitens eine Theorie des Klassenkampfs, die Marx der französischen Geschichtsschreibung entnommen hat. Die Historiker Augustin Thierry (ebenfalls einer der Sekretäre von Saint-Simon) und François Guizot sahen im Kampf zwischen Adel und Bürgertum den entscheidenden Motor für den Fortschritt der Gesellschaft. Ihnen galt der Klassenkampf als ein fruchtbares Entwicklungsprinzip der europäischen Zivilisation. Schließlich formulierte Marx drittens eine Kritik der Volkwirtschaftslehren, der Nationalökonomie, der political economy. Der Kernpunkt der Kritik lautete: »Die Arbeit kömmt nur unter der Gestalt der Erwerbstätigkeit in der Nationalökonomie vor.« Die politische Ökonomie muss kritisiert werden, weil sie eine falsche Auffassung von Arbeit hat und dazu muss man sich »über das Niveau der Nationalökonomie erheben« (Marx 1973:477).

Es sind dies drei Themen, die in der damaligen Zeit und lange danach, vielleicht sogar bis heute, voneinander getrennt diskutiert wurden: Was ist Freiheit? Warum Gewalt und Krieg in der Geschichte? Woher kommt Reichtum und Armut der Gesellschaften? Marx’ Intuition war es, diese drei Themen als drei Momente eines Zusammenhangs zusammenzuhalten und sie in den breiten Strom dessen, was man seit 1789 in Europa »Revolution« nannte, einzuspeisen.

Die Verhältnisse zwischen Soziologie und Marxismus sind spannungsreich. Denn Marx war ebenso ein Anti-Soziologe, wie sich die Soziologie als Anti-Marxismus verstanden hat. Verständlich wird diese Spannungslage, wenn man weiß, dass Marx zwei deutsche Anti-Affekte in sein Denken eingelassen hat, die sich gegen die geistigen Traditionen sowohl der Angelsachsen und wie auch der Franzosen richteten, von denen er aber gleichzeitig ungeheuer profitiert hat. Marx hasste einerseits den Bourgeois, jene Gestalt, der er einen französischen Namen gab, hinter der sich jedoch der englische Kapitalist verbarg, der self-made man, berechnend, hartherzig, erfolgreich. Andererseits hasste er die Halbherzigkeit der »nur« politischen Revolution, die die Franzosen 1789 durchgeführt hatten. Marx träumte von einem Deutschland, das besser als alle anderen mit der Zukunft fertig werden würde, darum geißelte er die eklatante Rückständigkeit seiner Landsleute und goss Hohn und Spott über ihre Faulheit und Feigheit, ihre dumme Gutgläubigkeit, ihre gemütliche Provinzialität, ihre unausstehliche Prahlsucht und ihre geistige Verstiegenheit. In Deutschland gab es daher immer auch genügend Gründe für einen Antimarxismus.

Die politischen Ökonomen in der Tradition von Adam Smith hielten daran fest, dass es moralisch besser sei, wenn die Menschen die Dinge, die sie zum Leben brauchen, miteinander [40]austauschen, indem sie nicht für ihre Autarkie, sondern für andere tätig werden und ihre Arbeitskraft auf dem Markt verkaufen. Denn die Lust zu kaufen und zu verkaufen, verbände die Menschen viel stetiger und sicherer miteinander als Affekte anderer Art. Für den ordnungsliebenden Marx war es ein unerträglicher Gedanke, dass die so völlig verschiedenen Substanzen der Welt, wie Tulpen, Tapeten, Tonkrüge und Tauben, und Eigenschaften der Individuen, wie Muskelkraft, Sangeskunst, Liebesfähigkeit und Zerstörungslust beliebig, chaotisch füreinander zur Ware werden.

Zum Antikapitalismus hinzu kommt bei Marx die Kritik an der »Nur«-Politik französischer Art, die auf der Spaltung zwischen Bürger und Mensch (Öffentlichkeit und Privatheit) basierte. Dass so lebenswichtige Themen wie Glück, Besitz, Liebe und Religion dem politischen Zugriff grundsätzlich entzogen sein sollten, d. h. als Privatsache galten, war für Marx besonders dort unerträglich, wo von der Privatsache, etwa dem Privatbesitz von Produktionsmitteln, Wohl und Wehe ganzer Landstriche abhing. So sollte Marx zufolge der Stolz der revolutionären Franzosen, die demokratische Republik, in der geschichtlichen Entwicklung durch einen Verein freier Menschen überboten werden, der ganz vaterlandslos und mit absterbenden Staaten die Welt umspannen sollte, wie ein einziges Friedensreich.

Mit seiner gegen die politische Ökonomie der Angelsachsen gerichteten Kapitalismuskritik und seiner gegen die politische Philosophie der Franzosen gerichteten Staatskritik ist Marx in Deutschland ein solch geistiger Riese gewesen, dass die sich bildende Soziologie um 1900 alle Hände voll zu tun hatte, etwas dagegenzusetzen.

5.Literarische Selbstdarstellung der Gesellschaft

Besonders in den wachsenden Städten wird die moderne Gesellschaft als ein unheimliches Phänomen entdeckt. Durch die Alphabetisierung der städtischen Bevölkerung entsteht zugleich ein größeres Lesepublikum und der Bedarf an Lektüren wächst, aus denen zu erfahren ist, in welcher Gesellschaft man lebt (Lepenies 1985). Eindrucksvoller als die Traktate der Gesellschaftslehren oder die statistischen Abhandlungen sind die lebendigen Darstellungen gesellschaftlichen Lebens, die in Erzählungen und Romanen auf den Markt kommen. Stilbildend für diese Literatur sind die Werke von Honoré de Balzac (1799–1850). Der literarische Durchbruch gelingt ihm in der sogenannten Julimonarchie (1830–1848), einer Periode, in der Frankreich einen rasanten Prozess wirtschaftlichen Wachstums erfährt. In seinen Romanen und Novellen schildert Balzac, wie sich Menschen und ihre Beziehungen in der entfesselten Marktgesellschaft verändern. Arnold Hauser hat bemerkt, »daß Balzac in seinen Werken viel mehr das Bild der nächsten Generation zeichnet, als das seiner eigenen, und daß seine ›nouveaux riches‹ und Parvenus, seine Spekulanten und Glücksritter, seine Künstler und Kokotten für das zweite Kaiserreich charakteristischer sind als für die Julimonarchie. Hier scheint tatsächlich das Leben die Kunst nachgeahmt zu haben« (Hauser 1973: 811). Im Vorwort zur Comédie humaine beruft sich Balzac auf Buffons Histoire naturelle und zeigt seine Absicht an, die französische Gesellschaft so systematisch zu analysieren, wie es Buffon mit dem Tierreich gemacht hatte. Für den ersten Teil der Comédie humaine sieht er den Titel Études sociales vor.

Im 19. Jahrhundert blüht die sozialkritische Schriftstellerei eines Charles Dickens, der in Oliver Twist (1837) seinen kleinen Helden das ganze Elend von Armut, Kinderarbeit und Kriminalität erleben lässt. Außerdem beschreibt Edmond de Goncourt in Germinie Lacerteux (1865) das wechselvolle Schicksal des Dienstmädchens Germinie. Gustav Freytag erzählt in dem Bestseller Soll und Haben (1855) von Adligen, die in Verkennung der neuen Welt durch Verschwendung ins [41]Elend geraten, von geldgierigen Juden und braven deutschen Bürgern – ein Roman, der geeignet war, antisemitische Stereotype zu verstärken. In Adalbert Stifters Der Nachsommer (1857) werden die Beschäftigung mit alter Kunst und die Naturbetrachtung zu Gegenwelten, in denen sich ein Lebensstil jenseits blanker kapitalistischer Gesinnung ein Stück weit erhalten kann. Die Welt der Reichen in England und den USA, die Henry James in Bildnis einer Dame (1881) schildert, ist nur oberflächlich beneidenswert. Hinter der Fassade herrschen Neid, Intrige und ein Leiden an den moralischen Verhältnissen. Das Leiden der Unterschichten hat Émile Zola in Germinal (1885) am Beispiel der Lage der Bergarbeiter, der Bergwerksunfälle, der Not in Streiks und der politischen Auseinandersetzungen dargestellt. Die Zerrissenheit der sozialen Beziehungen kommt nicht zuletzt in den Romanen über Ehe und Ehebruch verbunden mit wirtschaftlichen und moralischen Krisen zum Ausdruck, so beispielsweise in Gustave Flauberts im Untertitel Ein Sittenbild aus der Provinz genannten Roman Madame Bovary (1857), in Lew Tolstois Anna Karenina (1877/78) oder Theodor Fontanes Effi Briest oder L’Adultera.

Es waren Schriftsteller, die die wachsenden Großstädte des 19. Jahrhundert in Europa mit dem Dschungel verglichen – ein Dschungel, der zu ganz außerordentlichen Beobachtungen und Reflexionen Anlass bot. In der Stadt gibt es eine ganz eigenartige Mischung von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Geheimnisvollem und Oberflächlichem. Zu den populären Literaturen, die über die große Stadt geschrieben wurden, gehören die Detektivgeschichte und der Kriminalroman (Kracauer 1971). Der Detektiv ist die Verkörperung der umherwandelnden Ratio in der Stadt, der dank seiner Beobachtungsgabe und seiner intellektuellen Kräfte in der Lage ist, Verbrechen aufzuklären. Er informiert über Sensationen. Dazu muss der Detektiv Strategien der Orientierung ausbilden, die den Städten gerecht werden, diesen Haufen von Artefakten, diesen Ansammlungen konkurrierender Weltbilder und der Massierung von Fremden. Die Orientierungen des Detektivs sind andere als die desjenigen, der eine stabile Sozialordnung anstrebt, und auch desjenigen, der eine bessere Gesellschaft möchte. In der großen Stadt entspringt aus den gesellschaftskritischen Romanen und literarischen Fantasien der Detektivliteratur eine neue soziologische Perspektive, nämlich die Zeitungsreportage, die die Bewohner einer Stadt darüber informiert, was in ihrer Stadt passiert. Denn die Großstadt ist der Ort, der fortwährend Neuigkeiten generiert. Presse und Großstadt gehören zusammen (Lindner 2007).

Zu den frühen Formen des Journalismus zählt die Berichterstattung über Verbrechen, die sich in der Stadt ereignen. Reporter lungern vor den Polizeibüros herum, um Neues zu erfahren, oder sie nehmen an Gerichtssitzungen teil. Sie wagen sich in Stadtteile, die verrufen sind, und schreiben über sie. Sie kontrastieren die reichen und die armen Viertel. Zwischen den Gesinnungsblättchen der Linken und der monatlichen Einbruchsstatistik der Polizei informieren Reporterinnen und Reporter über eine Unmenge von News. Dazu bedienen sie sich spezieller Techniken, der Recherche, die in die Praxis der Soziologie eingehen werden. Sie fragen Leute aus, d. h. sie machen Interviews, und sie nehmen verdeckt an Sitzungen sonst geschlossener Gesellschaften teil, sie enthüllen Skandale und Schiebereien. Historisch gesehen ist gerade der amerikanische Journalismus Ende des 19. Jahrhunderts das große Laboratorium der Methoden der empirischen Sozialforschung: Interview, teilnehmende Beobachtung, Experiment. Für diese Entwicklung steht der Name Robert Ezra Park: Er ist zuerst Reporter und zeitweise Presseagent des farbigen Bürgerrechtlers Booker Washington, dann erhält er 1914 mit 50 Jahren eine kleine Stelle bei den Soziologen an der Universität in Chicago. Dort gerät er in Kontakt mit Ethnologen, aber er sagt sich, »why go to the North Pole or climb Everest for adventure when we have Chicago«, und wird Begründer der berühmtem Chicago School of Sociology, deren Produktionen bis heute Vorbilder für soziologische Fallstudien sind (Makropulos 1988).

[42]6.Glanz und Elend disziplinärer Spezialisierung

Die universitäre Etablierung der Soziologie um 1900 fällt in eine Zeit, die durch zwei dramatische Prozesse gekennzeichnet ist: zum einen durch ein enormes Mengenwachstum wissenschaftlicher Publikationen, dem nur mit einer universitären Aufsplitterung von Disziplinen, Teildisziplinen und Unterdisziplinen beizukommen ist; zum anderen durch die Grundlagenkrise eines Wissenschaftsverständnisses, das sich am Ideal objektiver Erkenntnis der Wirklichkeit orientiert. Spezialisierung und Grundlagenkrise verstärken sich dabei gegenseitig. Die Psychologie trennt sich von der Philosophie, die Geografie von der Geschichtswissenschaft, die Religionswissenschaften von der Theologie. Aus Wissenstraditionen der Sprachwissenschaft, der Rassenkunde, der Altertumswissenschaften und der Archäologie entsteht die neue Disziplin der Völkerkunde, aus Geschichtsphilosophie und Nationalökonomie die Soziologie. Mathematik, Physik, Chemie, Biologie lösen ihre Verbindung mit der allgemeinen Philosophie und legen sich eigene Philosophien zu, die sie Theorie nennen, etwa »theoretische Mathematik«, »theoretische Physik« usw. Einige Philosophen wollen die Philosophie als das für die Prüfung von Wahrheit lange Zeit maßgebliche Fach nur noch als »Wissenschaftstheorie« betreiben, aber nicht alle Disziplinen wollen sich von diesen Theoretikern in ihre eigenen Fachtheorien reinreden lassen. Die arbeitsteilige Industrialisierung hatte die Universitäten erfasst und konnte genauso wenig Zusammenhalt und sinnhafte Kohärenz bieten wie die kapitalistische Gesellschaft. Und so ist es im Kern bis heute geblieben.

Zweifellos ist der Wissenszuwachs in diesem System vorteilhaft für diejenigen, die ganz spezielle Informationen suchen und auch benötigen. Die Soziologie als ein spätes Fach an Universitäten ist mit der Spezialisierung von Bindestrich-Soziologien in diesen Prozess eingebunden. Die Erinnerung an die Soziologie vor der Soziologie kann da helfen, im noch undisziplinierten großen Garten des Denkens der Gesellschaft die bleibenden Aufgaben der Soziologie festzuhalten: stabile Sozialordnung, bessere Verhältnisse, Anteilnahme an unserer Lebenswelt.

Literatur

Anonym (1834): Der Zeitgeist oder das Geld. Eine vorgelesene Rede von G., Dortmund.

Arni, Caroline/Honegger, Claudia (1998): Jenny P. d’Héricourt (1809–1875). Weibliche Modernität und die Prinzipien von 1789. In: Honegger, Claudia/Wobbe, Theresa (Hg.): Frauen in der Soziologie. Neun Portaits. München, 60–98

Baudelaire, Charles (1983): Die Weltausstellung 1855. In: Baudelaire, Charles: Sämtliche Werke/Briefe. Bd. 2. Darmstadt, 225–259, hier 234.

Bauer, Edgar (1842): Bruno Bauer und seine Gegner, Berlin.

Bloor, David (1991): Knowledge and Social Imagery, Chicago.

Bodin, John (1591): De republica libri sex, Frankfurt/M.

Comte, Auguste (1994): Rede über den Geist des Positivismus, Hamburg.

Comte, Auguste (2004): System der positiven Politik. Erster Halbband von vier Bänden, enthaltend die Widmung und den vorläufigen Diskurs, Wien.

Condorcet, Marie Jean Antoine Marquis de (2010): Freiheit, Revolution, Verfassung. Kleine politische Schriften, Berlin.

Croce, Benedetto (1927): Die Philosophie Giambattista Vicos, Tübingen.

Engels, Friedrich (1975): Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen. In: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke. Bd. 21. Berlin, 25–173.

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Handbuch der Soziologie

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